»Dieses Geheimnis kann ich nicht entschlüsseln«
Interview: Henning von StoltzenbergAm 3. Oktober haben in Berlin mehrere zehntausend Menschen unter dem »Nein zu Krieg und Hochrüstung! Ja zu Frieden und internationaler Solidarität!« demonstriert. Wie fällt Ihr Fazit aus?
Ich denke, das Personenbündnis hinter dem Aufruf hat seine Mobilisierungsfähigkeit überschätzt. Die Teilnehmerzahl hätte größer sein können und müssen. Ein Aufruf, bei dem Asyl für Verweigerer und Deserteure nicht ausdrücklich gefordert wird, kann etwa für die DFG-VK nicht hinreichend sein. Darauf hätte das Veranstalterbündnis Rücksicht nehmen müssen.
Die DFG-VK Berlin-Brandenburg hat aber politisch Stimmung dagegen gemacht, dass die Demo überhaupt stattfindet. Russland sei allein der Aggressor, und die westlichen Waffenlieferungen an Kiew seien »zögerlich«, hört man von dort. Was geht da vor?
In jeder Organisation gibt es Mitglieder oder gar Gliederungen, die man so nicht erwartet. Eine Grundsatzerklärung, in der es heißt, »der Krieg ist ein Verbrechen an der Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und an der Beseitigung aller Kriegsursachen mitzuarbeiten«, eröffnet eigentlich keinen Interpretationsspielraum. Die von den Berlinerinnen und Berlinern erhobene Forderung nach Waffenlieferungen an die Ukraine steht in krassem Widerspruch dazu. Wie die fraglichen Akteure im Berliner Landesvorstand dazu gekommen sind und warum sie sich einseitig hinter der NATO positionieren, ist ein Geheimnis, das ich nicht entschlüsseln kann und mag.
Der Landesverband Berlin stellt auch in Abrede, dass es sich um einen Stellvertreterkrieg handelt. Hat sich diese Sichtweise nicht mittlerweile auch über die Friedensbewegung hinaus durchgesetzt?
Nicht alle Mitglieder, die zum Landesverband Berlin gehören, teilen die Meinung ihrer überlauten Sprecherinnen und Sprecher. Selbstverständlich hat auch dieser Krieg eine Vorgeschichte, die das Vorgehen Russlands nicht rechtfertigt, wohl aber erklärt. Und zu dieser Vorgeschichte gehört eben das Einschnüren Russlands durch eine sich nach Osten ausdehnende NATO. Russland hat zähneknirschend zugeschaut, wie ehemalige Staaten des Warschauer Paktes wie Polen, Rumänien, Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien sowie ehemalige Sowjetrepubliken wie die drei baltischen Staaten der NATO beitraten. Vorbereitungen zu einem Beitritt Georgiens und der Ukraine waren der Tropfen, der das Fass überlaufen ließ.
Bezeichnend ist, dass den Demoorganisatoren vorgeworfen wird, sich nicht mit Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern in Russland zu solidarisieren. Dabei heißt es im Aufruf: »Recht auf Kriegsdienstverweigerung überall! – Keine Zwangsrekrutierung!« Ist bei einem solchen Klima eine sachliche Debatte noch möglich?
Die im Aufruf genannte und hier zitierte Forderung greift zu kurz, sie ist nicht konkret genug. Wenn auf einer in Deutschland stattfindenden Demo nicht auch die Forderung nach Asyl für Deserteure aus dem Kriegsgebiet gestellt wird, dann bleibt der Demoaufruf in dem Bereich warme Luft. Nicht nur die Ukraine hat das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgesetzt, auch Russland und Belarus verweigern dieses Menschenrecht. Wenn Deutschland sich mit der NATO auf die Seite der angegriffenen Ukraine schlägt, dann wäre es doch logisch, Deserteuren aus Russland hier Schutz zu gewähren. Das Gegenteil ist aber der Fall, sie bekommen keinen Schutz und sollen heimgeschickt werden.
Wie sollten Kontroversen in der Friedensbewegung Ihrer Ansicht nach behandelt werden?
Die Friedensbewegung ist so heterogen wie lange nicht. Viele Jahre, ja Jahrzehnte, gab es einen klaren antifaschistischen Konsens. Selbst der ist inzwischen verlorengegangen. Langjährige Mitstreiterinnen und Mitstreiter sind bereit, Bündnisse mit Gruppen und Organisationen aus dem Rechtsaußenspektrum zu schmieden, um das Friedensthema stärker in die Öffentlichkeit zu bringen. Die AfD ist aber keine Friedenspartei, wie zum Beispiel die Informationsstelle Militarisierung gerade wieder belegt hat. Brandmauern sind nötig. Das hat mit Spaltung nichts zu tun. Mit solchen Partnern schwächt sich die Friedensbewegung, statt die notwendige Stärke zu bekommen.
Felix Oekentorp ist Sprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) NRW
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (12. Oktober 2024 um 07:08 Uhr)Die gegenwärtige Friedensbewegung in Deutschland ist ein so zartes und schwaches Pflänzchen, dass sie unbedingt vor jeder Art von Gegenwind aus den eigenen Reihen geschützt werden muss, um wachsen zu können. Das trifft auch für die hier dargestellte Polemik zu. Es wird nicht helfen, an einzelnen Blättchen zu ziehen, um das Aufblühen zu fördern. Die Friedensfrage ist eine zu wichtige Sache, als dass man sich immer zuerst mit den Grenzen der Kompromissfähigkeit herumschlagen sollte. Denn geht das zarte Pflänzchen über diesem Streit ein, ist nichts gewonnen aber alles verloren.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (14. Oktober 2024 um 15:23 Uhr)Dass man russischen Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern unbedingt Asyl gewähren muss, wäre für mich das Einzige, was man an dieser Stellungnahme von Felix Oekentorp kritisieren könnte. Es wird aber nicht klar, was Sie an dem Interview auszusetzen haben. Oekentorp hat sich sich vom Berliner Landesverband der DFG-VK in Sachen Demo in Berlin distanziert. Und dass die AfD keine Friedenspartei ist, müsste sich langsam herumgesprochen haben. Mit denen kann man keinen Krieg verhindern. Was von solchen Bündnissen bleibt, ist die Aufwertung der Rechten. »Ein so zartes Pflänzchen« wie die Friedensbewegung sollte man vor Leuten wie Höcke und Elsässer schützen.
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