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Aus: Ausgabe vom 12.10.2024, Seite 12 / Thema
Italien

Bonapartismus und Kulturkampf

Seit Giorgia Meloni italienische Premierministerin ist, beschwört die linksliberale Opposition die Gefahr des Faschismus. Das Problem liegt aber woanders und auch viel tiefer
Von Stefano G. Azzarà
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Der Rottomatore vor der Fratze des Faschismus? Schon der liberale Matteo Renzi wollte das politische System Italiens verschrotten (rottomare). Dazu bedurfte es einer Giorgia Meloni gar nicht

Als im Oktober 2022 die Koalition der Rechten die italienischen Parlamentswahlen gewann, warnten jene Teile aus Politik und Zivilgesellschaft, die die Wahl verloren hatten, vor der Gefahr eines Rückbaus der Demokratie im Land. Auch jenseits der nationalen Grenzen äußerten sich das liberaldemokratische beziehungsweise sozialdemokratische Lager und dessen Meinungsmacher besorgt. Dabei war es gar nicht das erste Mal, dass in Italien eine rechte Regierung an die Macht gekommen war. Der erste Sieg Silvio Berlusconis fällt ins Jahr 1994. Damals erhielt er eine Legitimierung durch den Movimento Sociale Italiano (MSI) – eine Partei, die sich bereits in ihrer Namensgebung auf die von den Faschisten 1943 gegründete Repubblica Sociale Italiana im Norden des Landes berief. Damals wurde ein einflussreicher MSI-Funktionär wie Pinuccio Tatarella zum stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt. In der zweiten Regierung Berlusconi von 2001 – jene Regierung übrigens, die im gleichen Jahr die Gewalteskalation beim G8-Gipfel in Genua zu verantworten hatte – wurde dann der damalige Parteisekretär Gianfranco Fini stellvertretender Ministerpräsident, wobei sich seine Partei kurz zuvor in Alleanza Nazionale umbenannt hatte, um ihre Ursprünge zu verwässern.

Es gibt jedoch einen signifikanten Unterschied zur heutigen Regierung. Damals spielte die extreme Rechte zwar eine wichtige, aber dennoch untergeordnete Rolle, nicht zuletzt aufgrund ihres begrenzten Wählerpotentials. 2022 jedoch erreichten die Fratelli d’Italia fast 30 Prozent der Stimmen und wurden zur stärksten politischen Kraft in Italien, was es der Vorsitzenden Giorgia Meloni ermöglichte, das Amt der Ministerpräsidentin zu übernehmen. Damit übertraf sie Matteo Salvini, der kurz zuvor (vor seinem seltsamen politischen Selbstmord) noch als die dominante Figur der nationalen Politik galt.

Zwei Jahre sind seither vergangen, und an der Lagebeurteilung scheint sich nichts geändert zu haben. Immer noch beschwören das Mitte-links-Lager und seine affiliierten Medien in der politischen Auseinandersetzung die Angst vor einem autoritären Wandel des Landes, bisweilen gar die vor einer Rückkehr des Faschismus. Eine typische Vertreterin dieser rhetorischen Strategie, den Gegner mit einem theoretisch sehr starken, aber in der Praxis kaum wirksamen Argument zu delegitimieren, ist die Zeitung La Repubblica, die als eine Art römisches Pendant zur New York Times betrachtet werden kann und aufgrund ihres Einflusses (der sich nicht zuletzt der wirtschaftlichen Macht ihres im vorherrschenden Block des euroatlantischen globalen Kapitalismus fest verankerten Eigentümers Stellantis verdankt) dem Mitte-links-Lager in Italien die Linie vorgibt. Eine emblematische Stellungnahme stammt vor diesem Hintergrund vom stellvertretenden Direktor der Zeitung, Massimo Giannini. Anlässlich der Verabschiedung eines weiteren »Sicherheitspakets«, das eine deutliche Verschärfung des Strafmaßes für eine Reihe von Delikten wie Straßenblockaden oder den Versuch, umstrittene öffentliche Bauprojekte zu stoppen, mit sich bringen wird und tatsächlich eine erhebliche Einschränkung der Meinungs- und vor allem der Demonstrationsfreiheit bedeuten könnte, kritisierte Giannini die Rechte für ihre »merkwürdige Vorstellung von liberaler Demokratie«, nämlich »mehr Strafen und Gefängnis für alle« anzubieten.

Antidemokratischer Liberalismus

Es lohnt sich, zunächst einmal über diesen Ausdruck nachzudenken. Er setzt etwas voraus, was in der Tat längst in die vorherrschenden Formen des kollektiven Bewusstseins übergegangen ist, nämlich die Vorstellung einer substantiellen Äquivalenz von Demokratie und Liberalismus. Nach dieser Auffassung sind Demokratie und Liberalismus deckungsgleich, und die Geschichte der Demokratie ist die Geschichte dieser philosophisch-politischen Strömung. Der Liberalismus hat demnach die Demokratie hervorgebracht, und zwar durch lineare und spontane Entwicklung, die mit der allmählichen Zivilisierung der Massen einherging und von den ersten repräsentativen Versammlungen, die der Aristokratie und den Großgrundbesitzern vorbehalten waren, zum allgemeinen Wahlrecht führte. Klar ist auch der logische Schluss dieser These: Es gibt keine Demokratie außerhalb des Liberalismus, und es ist nicht einmal möglich, sich demokratische Formen des Zusammenlebens vorzustellen, die in anderen Modi als dem liberalen interpretiert werden. Wenn Demokratie Liberalismus ist, so ist alles, was sich dem Liberalismus entgegenstellt, Faschismus, wodurch dieser seine konterrevolutionären und antikommunistischen politischen Merkmale verliert und in allem und jedem mit Antiliberalismus identifiziert wird (was folgerichtig den Antifaschismus entpolitisiert und ihn auf eine rein rhetorische und indirekte Apologie des Liberalismus reduziert).

So verbreitet, dominant und als offensichtlich wahrgenommen diese These auch erscheinen mag, sie ist zweifelhaft, wenn nicht historisch betrachtet sogar vollkommen falsch. Richtig ist vielmehr, dass der Liberalismus nur mit Mühe dazu gebracht wurde, sich mit der Demokratie zu arrangieren, einem politischen Ideal, das für diese Strömung eine sehr späte Entdeckung war und dem sie sich nur widerwillig fügte. Als Instrument zur Begrenzung der Macht des Herrschers und zur Bekräftigung des Prinzips der Selbstverwaltung der im aristokratisch-bürgerlichen Rahmen der Zivilgesellschaft etablierten Mächte ist der Liberalismus zunächst ein Mittel zur Umgrenzung eines heiligen Raumes der Gleichen, das heißt der Eigentümer, die sich gegenseitig durch den Ausschluss derer anerkennen, die nicht ihresgleichen sind und keine besondere Stellung genießen. Er repräsentiert also eine teilweise noch vormoderne Organisationsform der vorherrschenden Einzelinteressen, durch die ein System von Privilegien institutionalisiert wird, das im Ancien Régime noch einen personalistischen Charakter hatte.

Insofern der Liberalismus den universellen Begriff von Menschheit nicht anerkannte und seine Definition auf jene beschränkte, die sich durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse der Zivilisation auszeichneten, war er die längste Zeit ein Gegner des allgemeinen Wahlrechts und sprach sich für Ausschlussklauseln auf der Grundlage von Zensus oder Zivilisation aus. Als er schließlich das allgemeine Wahlrecht akzeptierte, geschah dies in bonapartistischer Form, das heißt, praktiziert wurde mit plebiszitären Mitteln die Einsetzung eines Führers, der die Volkssouveränität vollständig absorbierte und unter seine Kontrolle stellte.

Weit davon entfernt, die Demokratie aus sich selbst heraus zu schaffen – präziser formuliert jene Herrschaftsform, die wir als solche zu bezeichnen gewohnt sind, nämlich die moderne Demokratie des 20. Jahrhunderts – musste der Liberalismus vielmehr selbst erst lernen, demokratisch zu sein. Einzig der reale politische und soziale Konflikt, der Zusammenstoß mit den Forderungen der organisierten unteren Klassen und deren Konfliktfähigkeit, zwang ihn, die großen Diskriminierungen zu überwinden, die im Laufe seiner Geschichte auf ihm lasteten: die Klassen-, die Geschlechter- und die Rassendiskriminierung.

In dieser Hinsicht lässt sich also mit gutem Recht behaupten, dass die Demokratie viel eher die legitime Tochter des Klassenkampfes und des Kampfes der kolonialen Völker um Selbstbestimmung ist. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, also am Ende des »Zweiten Dreißigjährigen Krieges«, der die Gestalt einer internationalen demokratischen Revolution angenommen und der, relativ betrachtet, die Mauern des heiligen liberalen Raums in jedem Land und global relativ aufgebrochen hatte, konnte der Liberalismus seine demokratische Phase einläuten; sein linker Flügel gewann damals gegenüber seinem konservativen die Oberhand.

Niedergang moderner Demokratie

Seit geraumer Zeit befindet sich diese Verbindung jedoch in einer Krise, da die moderne Demokratie (allgemeines Wahlrecht und universelle Wohlfahrt als Mechanismus zur Umverteilung von Macht, Reichtum und Anerkennung und als sozialer Ausgleich) längst von den verschiedensten Experimenten einer postmodernen bonapartistischen Demokratie abgelöst und ersetzt wurde. Allerdings besteht weder in Italien noch anderswo eine faschistische Gefahr im klassischen Sinne, die Gefahr einer Faschisierung bestünde allenfalls im Falle eines Krieges, und sie bleibt auch bei weitem nicht auf Melonis Partei oder andere explizit rechte oder extrem rechte Parteien beschränkt, sondern verläuft quer durch alle Lager. Das Problem liegt woanders: Seit mehreren Jahrzehnten ist nämlich selbst innerhalb der als liberal-demokratisch definierten politischen Systeme ein Prozess der Machtkonzentration im Gange.

Von dem Moment an, an dem die subalternen Klassen mit dem Ende des Kalten Krieges ihre Fähigkeit verloren, zu kämpfen und sich zu verteidigen (weil sie ihr Bewusstsein, ihre Einheit und ihre Organisiertheit verloren), öffnete sich im Westen ein Raum, in dem ein rein liberales Programm wieder ungehindert zur Anwendung kommen konnte. Vor allem der bonapartistische Gegenpol, den die Liberalen seit Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die Demokratie ins Feld geführt hatten, ist wieder aufgetaucht, so dass die vertraute moderne Demokratie schon lange vor Melonis Regierungsantritt verschwand.

Was Italien betrifft, wo dieser Prozess bereits in den 1970er Jahren begann, als die letzte Welle der Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts zum Stillstand gebracht wurde, erfolgte die Abrechnung mit der modernen Demokratie schon Anfang der 1990er Jahre im Zuge der Krise der sogenannten Ersten Republik. Dreh- und Angelpunkte dieser Veränderung waren die Delegitimierung der Massenparteien (namentlich des Partito Communista Italiana) und die Änderung des Wahlrechts in Richtung Mehrheitswahlrecht, wie sie von dem Christdemokraten Mariotto Segni und dem letzten kommunistischen Sekretär Achille Occhetto vorangetrieben wurde. Seither begann in Italien ein Prozess der Machtkonzentration, der die untergeordneten Klassen entmachtete, die ihre Entmachtung angesichts verbreiteter Wahlenthaltung voll akzeptiert zu haben scheinen. Die Zermürbung der modernen Demokratie hat in der Zwischenzeit auch auf anderen Ebenen stattgefunden: in der Arbeitsgesetzgebung, beim Abbau der Sozialleistungen, mit der Anhebung des Rentenalters, der Privatisierung des Gesundheits- und Bildungssystems usw.

Es besteht also kein Zweifel daran, dass in Italien ein Trend im Gange ist, der sich als autoritär bezeichnen lässt. Aber dieser Trend ist älter als die Regierung Meloni, er dauert schon seit Jahrzehnten an und wurde zwar von den rechten Regierungen verstärkt, aber eben auch von der linken Mitte bestätigt und mitgetragen. Selbst in der Frage der Verteidung minimalster Bürgerrechte hat Mitte-Links, wann immer sie die Regierung stellten, ein sonderlich gutes Bild abgegeben: Obwohl die Möglichkeit bestand, wurden nie Schritte unternommen, um die von der Rechten eingeführten repressiven Maßnahmen aufzuheben; das gilt für die freie Meinungsäußerung wie auch – um ein noch heikleres Thema zu nennen – für das Vergehen der illegalen Einwanderung.

Schon diese nicht gerade glanzvollen Beweise zeigen, dass die Strategie des Lamentierens und des Anprangerns einer antidemokratischen und autoritären Gefahr, die von den Rechten ausgehe, nicht sehr wirksam sein kann. Italien zerfällt mehr oder weniger in politische Lager, die ihrerseits Ausdruck zweier sozialer Blöcke sind. Diese Blöcke wiederum werden angeführt von den beiden wirtschaftlichen Fraktionen des italienischen Kapitalismus (der dominante, stärker in die globalen Wertschöpfungsketten integrierte und der untergeordnete, stärker territoriale und von der Globalisierung geschädigte). Die beiden Lager teilen sich das Terrain des neoliberalen Staates; lediglich dessen Governance interpretieren sie unterschiedlich. In einem abstrakt-universalistischen Verständnis hält Mitte-Links an der Erklärung der Menschenrechte fest, entleert sie aber ihres wirtschaftlichen und sozialen Inhalts und neutralisiert ihr transformatives Potential, indem sie sie auf Verfahrensweisen reduziert und sie im Rahmen des Bestehenden belässt. Die Rechte mit ihrem partikularistischen und neokorporatistischen Verständnis der Menschenrechte redefiniert die Staatsbürgerschaft als private Angelegenheit, als ein System der Verhandlung gruppenspezifischer Interessen, und wiederbelebt den Evergreen von »Recht und Ordnung« – den Nachtwächterstaat, den die Liberalen immer haben wollten und der einen Teil der Gesellschaft schikaniert, den anderen beschützt.

In diesem Sinne lässt sich mit Recht sagen: Italien hat sich verändert und ist autoritärer geworden, Bürgerrechte wurden teils erheblich eingeschränkt. Das aber ist nicht Melonis unmittelbare Schuld, sondern eher auf andere Dynamiken zurückzuführen, die sich die Regierungschefin bestenfalls auf eigene Weise zunutze macht. Es ist kein Zufall, dass jener Aspekt des rechten Programms, der den politischen Gegner am meisten beunruhigt, nämlich in der laufenden Amtszeit ein Verfassungsreferendum vorzubereiten, mit dem in bonapartistischer Manier die beabsichtigte Machtkonzentration konstitutionell verankert werden soll, in jüngerer Vergangenheit auch schon von Mitte-Links in Angriff genommen wurde (zuletzt vom ehemaligen Vorsitzenden des Partito Democratico und zeitweiligen Premierminister Matteo Renzi).

Kultur- statt Klassenkampf

An diesem Punkt setzt der Diskurs über das Kulturprogramm der Regierung und dessen Risiken an. Als Ausgleich für den von ihr vorangetriebenen Prozess der Machtkonzentration und der Entmachtung und als Kompensation für die mit der globalen Dynamik verbundene Wirtschaftskrise, die soziale Frustration schafft und die Hegemonie des bürgerlichen Blocks in Gestalt einer populistischen Revolte herauszufordern schien, bietet die Rechte ein kulturelles, und das heißt, in erster Linie identitäres Trostpflaster an, das die vom hegemonialen Block abgespaltenen mittleren und untergeordneten Klassen wieder zusammenkleben soll. Denn im entfalteten Neoliberalismus gibt es für Nationalstaaten vom Kaliber Italiens keine großen wirtschaftspolitischen Spielräume: Bloß wenige Milliarden Euro können von einer zugunsten einer anderen gesellschaftlichen Klientel umgeschichtet werden. Es gibt auch keine Spielräume in der Außenpolitik, die fest auf atlantischem Kurs liegen. Es gibt aber die Kultur, und das heißt, ein riesiges Reservoir an symbolischer Kompensation. Und aus diesem Grund ist die Kultur in Italien wie im gesamten Westen zu einem besonders relevanten Schlachtfeld geworden. Die »Kulturkriege« haben den Klassenkampf verdrängt und ersetzt.

Unfähig, eine wirkliche Lösung für die Krise zu finden, und vor allem unfähig, die dramatischen Probleme der Arbeitslosigkeit, der Prekarität, der Inflation und des lächerlich niedrigen Lohnniveaus anzugehen, versucht die Rechte, dies zu kompensieren, indem sie auf der einen Seite Beruhigung und auf der anderen Seite Identitätsstolz vermittelt. Es geht darum, die ängstlichsten und rückständigsten Gesellschaftsschichten zu trösten und zu beschwichtigen, indem ein Diskurs zur Schau gestellt wird, der die Loyalität zum Westen bekräftigt und gleichzeitig die traditionellen Werte systematisch in Frage stellt. Es geht auch um die Externalisierung des Konflikts durch Kriminalisierung der Ausgeschlossenen: der Marginalisierten, aber vor allem der Migranten (perhorresziert als fünfte Kolonne der Barbarei, die den Garten der Demokratie und Freiheit belagert, als industrielle Reservearmee, die unsere Arbeitsplätze stiehlt und die Löhne drückt). Die Herausforderung besteht in der spektakulären Darstellung einer unwahrscheinlichen »Volksgemeinschaft«, die rhetorisch durch Verherrlichung der Idee der Nation oder des Vaterlandes, durch Sehnsucht nach einem traditionalistischen Katholizismus, durch einen Heldenkult hergestellt werden soll, vor allem aber – anders kann es in der Postmoderne nicht sein – durch eine selbstmitleidige Rhetorik des »Made in Italy« (vor allem in bezug auf den Agrar- und Ernährungssektor, das heißt, auf den »produktiven« und »landverwurzelten« Sektor, der seit jeher einen erheblichen Einfluss auf die Selbstdarstellung der Italiener hat).

Dieses kulturelle Angebot ist eindeutig reaktionär. Und es scheint, da mit einem Blick in die Vergangenheit auf den Zeitgeist reagiert wird, ohne sich jedoch über diesen zu erheben, nicht viel Erfolg zu haben. Denn der Diskurs der Nostalgie, der Tradition oder der nationalen Werte kollidiert auf lange Sicht systematisch mit der wahren kulturellen Hegemonie unserer Zeit, nämlich der kapitalistischen und konsumistischen Religion US-amerikanischer Provenienz, die dem Land während der Berlusconi-Zeit eingeimpft wurde: der Hegemonie der großen audiovisuellen Plattformen zum Beispiel oder des globalen Industriesystems der Sportspektakel. Es ist zweifelhaft, ob die prätentiöse partikularistische Wagenburg den Folgen einer digitalen Revolution standhalten kann, von der wir bisher nur die ersten Anzeichen gesehen haben, und die Raum und Zeit virtuell auflöst, indem sie einen Abstraktionsprozess in Gang setzt, der mit der Vollendung des Weltmarkts zusammenfällt.

Die kulturelle Offensive der Regierung der Rechten hat sich vor allem auf historiographischem Terrain entwickelt, und auch hier konnte sie auf mehrere Jahrzehnte des liberalen Geschichtsrevisionismus aufbauen, der schon längst für eine fast vollständige Delegitimierung der revolutionären Tradition des 20. Jahrhunderts gesorgt hat (der im allgemeinen Bewusstsein für die Geschichte der Demokratie keine bedeutende Rolle mehr zugewiesen wird). Dazu kommen die Verharmlosung der Verbrechen des Faschismus und die Normalisierung des faschistischen Regimes in Italien, das im wesentlichen eine präventive Antwort auf den möglichen bolschewistischen Umsturz war, der sich im Biennio Rosso (den roten zwei Jahren 1919/1920) angedeutet hatte, und das das Land vor der kommunistisch-stalinistischen Diktatur bewahren sollte. Dazu gehört die Verklärung des Faschismus als Modernisierer des Landes und Garant erweiterter sozialer Rechte. Umgekehrt wird auf die Verbrechen der Partisanen verwiesen oder auf die Massaker der Tito-Kommunisten im Karst. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Abgesehen von den einzelnen Themen können wir jedoch sagen, dass mit diesen revanchistischen Einfällen eine Neuschreibung der italienischen Geschichte als Ganzes angestrebt wird (die Regierung bereitet u. a. eine Reform der Schullehrpläne vor), die Ergebnisse allerdings auf wissenschaftlicher Ebene ziemlich bescheiden sind.

Eine bestimmte, seit langem bestehende Mentalität der italienischen Gesellschaft, die mit ihrer partikularistischen Struktur zusammenhängt, ist für den revisionistischen Ehrgeiz empfänglich. Der stößt jedoch auf ein unüberwindbares Hindernis von nicht geringer Bedeutung: Dilettantismus und Inkompetenz. Sinnbildlich für dieses kulturelle Defizit der postfaschistischen italienischen Rechten ist der ehemalige Kulturminister Gennaro Sangiuliano, der seine politische Ausbildung im MSI der 1970er Jahre erhielt. Sein Vorschlag war eine wahrhaft hegemoniale Operation. Einerseits nämlich eine Aufwertung der rechten Kultur (Ausstellungen zu Prezzolini oder Tolkien), andererseits der Versuch, die gesamte nationale Kultur, einschließlich der liberalen (Gobetti) und sozialistischen (Gramsci) Traditionen, in den rechten Diskurs einzubeziehen. Mit diesen fragwürdigen Absichten ist Sangiuliano dann auf lächerliche Weise gescheitert.

Kurzum: Opportunismus, Improvisation und Dilettantismus im kulturellen Bereich scheinen ein unüberwindbares Hindernis für die italienische Rechte zu sein. Der neue Minister, der Journalist und Fernsehmoderator Alessandro Giuli, wirkt da besser vorbereitet, leidet aber an einem Defizit anderer Art: Er war Anfang der 1990er Jahre ein Aktivist der sehr regen neofaschistischen Gruppe Meridiano Zero (die den Positionen von Pino Rauti, dem ehemaligen Gründer der Terrororganisation Ordine Nuovo, nahesteht), und seine Weltanschauung ist sogar noch radikaler, weil sie von bestimmten Versatzstücken »arischer« Mythologie inspiriert ist. Dieser esoterische Geist, der der aristokratischen Vorstellungswelt der nationalrevolutionären Gruppen der Nachkriegszeit nähersteht als der traditionellen italienischen Weltsicht, kann ohne eine entsprechende Anpassung nur schwer Akzeptanz in der Bevölkerung finden.

Feste Westbindung

Ungeachtet des Gesagten verhallen die Klagen über das Ende der liberalen Demokratie in Italien weitgehend ungehört. Das liegt vor allem an der totalen Bindung an das westliche geostrategische Lager und an die Interessen des US-Großfinanzkapitals. Meloni hat das mit bemerkenswertem Scharfsinn, aber auch in voller Übereinstimmung mit ihrer eigenen politischen Geschichte wie der gesamten italienischen neofaschistischen und/oder postfaschistischen Rechten (in Worten »systemfeindlich«, in Wirklichkeit antikommunistisch und atlantisch) bestätigt. Jeder Versuch, den Grad der Verwestlichung der Rechten in Zweifel zu ziehen, indem man die Ministerpräsidentin der Nähe zu Putin oder Orbán zeiht; kann daher nur scheitern. Dies um so mehr, als es unbestreitbare Beweise gibt, die bestätigen, dass diese Koryphäen der liberalen Demokratie die Verteidigung der Rechte sehr selektiv auslegen: Besorgt um das Schicksal von Rechten aller Art, haben sie in den letzten Monaten kein einziges Wort des Protests gegen die systematischen Verbote von Demonstrationen zur Unterstützung Palästinas und gegen den Völkermord an einem Volk im Live-Fernsehen gesagt.

Übersetzung aus dem Italienischen: Daniel Bratanovic

Stefano G. Azzarà lehrt an der Universität ­Urbino Geschichte der Philosophie.

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  • Leserbrief von Joachim Seider aus Berlin (16. Oktober 2024 um 11:15 Uhr)
    Es ist etwa einhundert Jahre her, dass einflussreiche politische Kräfte in Europa und breite Kreise der Bevölkerung der trügerischen Meinung waren, der Faschismus sei nicht besonders ernst zu nehmen. Die gerade in Italien und Deutschland an die Macht gekommenen Faschisten würden ohnehin bald abgewirtschaftet haben. Ein Blick ins Geschichtsbuch zeigt, dass das ein katastrophaler Irrtum war, dem eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte folgte.
    Insofern sind Azzaras Feststellungen mit einiger Vorsicht zu genießen, dass »weder in Italien noch anderswo eine faschistische Gefahr im klassischen Sinne« bestehe und es lediglich »das Mitte-Links-Lager« sei, das »die Angst vor einem autoritären Wandel des Landes, bisweilen sogar die vor einer Rückkehr des Faschismus« beschwöre.
    Das verniedlicht die Gefahren erheblich, die durch die deutlich zunehmenden Kräfte profaschistischer und faschistischer Bewegungen in fast allen westeuropäischen Ländern und den USA bereits entstanden sind und die sich weiter entfalten. Wie weit sind Trumps Gedanken von der Exklusivität der eigenen nationalen Interessen eigentlich noch von der Gedankenwelt jener entfernt, die in den 30er Jahren in Deutschland, Italien oder Spanien an die Macht kamen? Erinnert die Verwandlung der Lüge in »alternative Fakten« wirklich nicht an Bedrohliches aus Goebbels’scher Propaganda? Sind die fortschreitende Einschränkung von Bürgerrechten und die demonstrative Ausgrenzung von Minderheiten und Migranten wirklich nur ein leicht zu übersehender Lapsus gegenwärtiger Politik?
    Wie kommt Azzara zu dieser Unterschätzung der Gefahren, obwohl doch seine Analyse in vielen Punkten durchaus zutreffend ist? Beispielsweise beschreibt er genau, dass die politischen Auseinandersetzungen in Italien Ausdruck der Existenz »zweier sozialer Blöcke« sind, die »von den beiden wirtschaftlichen Fraktionen des italienischen Kapitalismus« angeführt werden, dem »dominanten, stärker in die globalen Wertschöpfungsketten integrierten« Kapital und dem »untergeordneten, stärker territorialen und von der Globalisierung geschädigten«. »Die beiden Lager teilen sich das Terrain des neoliberalen Staates«, stellt er richtig fest, um anschließend diese absolut richtige Spur zu verlassen. Denn dass gerade daher der Faschismus stammen könnte, worin er wurzele und wer ein riesiges ökonomisch begründetes Interesse an faschistischer Herrschaft haben könnte, interessiert ihn plötzlich überhaupt nicht mehr. Stattdessen verliert er sich in einer Diskussion über bürgerlichen Liberalismus und bürgerliche Demokratie und spricht faktisch die »moderne Demokratie des 20. Jahrhunderts« heilig. Er kommt dabei überhaupt nicht auf den Gedanken, dass diese so gepriesene »moderne« Demokratie nichts anderes ist, als eine historisch konkrete Form der Klassenherrschaft – veränder – und wandelbar nach dem Gusto der Herrschenden.
    Natürlich war die von ihm gelobte parlamentarische Demokratie ein gewaltiger Fortschritt in der Entwicklungsgeschichte der Herrschaftsformen, war es doch nunmehr möglich, Interessengegensätze zwischen verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klassen auf geregeltere und kulturvollere Weise gegeneinander abzuwägen. Und natürlich war es von großem Wert, dass die parlamentarische Demokratie auch der Entfaltung der politischen Kämpfe der Beherrschten neue Spielräume verschaffte. Weil er davon abstrahiert, dass diese Demokratie noch längst keine Herrschaft des Volkes über seine Lebensumstände, sondern lediglich eine elegantere Form der Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit der Gesellschaft ist, versteht Azzara den Faschismus auch nicht von seinem Wesen, sondern von äußeren Erscheinungsformen her. Weil die heute erkennbaren Erscheinungsformen noch nicht völlig den gewohnten Mustern der Vergangenheit entsprechen, verwandelt sich der Faschismus bei ihm unter der Hand aus einer im Wesen des Kapitals wurzelnden Gefahr lediglich in eine Variante eines »Kulturkampfes«.
    Man kann deshalb nicht oft und laut genug an die Charakterisierung des Faschismus als »die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten und am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« erinnern, wie sie 1935 vorgenommen wurde. Es ist genau dieses Finanzkapital, das in den vergangenen Jahrzehnten eine stürmische Entwicklung genommen hat. Es ist heute durchaus in der Lage und in Teilen schon bereit, die ihm überflüssig vorkommenden Regeln der parlamentarischen Demokratie einfach hinwegzufegen, wenn es sich von ihnen beim Streben nach immer höheren Profiten gestört fühlt. Donald Trump hat am Ende seiner damaligen Amtszeit vorgemacht, wie verletzlich die so hochgepriesenen »stabilen« Institutionen der »westlichen Demokratie« in Wirklichkeit sind. Frau Faeser zeigt jeden Tag aufs Neue, wie leicht es ist, grundgesetzlich garantierte demokratische Rechte ohne großen Widerstand der Gesellschaft zu schleifen. Die Diskussion um Migration und Migranten zeigt, wie dünn die Haut ist, die die moderne Gesellschaft von der Barbarei trennt. Und die Fixierung heutiger Politik in Deutschland und der EU auf Rüstung, Konfrontation und Krieg sollte uns dringend gemahnen, in den Geschichtsbüchern nachzuschlagen, was beispielsweise in Deutschland zwischen 1933 und 1939 geschah. Der Zweite Weltkrieg fiel schließlich nicht vom Himmel. Er wurde über Jahre zielstrebig vorbereitet. Auch heute agieren Pistorius, Strack-Zimmermann, Hofreiter oder Kiesewetter durchaus nicht im Geheimen. Ob es nützlich ist, angesichts all dessen davon auszugehen, dass »Opportunismus, Improvisation und Dilettantismus im kulturellen Bereich« bei den Herrschenden »ein unüberwindbares Hindernis für die …Rechte« sein werden, darf bezweifelt werden. Eine solche Parole klingt viel zu sehr nach dem naiven »es wird schon nicht so schlimm kommen« aus dem Deutschland von 1933.
  • Leserbrief von Doris Prato (14. Oktober 2024 um 10:31 Uhr)
    In diesem Beitrag fehlt vor allem eine klare Aussage, dass der Faschismus bei unterschiedlich gewordenen Bedingungen unverändert die reaktionärste Form der Herrschaft des Kapitals ist. Zu dieser Form greift er, wenn die Gefahr entsteht, dass die Kräfte des heutigen neoliberalen System seine Herrschaft mit den herkömmlichen Mitteln nicht mehr gewährleisten können oder gar ein Sieg der sozialdemokratisch dominierten Linken Mitte droht. Das war so, als Berlusconi 1994 von der faschistischen Putschloge P2 an die Macht gehievt wurde, und wiederholte sich 2022, als der frühere EZB-Chef Mario Draghi als Regierungschef dieses System zurücktreten musste und offen Georgia Meloni in ihrem Wahlkampf unterstützte. Draghi scheiterte an der EU-NATO-Unterstützung der Ukraine, gegen die der Chef der Fünf Sterne-Bewegung (M5S), Ex-Premier Giuseppe Conte, offen verurteilte.
    Inzwischen ist die internationale Position Melonis so stark, dass sie die Kandidatur ihres Parteifreundes, Gabriele Fitto, zum wichtigsten Vize der EU-Kommission durchgesetzt hat, was den rechtsextremen Kurs der Union stärkt. Von einer „untergeordneten Rolle“ der Rechten oder dass der Faschismus „seine konterrevolutionären und antikommunistischen politischen Merkmale verliert“, kann da wohl keine Rede sei. Denn mit Fitto kommt ein tatsächlich waschechter Faschist nach Brüssel. 2008 war er in Berlusconis 3. Regierung zusammen mit Meloni Minister und vertrat mit ihr den von Lega-Führer Umberto Bossi verfolgten Rassismus, zu dessen Durchsetzung der im Wahlkampf gefordert hatte, illegale Einwanderer in Lager zu sperren und bedauert hatte, es sei leider „leichter sei, Ratten zu vernichten als Zigeuner auszurotten“ (Süddeutsche Zeitung vom 16. 4. 2008). 
    Die im Schlepptau der EU agierenden Kapitalkreise beunruhigt, dass der Widerstand gegen die Unterstützung der Ukraine mit den Gefahren eines dritten Weltkrieges durch die Regierung wächst, wie die jüngsten Aktionen der Friedenskräfte in Pisa und an anderen Orten zeigten, bei denen darauf verwiesen wurde, dass sich in der Kriegsfrage die typische am Faschismus orientierte Haltung der Meloni-Regierung zeigt.
    Wenn bürgerliche Medien wie La Repubblica diese Gefahr ansprechen, dann befürchten sie, es könnte Mitte Links gelingen, Meloni zu stürzen, was auch möglich ist, wenn das von der Sekretärin des sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) verfolgte „breite Lager“ der Opposition gemeinsam antritt. Der Erfolg bei den Regionalwahlen im Februar dieses Jahres auf Sardiniern, wo die Kandidatin der M5S, die gemeinsam mit der PD aufgestellt wurde, siegte, hat das gezeigt. Und seitdem zieht Meloni mit einer ganzen Serie von Gesetzen und Maßnahmen zur verschärften Repression die Daumenschrauben an. Gerade hat sie ein Gesetz aus Mussolinis Zeit zur Unterdrückung des wachsenden Widerstandes gegen ihren faschistischen Kurs an den Schulen in Kraft gesetzt.
    Mit Blick auf den PD, der an die Regierung will, um zu beweisen, dass er die Interessen des Kapitals besser vertreten kann, ist an Antonio Gramsci zu erinnern, der in seiner antifaschistischen Bündniskonzeption (Historischer Block) betonte, dass die bürgerlichen Partner „eigene politische Ziele verfolgen“, was Zugeständnisse erfordere. Auch ein Aspekt, der in dem Beitrag keine Rolle spielt.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (11. Oktober 2024 um 23:48 Uhr)
    Dieser nicht ganz leicht verdauliche Beitrag bringt nach meiner Auffassung einen wesentlichen Aspekt ans Licht: Nicht alles ist Faschismus. Man muss genau hinschauen und voreilige Schlüsse vermeiden. Dabei spielt der Begriff »postmoderne bonapartistische Demokratie« eine wichtige Rolle. Ich neige dazu, von »autoritärem Kapitalismus« zu sprechen, denn damit kann man die derzeitige Entwicklung des Wertewestens - nicht nur Italiens - kurz und knackig kennzeichnen. Ob es den Herrschenden gelingt, damit ihre Hegemonie zu sichern, wird man sehen. Ob sich Massenbewegungen entwickeln, wie sie für Faschismus notwendig und kennzeichnend sind, wird man auch sehen müssen. Speziell unter diesem Aspekt betrachte ich den Beitrag: Eine wirklich faschistische Massenbewegung existiert derzeit (nicht nur) in Italien nicht. Das bedeutet keine Entwarnung, denn der Schoss ist fruchtbar noch.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (14. Oktober 2024 um 12:06 Uhr)
      Das Wesen des Faschismus wird durch die Herrschaft der reaktionärsten und am meisten chauvinistischen Teile des Finanzkapitals bestimmt. Dort muss man suchen, wenn man herausfinden will, was er ist. Und nicht vorrangig bei den Erscheinungen seiner politischen Formen. Seine Kraft kommt aus seinen Wurzeln, nicht aus den Blüten, die er treibt.

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