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Aus: Ausgabe vom 12.10.2024, Seite 1 (Beilage) / Wochenendbeilage
Sozialismus in den USA

»Wir brauchen keine Imperien«

Politik zugunsten der Arbeiter und eine Außenpolitik auf der Grundlage der Solidarität. Was wäre, wenn der Sozialismus in den USA obsiegte? Ein Gespräch mit Claudia De la Cruz
Interview: Alex Favalli
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Warum nicht mal für echte Veränderungen stimmen? Aktivisten der Party of Socialism and Liberation

In den USA gibt es de facto ein Zweiparteiensystem, das kleineren Parteien praktisch keine Chance lässt. Warum treten Sie als Kandidatin der Party for Socialism and Liberation zu den US-Präsidentschaftswahlen an?

Wir kandidieren in der Tradition der Sozialisten der Vereinigten Staaten. Die beiden großen Parteien repräsentierten von Beginn an zwei Segmente der herrschenden Klasse. Die Arbeiterklasse hatte indes nie so recht eine Partei, die ihre Interessen vertrat. Wir kandidieren, um die Interessen derjenigen zu vertreten, die sich im Kampf befinden. Wir wollen sie in die Lage versetzen, den politischen Diskurs der herrschenden Klasse zu stören. Und selbstverständlich wollen wir eine echte Partei der Arbeiterklasse aufbauen. Die Party for Socialism and Liberation, PSL, gibt es seit 20 Jahren, unser Ziel ist eine sozialistische Gesellschaft. Wir streben dies an in dem Bewusstsein, dass das, was wir brauchen, nicht das ist, was wir haben, und dass es dringend notwendig ist, eine politische Partei aufzubauen, die sowohl in den sozialen Bewegungen verwurzelt und eingebettet wie auch auf der Wahlbühne vertreten ist.

Ist dies ein historisch guter Zeitpunkt, die Sache des Sozialismus voranzubringen?

Es ist der beste Zeitpunkt. Wir haben es mit einem historischen Moment zu tun. Die Menschen haben genug vom Verrat der beiden herrschenden Klassenparteien, nicht zuletzt in einer Zeit, in der wir Zeugen eines Völkermords werden. Die Menschen haben die Realität des Kolonialismus und des US-Imperiums in Palästina erkannt. Die Notwendigkeit besteht jetzt, ein neues System zu etablieren, und genau hier setzt unsere Kampagne an. Unser Vorschlag lautet, eine Gesellschaft aufzubauen, in der alles, was wir als Arbeiterklasse produzieren, auch uns als Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land zugute kommt. Darüber hinaus gilt es, eine Außenpolitik zu entwickeln, die auf Solidarität und auf der Achtung der Souveränität anderer Nationen beruht. Ich denke, es hat einen Bewusstseinswandel gegeben. Die Menschen haben verstanden, dass die Regierung und die anderen Bereiche der staatlichen Macht die eigenen Wähler vernachlässigen.

Ein Erfolg bei den US-Wahlen hängt in stärkstem Maße davon ab, wer wie viel Geld mobilisieren kann. Wie finanziert sich die Kampagne der PSL?

Wir haben keine Konzerne oder Wall-Street-Banker, die uns finanziell unterstützen. Unsere Kampagne wird vollständig von kleinen Spendern getragen. Die Leute, die für die Kampagne spenden, sind Busfahrer, Kassierer, Arbeitslose, Studenten. Unsere Wahlkampagne wird von Angehörigen der Arbeiterklasse finanziert. Das Wahlsystem ist allerdings so konzipiert, dass man automatisch von jeder Möglichkeit ausgeschlossen wird, auf den Wahlzetteln zu erscheinen, wenn man kein Millionär ist. Wir fordern die sogenannte Demokratie der herrschenden Klasse heraus. Menschen, die sich freiwillig an der Kampagne beteiligen, sollen die Heuchelei der herrschenden Demokratie erkennen. Unsere Leute fragen sich, warum wir 10.000 Unterschriften sammeln müssen, um wählbar zu sein. Warum müssen wir durch all diese bürokratischen Schlupflöcher gehen, um als Alternative auf dem Stimmzettel zu erscheinen? Was für eine Art von Demokratie ist das? Mit unserer Kampagne sehen die vielen Freiwilligen mit eigenen Augen, wie die Demokratie in diesem Land gekauft und verkauft wird und dass sie nicht dem Volk gehört. Wir müssen für unser Wahlrecht und für die wirtschaftliche und politische Demokratie kämpfen.

58 Prozent der lohnabhängigen US-Amerikaner haben am Monatsende nichts mehr übrig. Das ist ein erhebliches Wählerpotential für Sie.

Wenn wir darüber sprechen, wie der kapitalistische Apparat funktioniert, müssen wir uns daran erinnern, dass er jede einzelne Institution kontrolliert. Von dem Moment an, in dem wir in eine kapitalistische Gesellschaft hineingeboren werden, wird uns gesagt, dass die einzigen Optionen diejenigen sind, die dieses System zu bieten hat. Wir müssen innerhalb dieses Systems arbeiten und agieren. Politisches Verhalten bedeutet nach Logik dieses Systems, seine Stimme abzugeben, um Autorität und Macht an diejenigen zu delegieren, die angeblich unsere Probleme lösen, weil uns schließlich auch beigebracht wird, dass wir nicht die Macht oder die Fähigkeit haben, sie zu lösen. Diejenigen von uns, die es gewagt haben, diese Logik in Frage zu stellen, wurden in der Vergangenheit angegriffen, inhaftiert, ihre Organisationen enthauptet. Kurzum, wir sind darauf konditioniert, gegen unsere eigenen Interessen zu handeln. Dies war eine der wichtigsten Feststellungen von Antonio Gramsci im faschistischen Italien.

Im derzeitigen Wahlkampf gehen alle von »Vibes« und »Memes« aus. Das ist verrückt. Niemand interessiert sich für die Bilanz von Kamala Harris oder Donald Trump. Was sie für Menschen aus der Arbeiterklasse getan oder nicht getan haben, ist keine Frage, die man uns zu stellen lehrt. Uns wird nicht beigebracht zu fragen, auf welche Weise sie sich international verhalten, die für den Rest der Arbeiterklasse weltweit schädlich ist. Was uns beigebracht wird, ist die Frage, ob wir uns vorstellen können, mit dem Präsidentschaftskandidaten ein Bier zu trinken oder ihn auf einer Party zu treffen. Alles spielt sich auf einer kulturellen Ebene ab, auf einer sehr emotionalen Ebene und nicht auf einer materiellen Ebene. Von materiellen Veränderungen zugunsten der Bevölkerung ist da ohnehin selten die Rede. Wir verstehen, dass viele Menschen mit dem Virus des Kapitalismus infiziert sind und daher in vielerlei Hinsicht nicht klar denken oder sehen können, was ihre Interessen sind und wie sie den Kapitalismus bekämpfen können.

Als Sozialisten besteht unsere größte Aufgabe darin, unsere Leute zu einem anderen Denken zu bewegen, und das ist ein Kampf um Ideen und Gefühle. Wir wollen verstehen, warum unsere Leute tun, was sie tun, und zwar auf eine Art und Weise, die sie nicht entfremdet oder ihnen das Gefühl gibt, dass sie für etwas verurteilt werden, was sie nicht wissen. Ich denke, es muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, und es muss viel organisiert werden. Die Realität ist, dass 160 Millionen Menschen in einem Land mit 330 Millionen Einwohnern am Rande der oder in Armut leben. Die Menschen müssen sich entscheiden, ob sie eine Arztrechnung bezahlen oder Lebensmittel kaufen wollen. Dennoch wird uns gesagt, dass die beiden großen Parteien unsere Probleme irgendwie lösen werden.

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Von Kamala Harris wird behauptet, sie habe die Freude zurück ins Land gebracht …

In Kalifornien hat sie nichtweiße Mütter buchstäblich kriminalisiert und sie ins Gefängnis gesteckt, weil ihre Kinder nicht zur Schule gegangen sind. Viele der Gründe, warum unsere Kinder nicht zur Schule gehen, haben nichts damit zu tun, dass die Eltern nicht verantwortungsbewusst sind. Es hat alles mit den materiellen Bedingungen der Familien zu tun: Wie lässt sich ernsthaft von Freude sprechen, wenn man kein Essen kaufen kann? Wie können Menschen Freude empfinden, wenn sie keinen Zugang zu Bildung haben? Auch hier brauchen wir eine kritische Analyse dessen, was es wirklich bedeutet, fröhlich zu sein. Die Freude, von der hier gesprochen wird, ist nichts anderes als eine oberflächliche Definition von Freude.

Ihr vorrangiges Ziel ist der »revolutionäre Sturz des Kapitalismus«. Glauben Sie, dass dies durch Wahlen allein erreicht werden kann?

Ich bin mir sicher, dass wir dieses Ziel nicht durch Wahlen erreichen können. Es hat noch nie einen Prozess gegeben, bei dem die Menschen bloß infolge von Wahlen etwas gewonnen haben. Wahlen sind Bestandteil der Demokratie, aber sie sind nur ein kleiner Teil der Politik. Die Macht der Bevölkerung muss aufgebaut werden, und das geht nur durch Organisierung, Mobilisierung und Aktivität in den Communitys. Wir müssen auf der Straße sein, bei den Menschen, die leiden. Wir müssen die Wut, die die Menschen empfinden, bündeln, was im übrigen die Rechte bisher sehr gut gemacht hat. Sie organisiert die Wut der Menschen gegen ihre eigenen Interessen.

Wir müssen verstehen, wie die Menschen zu sozialistischer Politik stehen. Gleichzeitig müssen wir aber auch den Diskurs nach links verschieben. Die Mobilisierung von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt hat beispielsweise dafür gesorgt, dass über die mörderischen Vorgänge in Gaza gesprochen wird. Sie müssen das Thema jetzt behandeln, auf welche Weise auch immer. Dafür haben die Menschen gesorgt, die einen Waffenstillstand in Nahost und ein Waffenembargo gegen Israel fordern. Das heißt nicht, dass es passieren wird, aber zumindest müssen sie anerkennen, dass sie die Unterstützung der eigenen Bevölkerung verloren haben, weil sie nicht auf die Forderungen der Menschen eingegangen sind. Das geschieht nicht an den Wahlurnen, sondern indem die Menschen auf die Straße gehen. Die Gewerkschaften wiederum wissen, welche Macht die Niederlegung der Arbeit hat. Das ist ein Übungsfeld für uns, um Politik und Demokratie und die Macht, die wir haben, besser zu verstehen. Wir haben von der herrschenden Klasse nie etwas geschenkt bekommen. Alles, was wir haben, haben wir uns erkämpft, und deshalb müssen wir weiter kämpfen.

Sie wollen die 100 größten Unternehmen enteignen und in öffentliches Eigentum überführen. Was passiert dann?

Eines der größten Probleme ist, dass die wirtschaftliche Macht in den Händen einer kleinen Minderheit liegt. Die vier reichsten Menschen der Welt leben in den USA. Diese Menschen besitzen mehr als eine Mehrheit der Menschen rund um den Globus zusammen. Allein Jeff Bezos hat im letzten Jahr 7,9 Millionen US-Dollar pro Stunde verdient, und ich hasse es, »verdient« zu sagen, weil er dieses Geld den arbeitenden Menschen gestohlen hat, die 15 oder 22 US-Dollar pro Stunde erhalten, um ihre Familien ernähren zu können. Deshalb sage ich den Leuten immer, dass wir uns nur das Eigentum zurückholen, das im Kollektiv geschaffen wurde. Wenn wir von der Enteignung der obersten 100 reden, werden wir die anderen Tausenden in Ruhe lassen, zumindest in den ersten fünf Jahren der Regierung. Wir werden sehen, wie wir die Gesellschaft mit dem Reichtum reorganisieren, den die Konzerne angehäuft haben. Alle haben ein Anrecht auf die grundlegendsten Menschenrechte, die uns vorenthalten werden: Gesundheitsversorgung, Bildung, Wohnen. Wir müssen in der Lage sein, den Profittrieb auszuschalten, wir müssen Entscheidungen darüber treffen, wie der Reichtum kollektiv verteilt werden kann, um den Menschen zu geben, was sie brauchen. Das ist keine Quantenphysik. Die Menschen sollten das Recht haben, zu entscheiden, wie sie diese Unternehmen dazu bringen, für sie zu funktionieren, und wie sie eine neue Technologie, die auf den Markt kommt, nutzen werden. Werden sie die einsetzen, um Menschen zu ersetzen, oder eher nutzen, um den Menschen Lebensqualität zu geben, um ihnen das Leben am Arbeitsplatz zu erleichtern? Das ist nicht radikal oder verrückt, es ist möglich.

Wie würden Sie die Außenpolitik, die Militärausgaben sowie Krieg und Frieden verändern?

Die Rolle, die die NATO in Europa spielt, ist die Rolle, die Israel im Nahen Osten spielt. Beide sind Instrumente zur Ausweitung und Aufrechterhaltung der US-Hegemonie. Und beide sind auch abhängig von der finanziellen Unterstützung der USA. Die Bürger der USA haben eine historische Verantwortung gegenüber dem Rest der Welt, und die besteht darin, das militärische Engagement der Vereinigten Staaten in der ganzen Welt zu beenden. Das bedeutet, die NATO aufzulösen und anderen Ländern die Möglichkeit zu geben, Kooperationen und Solidaritäten ohne US-Intervention aufzubauen. Souveränität und Unabhängigkeit sollten unveräußerliche Rechte der Staaten sein. Außenpolitik gegenüber China und Russland, wie wir sie verstehen, beruht auf dem Verständnis, dass jeder Nationalstaat Verantwortung für seine Bürger trägt und das Recht hat, seine wirtschaftlichen und politischen Projekte so zu entwickeln, wie er es für richtig hält. Unsere Verantwortung unter einer sozialistischen US-Regierung würde im Aufbau eines solidarischen Umgangs der Staaten untereinander bestehen, um so auch von den je unterschiedlichen Prozessen der Länder zu lernen. Etwa wie China es geschafft hat, seine Bevölkerung aus der Armut zu holen. Wie haben sie die Gesellschaft so organisiert, dass sie ein Krankenhaus in zehn Tagen errichten können? Warum sollten wir nicht von diesem Land lernen und ihm die Möglichkeit geben, sich zu entwickeln, anstatt ihm mit einer aggressiven Haltung zu begegnen?

In der Außenpolitik, wie wir sie verstehen, geht es um Zusammenarbeit, darum, die Wirtschaft und die Politik anderer Länder zu unterstützen. Wir sind gegen Sanktionen und Blockaden als Instrumente des Krieges: Kuba leidet seit mehr als 60 Jahren unter dem US-Embargo, und die Regierung der Vereinigten Staaten stiehlt der kubanischen Wirtschaft täglich 15 Millionen US-Dollar. Die USA sind ein Imperium. Das muss beendet werden. Die weltweit rund 800 US-Militärstützpunkte müssen aufgegeben werden. Die derzeitige Außenpolitik der USA beruht auf Hegemonie und Zerstörung, um der Aufrechterhaltung ihres Imperiums willen. Wir brauchen keine Imperien, sondern Nationalstaaten, die stark sind, die zusammenarbeiten und die eine Gesellschaft aufbauen, die es der Menschheit ermöglicht, zu gedeihen und den Planeten zu erhalten.

Claudia De la Cruz ist die Kandidatin der linken Party for Socialism and Liberation für die US-Präsidentschaftswahlen im November

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