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Aus: Ausgabe vom 12.10.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Ukraine-Krieg

Der perfekte Sturm

Hurrikan »Milton« kam USA gerade recht, um »Ramstein«-Treffen abzusagen. Westen scheint nicht bereit, weiter für Ukraine ins Risiko zu gehen
Von Reinhard Lauterbach
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Ukrainische Truppen stehen nicht nur in der Donezker Stadt Selidowe unter Druck (9.10.2024)

Die Argumente, mit denen US-Präsident Joseph Biden erst seine Teilnahme an dem für diesen Sonnabend geplanten Treffen der »Ramstein«-Gruppe führender westlicher Waffenlieferanten der ­Ukraine abgesagt hat und dann gleich die ganze Veranstaltung, sind auffällig dünn. In der wohlwollendsten Interpretation zeugt beides davon, dass der Wählerschaft in den USA ein Krieg im fernen Osteuropa nicht so nahe geht wie die Verwüstungen, die ein tropischer Wirbelsturm in Florida anrichtet. Wobei der Amtsinhaber ja gar nicht zur Wiederwahl ansteht. Aber die »Verschwendung von Steuerdollars« in der Ukraine hätte angesichts der Unwetterfolgen tatsächlich im Wahlkampf einen schlechten Eindruck gemacht. Noch auffälliger ist, dass Biden, auch wenn er selbst in Washington den »Landesvater« geben wollte, nicht wenigstens einen seiner fachlich zuständigen Minister für Auswärtiges oder Verteidigung nach Deutschland entsandt hat. Es entsteht der Eindruck, dass die USA im Moment zur Frage, wie es mit der Ukraine weitergehen soll, nichts zu sagen haben.

Dieser Eindruck kommt nicht von ungefähr. Die Weltöffentlichkeit ist der ständigen Beschwörungen des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij erkennbar müde. Bei der UN-Vollversammlung sprach er im September vor einem weitgehend leeren Saal. Sein Versuch, die USA zur Absegnung seines »Siegesplans« zu bewegen, misslang gründlich. Washington wollte weder die Verwendung von US-­gesponsorten Langstreckenwaffen für Angriffe auf Ziele im Inneren Russlands freigeben noch neue Lieferungen zusagen oder Selenskijs zweiten Wunsch erfüllen: der Ukraine eine verbindliche Zusage der NATO-Mitgliedschaft zu geben.

Statt dessen mehren sich in führenden US-Medien Artikel, die die militärische Lage der Ukraine mit der gebotenen Skepsis darstellen. Und ein Mann wie der gerade aus dem Amt geschiedene NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg schien nur darauf gewartet zu haben, die Bürde seines Amtes losgeworden zu sein, um einen Plan für ein rasches Ende der Kriegshandlungen in die Welt zu setzen: eine Einstellung der Kämpfe entlang der Frontlinie und einen zumindest vorläufigen Verzicht der Ukraine auf die Rückeroberung der von Russland eroberten Gebiete – und im Gegenzug die Aufnahme der Restukraine in die NATO ohne offizielle Anerkennung der neuen Grenzlinie. Stoltenberg machte kein Geheimnis daraus, dass ihm für diese Lösung das Beispiel Westdeutschlands vorschwebte, das ja auch 1955 ohne die von der BRD beanspruchten östlichen Landesteile in die NATO aufgenommen wurde – die Gelegenheit, beides wieder in Einklang zu bringen, ergab sich für Bonn 35 Jahre später unter Bedingungen, die seinerzeit nicht vorauszusehen waren. Faktisch ist Stoltenbergs Plan also der Versuch, das für die NATO Wesentliche – die Expansion weiter nach Osten – vom Unwesentlichen – der Frage, wessen Fahne über Donezk weht – zu trennen.

Gleichzeitig würde diese Variante bedeuten, dass Russland seiner Eroberungen (mit deren Wiederaufbau nach der kriegsbedingten Zerstörung es ohnehin auf Jahrzehnte beschäftigt wäre) politisch nicht froh werden könnte. Denn ob die Grenze der NATO ein paar hundert Kilometer in die eine oder andere Richtung verschoben wird, dafür hat Russland diesen Krieg nicht geführt. Es will nach wie vor die Neutralisierung der Ukraine als wichtigstes Kriegsziel. Stoltenbergs Plan teilt also die Haut eines Bären, der noch bei weitem nicht erlegt ist. Die wichtige Mitteilung daran ginge aber sowieso an die Adresse der Ukraine: Unsere Geduld – jedenfalls die der Mehrheit der Mitgliedstaaten – mit euch hat ihre Grenzen. Eure Ostgebiete wiederzuholen müsst ihr schon selbst erledigen. Wenn ihr es nicht schafft, ist es euer Problem.

Genau dies ist die bittere Pille, die sich Kiew bisher zu schlucken weigert. Als der italienische Corriere della Sera am Donnerstag (ohne Quellenangabe) berichtete, Selenskij sei im Tausch gegen »starke Sicherheitsgarantien« – was auch nicht dasselbe ist wie eine NATO-Mitgliedschaft – eventuell bereit zu einem wenigstens vorläufigen Waffenstillstand entlang der jetzigen Frontlinie, da kamen die Dementis aus Kiew innerhalb von Stunden. Der einzige Weg zum Frieden sei die Niederlage Russlands, ließ sich Präsidentenberater Michailo Podoljak vernehmen, und der Westen solle gefälligst mehr Mut haben, gegenüber Russland ins Risiko zu gehen. Genau zu diesem Risiko – einer unmittelbaren militärischen Konfrontation mit unabsehbaren Folgen – scheint der Westen zumindest derzeit nicht bereit zu sein. Den Stellvertreterkrieg im Osten noch ins kommende oder auch ins übernächste Jahr weiterlaufen lassen, das möchte er schon. Aber eigene »Stiefel auf dem Boden« doch eher nicht. Was also hätte das »Ramstein«-Treffen zum jetzigen Zeitpunkt bringen können?

Hintergrund: NATO will mehr

Aus der NATO kommen neue Forderungen an die Adresse der Bundesregierung, die Rüstungsausgaben zu erhöhen. Die Süddeutsche Zeitung vom Freitag zitierte den bei der NATO dienenden Bundeswehr-General Christian Badia mit der Aussage, die Bundeswehr müsse bis 2031 ihre Kampftruppen von jetzt acht auf dann bis zu 16 Brigaden verstärken. Dies gehe aus einem aktuellen Papier des Bündnisses mit dem Titel »Minimum Capability Requirements« (Mindestanforderungen an die Leistungsfähigkeit) hervor, so Badia. Es liege auf der Hand, dass ein Anteil der Rüstungsausgaben am Sozialprodukt von zwei Prozent dafür nicht ausreiche; es müssten mindestens drei Prozent werden – also eine fünfzigprozentige Steigerung innerhalb weniger Jahre. Allein um das offizielle Zweiprozentziel zu erreichen, müsste der Militäretat laut Badia von jetzt etwa 50 auf 80 bis 90 Milliarden Euro pro Jahr steigen. Eine Steigerung auf drei Prozent der Wirtschaftsleistung würde weitere 40 Milliarden kosten, ihn also in den dreistelligen Milliardenbereich treiben.

Das größte Problem sieht General Badia aber nicht so sehr in der technischen Ausstattung zusätzlicher Brigaden, sondern im Mangel an potentiellen Soldaten. Eine deutsche Brigade besteht aus rund 5.000 von ihnen. Aktuell dienen in der Bundeswehr rund 180.000 Soldatinnen und Soldaten; die neuen Anforderungen setzen eine »Friedensstärke« von 240.000 voraus, dazu müsse eine Reserve in etwa der gleichen Höhe gebildet werden, um im Kriegsfall 460.000 Frauen und Männer aufbieten zu können. Um diese Anzahl an ausgebildeten Kräften auf die Beine zu stellen, denken sowohl die Bundesregierung als auch die Opposition darüber nach, die Wehrpflicht wiedereinzuführen.

Die BRD ist im Rahmen der NATO verpflichtet, etwa zehn Prozent der Gesamtaufwendungen zu übernehmen. Diese Rechenweise führt dazu, dass etwa überproportionale Rüstungsaufwendungen der USA oder auch Polens – das fünf Prozent seines Sozialprodukts für das Militär anstrebt – die Gesamtsumme erhöhen und damit »automatisch« Mehrbelastungen für Deutschland nach sich ziehen. (rl)

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