Autokrat im Amt bestätigt
Von Werner RufDer tunesische Präsident Kaïs Saïed ist laut Wahlbehörde mit 90,7 Prozent der Stimmen für eine zweite Amtsperiode wiedergewählt worden. Das Ergebnis wurde am Montag abend bekanntgegeben und kann nun als endgültig gelten, da es innerhalb der vorgesehenen Frist bis Mittwoch nicht angefochten wurde. Die Hürden für die Zulassung zur Kandidatur waren enorm hoch gesetzt, und nur drei der insgesamt 14 Bewerber konnten sie überwinden. Der eine, Ayachi Zammel, erhielt am Ende 7,35 Prozent. Er saß bereits im Knast und war wegen des Vorwurfs der Fälschung von Unterstützerunterschriften zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Der andere, Zouhair Maghzaoui, errang gerade einmal 1,9 Prozent. Drei weitere Kandidaturen, die vom Verwaltungsgericht noch zugelassen worden waren, wurden durch ein schleunig beschlossenes Gesetz wieder ungültig gemacht, die Wahlprüfungskompetenz des Verwaltungsgerichts rückwirkend annulliert. Mehrere aussichtsreichere Kandidaten waren schon früher verhaftet worden.
Aussagekräftiger als diese Ergebnisse ist die Wahlbeteiligung, die bei 28,8 Prozent lag, die niedrigste bei einer Präsidentenwahl seit dem Ende der Diktatur 2011. Der große Sieger Saïed erhielt 300.000 Stimmen weniger als bei seiner ersten Wahl im Jahr 2019, als die Beteiligung noch bei 58 Prozent lag. Katastrophal war sie bei den jüngeren Wählern: Nur sechs Prozent der 18- bis 35jährigen gingen zu den Urnen. Kein Wunder in einem Land, in dem die Hälfte der Menschen mit Hochschulabschluss arbeitslos ist und in dem viele Tausende in den letzten zwei Jahren durch die Flucht auf das italienische Inselchen Lampedusa eine Perspektive für ihr Leben zu erhalten versuchten. Das Ausbluten des Landes wird weitergehen, wenn ganze Sektoren der Dienstleistung, wie insbesondere der medizinische Bereich, aber auch die Zahl der Ingenieure und Techniker durch die Abwerbung von Fachkräften – vor allem von Deutschland – ausgedünnt werden. Andererseits nutzt die EU die finanzielle Misere Tunesiens dazu, das Land durch Budgetzuschüsse und die »Modernisierung« der Küstenwache zum Bollwerk gegen die Migration aus dem Raum südlich der Sahara zu machen.
Noch gibt es allerdings ein gesellschaftliches Gegengewicht, auch wenn der Präsident den zahlreichen tunesischen Vereinigungen vorwirft, sie würden vom Ausland finanziert und verträten deshalb antinationale Interessen. In einer Demonstration zwei Tage vor der Abstimmung am Sonntag protestierten zahlreiche NGOs gegen die Wahl, die sie eine »Maskerade« nannten. Bassem Trifi, Vorsitzender der tunesischen Liga für Menschenrechte, erklärte: »Wir sind auf die Straße gegangen, um die Verachtung der Freiheiten, der Demokratie, der Errungenschaften der Revolution anzuklagen, insbesondere der Meinungsfreiheit und der Arbeit der Vereinigungen.« Die Demonstranten riefen zum Boykott der Wahlen auf und kritisierten vor allem das Gesetz 54, das die »Verbreitung unwahrer Nachrichten« unter Strafe stellt. Die etwa 800 Demonstranten wurden begleitet von einer Vielzahl von für die Aufstandsbekämpfung ausgebildeten Polizisten und Wasserwerfern.
All dies zeigt, dass das einst breit gestreute Engagement gelitten hat. Groß ist die Angst vor der Repression, geschrumpft ist auch die Zahl der Aktivisten. Die steigenden Preise, die wachsende Arbeitslosigkeit und der allgemeine wirtschaftliche Niedergang erodieren auch die Mittelschicht als Träger der Politisierung. Hinzu kommt die offensichtliche Angst vieler Bürger, dass spätestens nach der erfolgten Wahl das Regime Rache nehmen könnte, die vom Berufsverbot bis zur Inhaftierung reicht. Tatsächlich wurden nach Ende der Demonstration mehrere Personen festgenommen.
Programmatisch erklärte der alt-neue Präsident, dass er die »Revolution von 2011« fortsetzen werde, um ein Land aufzubauen, das »gereinigt ist von den Korrupten und den Verschwörern«. Wer darunter zu verstehen ist, dürfte sich bald zeigen. Die in unseren Medien tränenreich beklagte »Wende zum Autoritarismus« sichert immerhin den Schutz der »Festung Europa« vor Flüchtlingen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (11. Oktober 2024 um 10:33 Uhr)»Autokrat im Amt bestätigt« heißt es in der Überschrift. Das macht den Leser stutzig und er klickt auf den verlinkten Artikel von Werner Ruf vom 30. September 2024. Dort steht zu lesen: »Seit gut zwei Jahren verhindert Saïed ein Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), das die Gewährung neuer Kredite von den üblichen Strukturanpassungen abhängig macht, wie der Beendigung der Subventionen für Grundnahrungsmittel und der Privatisierung staatlicher Betriebe. Denn in diesem Fall fürchtet er, dass sich die Hungerunruhen der 80er Jahre wiederholen könnten. So ist ihm die Präsidentschaft für weitere fünf Jahre sicher«. Ein Staatspräsident, der sich weigert, Subventionen für Grundnahrungsmittel aufzuheben und die staatlichen Betriebe nach den Vorgaben des IWF zu privatisieren, betreibt also auf hinterhältige Art und Weise seine Wiederwahl. So kann man den Schutz der Bevölkerung vor den berüchtigten »Strukturbereinigungs«-Programmen des IWF auch kommentieren. Eine Frage drängt sich auf: Wenn Saïed wirklich der schlimme Autokrat ist, wie in den Medien dargestellt, warum hat er dann seine Wahlbehörde nicht im Griff, die eine relativ niedrige Wahlbeteiligung von 29 Prozent bekannt gab?
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