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Aus: Ausgabe vom 10.10.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Im Dschungel des Lebens

Henry James als Zukunftsvision: Bertrand Bonellos verstiegener Science-Fiction-Film »The Beast«
Von Holger Römers
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Léa Seydoux in der finsteren Nekropolis

»The Beast« hat dem Production Design (und der digitalen Postproduktion) sichtlich einiges abverlangt, denn der verschachtelte Plot des Films kombiniert drei Ebenen, deren Handlungszeiten 134 Jahre trennen. Kostümbild und Ausstattung evozieren ausschnitthaft Paris um 1910 sowie eine unbestimmte Großstadt im Jahr 2044, während eine 2014 in Los Angeles angesiedelte Episode im kühlen Luxus einer spätmodernistischen Villa schwelgt. Trotzdem besteht der eindrücklichste Moment dieses knapp zweieinhalbstündigen Films in der Großaufnahme eines stummen, leeren Blicks: Mit zehn Sekunden langem Starren beantwortet die Pianistin Gabrielle die Frage, welcher Gesichtsausdruck das Modell für die in der familieneigenen Manufaktur gefertigten Puppen abgebe.

Dass Léa Seydoux die verstörend neutrale Miene wie aus dem Stegreif aufsetzt, ist Ausweis hoher Schauspielkunst – zumal, wenn man dem Regisseur Bertrand Bonello glaubt, dass dieses Close-up zuallererst auf dem Drehplan seines zehnten Spielfilms gestanden und nur eines einzigen Takes bedurft habe. Vor allem aber hat dieses unergründlich-oberflächliche Bild die Wirkung, jeden sonstigen Gefühlsausdruck in diesem um Emotionen und deren Verdrängung und Vergessen kreisenden Film gleichsam in distanzierende Anführungsstriche zu setzen. Ebenso in Frage gestellt scheint freilich die Außenwelt, die in »The ­Beast« drei Versionen einer von Seydoux verkörperten Frau namens Gabrielle sowie drei Versionen eines von George MacKay verkörperten Mannes namens Louis umgibt.

2014 versucht die Protagonistin, als Schauspielerin in Hollywood Fuß zu fassen, während sie für 1.000 Dollar plus Logis besagte Villa in Abwesenheit des Besitzers hütet. Insofern nimmt die allererste Szene des Films eine Erfüllung von Gabrielles Karrierewunsch vorweg, denn sie zeigt die Frau bei Dreharbeiten zu einem Horrorfilm. Dabei agiert sie, während aus dem Off Regieanweisungen erklingen, vor einem Greenscreen, also einem neutralen Hintergrund, der digitaler Postproduktion das Einfügen beliebiger Kulissen und Requisiten erlaubt. Das sät wiederum Zweifel am Realitätsgehalt jedes weiteren Bildes von »The Beast«, und diese Zweifel bestätigen sich spätestens dann, wenn der dramatische Höhepunkt jenen Anfang variiert – wobei der Bildfluss einfriert und vor- und zurückgespult wird.

Abgesehen von wiederkehrenden Namen und Gesichtern sowie symbolträchtigen Motiven wie den Puppen ergibt sich die Verbindung der Handlungsebenen vor allem aus dem 2044 angesiedelten Geschehen: In der ebenso sterilen wie dumpfen Zukunftswelt hat künstliche Intelligenz die Menschen mehrheitlich arbeitslos gemacht oder zur todlangweiligen Beaufsichtigung von Computern verdammt. Vermeintlich interessante Beschäftigungen setzen hingegen eine Operation voraus, die von allen Gefühlen »reinigt«, aber im Ausnahmefall traumatische Erinnerungen an frühere Existenzen und Romanzen wachruft.

Das impliziert eine Seelenwanderung, die mit anhaltenden Seelenverwandtschaften einhergeht. Doch metaphysische Schlussfolgerungen überlässt die abstrakte Inszenierung ebenso unserer Phantasie wie das Knüpfen thematischer Zusammenhänge, die sich aus der frühesten Episode beziehungsweise aus deren literarischer Quelle ergeben mögen. Henry James’ Novelle »Das Tier im Dschungel«, die unlängst auch dem gleichnamigen Film von Patric Chiha zugrundelag, diente jedenfalls Bonellos Drehbuch als Inspiration dafür, dass Gabrielle und Louis sich Jahre nach dem flüchtigen Kennenlernen bei einer großbürgerlichen Abendgesellschaft begegnen. Die von der Vorlage übernommene Ausgangskonstellation siedelt der 56jährige französische Filmemacher indes vor dem Hintergrund der realen Pariser Überschwemmung von 1910 an, die auch auf eingeschobenen Dokumentarfotos abgebildet ist.

Der konkrete historische Gehalt dieser Fotos lässt Assoziationen an den Klimawandel ebenso reizvoll ins Leere laufen, wie der romantische Science-Fiction-Topos von einer drohenden Gefühlsverarmung sich etwaiger Munitionierung für eine Kritik des KI-Hypes verweigert. Um so verblüffender ist deshalb, wie unumwunden Bonello auf einen anderen aktuellen Konfliktstoff Bezug nimmt: Die männliche Hauptfigur der mittleren Zeitebene ist nämlich – inklusive nachgestellter Social-Media-Videos – Elliot Rodger nachempfunden, der zur Galionsfigur sogenannter Incels wurde, weil sich bei ihm die Unfreiwilligkeit der sexuellen Enthaltsamkeit, die diese Subkultur des Irrsinns definiert, nicht nur mit Frauenhass verband. Sein Irrsinn führte schließlich zu einem Amoklauf mit sieben Toten (der Täter inklusive). Wenn der Filmemacher uns nahelegt, ausgerechnet in diesem psychisch kranken Studenten die von Henry James beschriebene tragische Unfähigkeit zur Liebe gespiegelt zu sehen, ist das denkbar heikel und naiv. Doch in diesem eigensinnig verstiegenen Film kann die schwärmerische, die Liebe bejahende Pointe zumindest aufs Kinopublikum entwaffnend wirken.

»The Beast«, Regie: Bertrand Bonello, Frankreich/Kanada 2023, 146 Min., Kinostart: heute

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