Flohmarkt
Von Jürgen RothIn der ländlichen Überschaubarkeit weiß am nächsten Tag jeder, wie viele Weizen du am Abend zuvor »obig’litert« (Gerhard Polt) hast. Es gibt Dorfzeitungen auf zwei Beinen, die zwecks flächendeckender Informationsproliferation auch Fahrräder benutzen.
Forti, der Chef des »Seven Bistro«, hat das Kunststück fertiggebracht, eine rumänische Bedienung zu installieren, die kein Wort deutsch spricht. Das nennt man bei der SPD und bei den Grünen vermutlich gelungene Fachkräfteintegration.
Dirk aus der Nachbarschaft malocht nächtens im nächstgelegenen Kaff in der BMI, in einem genossenschaftlich organisierten Betrieb der bayerischen Milchindustrie. Er käst, oder er pasteurisiert.
Der imposant tätowierte Dirk stammt aus der Hauptstadt der ehemaligen DDR. Er floh, weil ihm die Stasi auf die Nerven gegangen war. An seinem Balkon an einem Mietshaus in meiner Straße hängt ein Banner von Union.
Der Club würgt gegen Berlin herum. Nach dem 0:1 kräht der gewöhnlich tadellose Kommentator Hansi Küpper: »Ganz Hertha jubelt!« Ich kriege Kopfschmerzen und gehe raus, um eine zu rauchen.
Draußen dampft bereits Dirk. Dirk hatte vor zwanzig Minuten am Automaten mit einem Euro sechshundert Ocken gewonnen. »Ich wollte nur ein Bier trinken«, sagt er.
Warum er noch arbeite, frage ich ihn. Ja, darüber denke er nach. Liefe es immer so …
Eine halbe Stunde später treffen wir uns am Aschenbecher wieder. Dirk: »Noch mal neunzig Euro eingesackt.« Ich zucke mit den Schultern. Er hebt sein Kulmbacher-Stubbi, womöglich auf die Erfüllung der Idee der klassenlosen Gesellschaft, in der Balzacs Diktum, hinter jedem Vermögen stehe ein Verbrechen, keine Geltung mehr besitzt, anstoßend. Er dürfte nie Balzac gelesen haben.
Ich gucke mir weiter das Nürnberger Fußballelend an. Da klingelt Ludwig durch: »Jürgen, wir waren doch verabredet! Zum Werkkreis Literatur der Rentnerwelt! Komm vorbei!« Hatte ich vergessen.
Ludwig veranstaltet einen Kleinflohmarkt in einer Hofeinfahrt in der N.-Straße. Er halte Spalter Bier und einen Korb geistiger Getränke vorrätig. Ich schlappe los.
»Jürgen, mein Freund«, begrüßt mich der emeritierte Sozialpädagoge, »ich hab’ dir schon mal ein paar Bücher zur Seite gelegt.«
Ich sichte den Stapel: Valentiniaden, erzählt von Gusti Grunauer-Brug, ein Rechtschreibregelheft von 1903 (sehr sinnig und stimmig!), Kästner und Zille und »Die Deutschen Bücher« aus dem Jahr 1911, auf dem Schmutztitel steht: »Thüringen, das grüne Herz Deutschlands«.
Am Schluss eine mit üppigen Texten bestückte Broschüre des Titels »Staatsbürgerliche Informationen – Afrika – Teil 1: Geschichtlicher Überblick (mit 20 Karten)«, 1962 herausgegeben von der »Bundeszentrale für Heimatdienst, Bonn, Königstraße 85«.
Im hinteren Teil, in einer Tabelle, erfahre ich, dass auf den Kapverdischen Inseln »61.000 Neger leben«, und dann schlage ich aus Zufall die Seite IX auf, eine Karte über die »Völkerlagerung und Völkerbewegungen in Afrika von 1500 bis zur Gegenwart«, und auf der ist mit einem Bollen, an dem etliche Tentakel kleben, südlich von Kamerun, wo ich vor fünfzehn Jahren zwei Wochen gewesen bin, eine »Bantu-Stauzone« verzeichnet.
»Bantu-Stauzone! Bantu-Stauzone!« brülle ich, auf prächtigste Weise nicht mehr bei Trost. »Dass ich noch mal das Wort ›Bantu-Stauzone‹ lesen darf! Bringt uns die Bantu-Stauzone zurück!«
»Die is’ da«, grummelt mein Freund, der Metzger L., und nippt an einer Wacholderdrosellschnapsflasche, und damit ist vielleicht einiges gesagt.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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