Stille Macht
Von Michael SaagerWer ihn nicht kriegt, ist relativ leicht vorherzusagen. Philip Roth nicht mehr, denn der ist tot. Thomas Pynchon und Don DeLillo auch nicht, zu erratisch, zu US-amerikanisch. Außerdem nicht mehr in Bestform. Margaret Atwood, Haruki Murakami, Jenny Erpenbeck, Salman Rushdie? Wurden als Kandidaten für den Literaturnobelpreis 2024 gehandelt. Aber irgendwer handelt halt immer irgendwen. Und am Ende entscheidet die Jury in Stockholm sowieso anders. Denkt man allzuoft. Andererseits: An Annie Ernaux im vorletzten Jahr konnte sie anscheinend nicht so leicht vorbei – zu angesagt, zu bedeutsam, auch gerade spät genug entdeckt, die schmerzhafte soziologische Literatur dieser französischen »Ethnographin ihrer selbst«.
Preisverdächtig dürfte die südkoreanische Autorin Han Kang allenfalls in ihrem Heimatland gewesen sein. Dort ist die Ausgezeichnete des Jahres 2024 eine gefeierte Bestsellerautorin bei gleichzeitigem hohem literarischem Rang. Gibt es auch nicht wie Reis in China. Eine Unbekannte ist Han Kang, deren Bücher seit Jahren im Berliner Aufbau-Verlag auf deutsch erscheinen, international freilich längst nicht mehr. Mit dem – bei Autoren und Presse gleichermaßen beliebten – Man Booker International Prize wurde sie 2016 ausgezeichnet. Den gab es zu recht für den herrlich sonderbaren, überhaupt nicht witzigen, durchaus etwas ekligen, komplex-klugen Roman »Die Vegetarierin« über eine Frau, die sich durch strengen Vegetarismus und die sinnbildliche Metamorphose zu einem Baum aus der familiären Unterdrückung hin zur Selbstbestimmung befreien will. Der nicht so superleicht zu beeindruckende Dietmar Dath zeigte sich damals in der FAZ beeindruckt, nicht zuletzt von Han Kangs unscheinbarem Stil oder davon, wie sie konsequent Metaphern entsage. Eine stille Macht entfalte das Buch, meinte Dath. Kann man so sagen.
Ein Jahr später ins Deutsche übersetzt wurde Han Kangs Roman »Menschenwerk« über das Massaker von Gwangju, das der Demokratiebewegung in Südkorea 1980 ein vorläufiges Ende setzte. Kam bei der internationalen Kritik aus unterschiedlichen Gründen nicht ganz so gut an. Egal. Denn jetzt hat die 1970 in Gwangju Geborene ja »den« Preis. Nehmen wir einfach mal an, sie freut sich drüber. Begründet wurde die Vergabe selbstverständlich im handelsüblichen Juryblabla: Die Autorin beleuchte die »Verbindung zwischen Körper und Seele, den Lebenden und den Toten« und sei mit ihrem »experimentellen Stil« eine Erneuerin der zeitgenössischen Prosa. Ist sie das, eine Erneuerin? Zumindest ist sie erst die 18. Frau, die den Literaturnobelpreis erhält. Und die erste Preisträgerin aus Südkorea überhaupt.
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