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Aus: Ausgabe vom 11.10.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Mensch muss man werden

Unerbittlich: Adrian Figueroa inszeniert Wolfgang Borcherts Stück »Draußen vor der Tür« am Düsseldorfer Schauspielhaus
Von André Weikard
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»Wo bin ich? Mein Gott, wo bin ich denn hier?« – Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür« in Düsseldorf

Eine der ältesten überlieferten Dichtungen der Menschheit handelt von einem Mann, der aus dem Krieg heimkehrt. Zurück in Ithaka muss er zwar mit einer Horde Schmarotzer fertigwerden, aber sein Palast steht noch, seine Frau ist ihm treu geblieben und Odysseus ein Held. Nichts davon gilt für den Kriegsheimkehrer Beckmann, wie Wolfgang Borchert ihn in »Draußen vor der Tür« beschreibt. Beckmanns Frau schlägt ihm die Tür zur eigenen Wohnung vor der Nase zu. Drinnen sitzt ein anderer Mann. Der gemeinsame Sohn ist nicht einmal ein Jahr alt geworden, ehe er von einer »brüllenden Bombe zerrissen« wurde. Auch an der Tür zum Elternhaus wird Beckmann abgewiesen. »Geboren können Sie hier ja meinetwegen sein, das ist mir egal, aber Ihre Wohnung ist das nicht«, sagt die neue Bewohnerin. Die Eltern haben sich »selbst entnazifiziert«, sprich: umgebracht.

Der Suizid scheint nun auch für Beckmann die einzig verbliebene Option zu sein. Nicht verführerischer Sirenengesang zieht ihn zum Wasser, sondern pure Verzweiflung. Ihn quälen Hunger, Kälte, Gewissen. Bevor es dazu kommt, interveniert Beckmanns Alter Ego, sein Lebensgeist, er selbst nennt sich »der Andere«. Auf sein Betreiben hin setzt Beckmann seine Odyssee durch das triste Nachkriegsdeutschland fort. Er sucht einen Oberst auf, bei dem er »die Verantwortung« für die zahllosen Kriegstoten zurückgeben will, versucht seine traurige Gestalt als Kabarettnummer zu Geld zu machen und bandelt sogar unfreiwillig mit einem Mädchen an. Alles ohne Erfolg. Eine unerbittliche Reihe von Zurückweisungen und Demütigungen.

Triste Nummer. Meinte auch Borchert selbst und gab seinem Drama den Untertitel: »Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will«. Am Düsseldorfer Schauspielhaus ist man anderer Meinung. Adrian Figueroa, der bereits zum vierten Mal dort inszeniert, hat »Draußen vor der Tür« in einer Zeit aufgerufen, in der selbst die einst pazifistischen Grünen ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für Rüstung verabschieden und sich Israelis und Palästinenser im Hass gegenseitig zerfleischen. Genug Ansatzpunkte, um den Stoff politisch aufzuladen. Die Figueroa allesamt ungenutzt lässt. Seine Inszenierung kennt keine Naziuniformen und Hakenkreuze, ist kein Kommentar zum Krieg in der Ukraine oder in Nahost, sondern zielt darüber hinaus.

Das kongeniale Duo Raphael Gehrmann (Beckmann) und Sonja Beißwenger (Der Andere) tritt in Khakihosen und Bürstenhaarschnitt auf. Er im Trenchcoat, sie im beige Shirt. Er lethargisch, fatalistisch. Sie nervös, verängstigt. Beide bewegen sich über eine weitgehend dunkle Bühne, nur einzelne Strahler leuchten von der Decke, als fiele das Licht durch Löcher im Dach. Dazwischen heben und senken sich gewaltige, schwarze Quader. Wer mag, kann darin das Individuum erkennen, das von großen Blöcken zerrieben wird. Das Gesicht Beckmanns wird immer wieder auf einen transparenten Vorhang projiziert, der die Bühne vom Zuschauerraum trennt. Ortlos, zeitlos, eher entrückt das alles in eine unbestimmte Zukunft als in die jüngere Vergangenheit.

Das entspricht sicher der Absicht Borcherts, der in seinem Stück nur Platzhalterfiguren, Allegorien auftreten lässt. »Ein Mädchen«, »ein Oberst« usw. Selbst der Protagonist Beckmann ist ein Jedermann, ein Universal-Soldier. Und schon gar kein Borchert, trotz der Namensähnlichkeit. Der nämlich wurde zwar 1941 zur Wehrmacht eingezogen, verstümmelte sich aber 1942 selbst, um sich dem Morden zu entziehen und landete schließlich in einer Strafeinheit, wo er ohne Waffe an vorderster Front in Russland Dienst tun musste, bis ihn Erfrierungen, Gelbsucht und Fleckfieber zugrunde richteten. Nur zwei Jahre blieben ihm nach Kriegsende, um sein einziges großes Bühnenstück zu schreiben. Im November 1947, einen Tag vor der Premiere von »Draußen vor der Tür« in Basel, starb Borchert.

Dass unter diesem Eindruck ein ganz großes existentialistisches Drama entstanden ist, das über die Ablehnung des Krieges hinaus geht und die Frage diskutiert, wie weiterzuleben sei in einer sinnlos gewordenen Welt, hat die Düsseldorfer Inszenierung freigelegt. Ein Mensch muss man laut Borchert »erst werden«, Gott ist sowieso tot, »wir fürchten dich nicht mehr«, schiebt Beckmann im Stück trotzig nach. In einem Prolog für die Hörspielfassung erläutert Borchert seine pazifistische Haltung weiter: »Wir sind Neinsager, aber wir sagen nicht nein aus Verzweiflung. Unser Nein ist Protest. Und wir müssen in das Nichts hinein wieder ein Ja bauen.« Das klingt schon sehr nach Camus’ »Mythos des Sisyphos«, unter ähnlichen Eindrücken 1942 erschienen, wenn auch erst nach Borcherts Tod ins Deutsche übersetzt. Aber auch dieser Literaturströmung lässt Borchert sich nicht fest zuordnen, sagen die Germanisten. Auch hier sitzt er zwischen den Stühlen, bleibt außen vor, eben draußen vor der Tür.

Nächste Aufführungen: 18. und 27. Oktober

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