Nicht trauern, rebellieren
Von Leyla ÇökerAm 4. Oktober 2024 ereignete sich in der Türkei einer der erschütterndsten Femizide. Der 19jährige Semih Çelik ermordete zwei gleichaltrige Frauen auf grausame Weise, zerstückelte ihre Körper und beging anschließend Suizid. Diese brutalen Morde lösten im ganzen Land Empörung und Trauer aus. Innerhalb eines Tages gingen Frauen in vielen Städten auf die Straßen, um gegen die anhaltende Gewalt gegen Frauen zu protestieren. Zahlreiche Menschen trugen Schwarz als Zeichen des Widerstands und der Solidarität.
Die Demonstrationen richteten sich gegen das Justizsystem und die Regierung, denen seit Jahren vorgeworfen wird, Femiziden tatenlos zuzusehen. Mit dem Slogan »Nicht in Trauer, sondern im Aufstand!« protestierten die Frauen gegen die Untätigkeit des Staates und forderten effektivere Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt. Femizide haben in der Türkei in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Die Gewalt gegen Frauen eskaliert, doch gesetzliche Schutzmaßnahmen bleiben entweder unzureichend oder werden nicht konsequent umgesetzt. Das Projekt »Anıt Sayaç« dokumentiert die Zahl der getöteten Frauen durch männliche Gewalt seit 2012 und zählt bis zum 8. Oktober bereits 296 Opfer allein in diesem Jahr.
Ein großes Problem ist, dass viele dieser Verbrechen nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Häufig bleiben Fälle unaufgeklärt, oder die Täter kommen mit milden Strafen davon. Frauenorganisationen wie »Kadın Cinayetlerini Durduracağız« (»Wir werden Femizide stoppen«) setzen sich daher unermüdlich für Gerechtigkeit ein und fordern, dass Täter zur Rechenschaft gezogen werden.
Ein zentraler Punkt im Kampf gegen Gewalt war die Istanbul-Konvention, ein internationales Abkommen, das 2011 unterzeichnet wurde und den Schutz von Frauen vor Gewalt zum Ziel hatte. 2021 jedoch zog sich die Türkei überraschend aus der Konvention zurück, was in weiten Teilen der Gesellschaft Empörung hervorrief. Frauenrechtsgruppen warnten, dass dies ein schwerer Rückschlag im Kampf gegen Femizide sei.
Der Anstieg der Femizide wird als Symptom tiefer liegender systemischer Probleme gesehen. Frauen in der Türkei sind oft schutzlos, da staatliche Stellen die Täter nicht konsequent verfolgen. Bei sexuellen Übergriffen durch Männer an Frauen kommt es vor, dass Adressen und persönliche Informationen der Opfer direkt an die Täter weitergegeben werden, was die Gefahr für diese Frauen erhöht und sie langfristig davon abschreckt, sich juristisch zu wehren. Frauenhäuser bieten nicht genug Sicherheit, und Frauen, die Zuflucht suchen, leben weiter in Angst. Diese Mängel untergraben das Vertrauen in den Staat und lassen viele Täter ungestraft davonkommen.
Aussagen von Politikern, die traditionelle Geschlechtsrollen propagieren, schaffen eine Atmosphäre, in der sich Männer dazu ermutigt fühlen, Frauen auch physisch zu dominieren, sogar Gewalt anzuwenden. Präsident Recep Tayyip Erdoğan äußerte sich in der Vergangenheit mit folgenden Worten: »Frauen und Männer kann man nicht gleichstellen« und »Die einzige Karriere einer Frau ist die Mutterschaft«. Solche Aussagen schwächen den Einsatz für Gleichberechtigung. Der ehemalige Vizepremier Bülent Arınç äußerte: »Eine Frau, die lacht, ist unanständig.« Solche frauenfeindlichen Äußerungen festigen strukturell die Ungleichheit und behindern die Emanzipation der Frauen.
Femizide sind nicht nur das Ergebnis patriarchaler Strukturen, sondern auch des wirtschaftlichen Systems. Zusätzlich zur Ausbeutung der Frauen im Arbeitsmarkt werden sie im häuslichen Bereich ausgebeutet. Ihre finanzielle Abhängigkeit hindert sie oft daran, gewalttätige Haushalte zu verlassen. Die prekäre Beschäftigungssituation und niedrige Löhne verstärken die Abhängigkeit, wodurch die Gewalt aufrechterhalten wird.
Der Umgang des Staates mit diesen Herausforderungen bleibt unzureichend. Während der Ruf nach Gerechtigkeit und Schutz immer lauter wird, scheint der politische Wille, wirksame Maßnahmen umzusetzen, zu fehlen. Die feministische Bewegung in der Türkei fordert jedoch weiterhin strukturelle Reformen und die Einhaltung internationaler Verpflichtungen zum Schutz von Frauenrechten. Der Kampf gegen Femizide erfordert eine tiefgreifende Veränderung in der gesamten Gesellschaft und in den staatlichen Institutionen.
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