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Aus: Ausgabe vom 14.10.2024, Seite 10 / Feuilleton
DDR

»Aus Prinzip nicht abgeholt«

Baustelle und Sperrzone: Die Ausstellung »Zwischen Aufbruch und Abwicklung: Die 90er in Leipzig«
Von Ken Merten
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Leipziger Urbanismo: Eine Stadt der Freiräume und der kulturvollen Lebensart

Leipzig, postapokalyptisch: »Die verflixten Neunziger – wer sitzt noch ein oder starb eine Farce?«, fragte Rapper und Lokalmatadore Morlockk Dilemma auf seinem letzten Album »Am Grund« (2023). Auch das stadthistorische Museum hat sich mit der letzten Dekade des vergangenen Jahrhunderts beschäftigt und nun mit der Ausstellung »Zwischen Aufbruch und Abwicklung: Die 90er in Leipzig« sein Haus am Böttchergäßchen gefüllt.

Kapitalistische Restauration

Mit Bauzäunen wird dabei der Raum gleichsam strukturiert, die Wandfläche zum Behängen erweitert und das Thema illustriert: Die ostdeutsche Stadt als Baustelle und Sperrzone. Leipzig sei »Stadt der Freiräume und der kulturvollen Lebensart«, be-O-tont Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) die Ausstellung in drolligem Phantasiedeutsch in der Pressemappe und fügt den von Springer gepushten Schlachtruf »Leipzig kommt!« an. Aber wovor rennt die Stadt weg, und wann ist sie da, fragt man sich. Das Motto wird seit nunmehr 31 Jahren bemüht. »Die Kampagne rief in einer Zeit langsamer Wirtschaftsentwicklung aber auch Spott und Widerspruch hervor«, heißt es auf einer der Infotafeln. Ein netter Hinweis, der wie so oft nur an-, aber nicht ausgeführt wird. Vielleicht geben die Videoinstallationen mehr Kritik an der kapitalistischen Restauration wieder, mir war es zu doof, an einem gutbesuchten Sonnabend ständig für Kopfhörer anzustehen. Wer aber noch mehr Worte von Zeitzeugen möchte, mopse sich eine der dort ausgelegten Broschüren »Unsere 90er: Blickwinkel aus Leipzig«. Das Oral-History-Projekt hält einige interessante Zitate parat, unter den ausgewählten Interviewten findet sich allerdings kein Desavourierter; Geschichten von Kaputtgemachten konterkarrieren nur unangenehm das Aufstiegsmärchen samt der »kulturvollen Laune«.

Schließlich will man die eigene Werbung nicht beschädigen: Das postsozialistische Leipzig wird grundsätzlich als Erfolgsgeschichte gezeigt, in die zu investieren Spaß macht, wer investieren kann. Alles andere ist Nebenwiderspruch: Der Protest von Leipzigerinnen, die sich als Neu-BRD-Bürgerinnen plötzlich mit dem Schwangerschaftsabbruchparagraphen 218 konfrontiert sahen, findet ikonografischen Einzug, wird aber nicht kontextualisiert. Die Zunahme von Gewaltdelikten wird angeführt, nicht aber der Vergleich zur DDR gezogen. Vielleicht, weil man sie hier nicht verteufeln kann.

Sonst ist sie oft schuld: »Rassistische Übergriffe wurden selten verfolgt«, heißt es über den Umgang der DDR mit rechten Umtrieben. Die Behauptung eines Laissez-faire-Sozialismus mit falschem, weil Antifaschismus via Staatsdoktrin, befindet sich in einer sonst beachtenswerten Ecke: Die Liste von Opfern faschistischer Gewalt seit 1990 umfasst auch von der BRD nicht anerkannte Fälle. Geht es um die »Baseballschlägerjahre«, wird die sogenannte akzeptierende Jugendarbeit nicht ausgespart; bebildert von Bertram Kober wird zumindest pro­blematisiert, was dem braunen Nachwuchsterror staatlich finanziertes Obdach gab. Aber natürlich darf nicht fehlen, ohne quantitative wie qualitative Einordnung anzuführen, dass neben tödlicher rechter und Polizeigewalt in jenem Jahrzehnt »linksradikale und unpolitische Gewalt« ebenso »zum Alltag« gehörte.

Klebepünktchen

Die lupenrein friedlich zupackende Treuhand wird rhetorisch befragt: »›Plattgemacht‹ oder erfolgreich privatisiert?« Denn Demokratie ist, wenn man im Elend Fragen stellen darf. Bilder und Zeugnisse sozialer Proteste, wie der früh einsetzenden Montagsdemos, haben Einzug in die Ausstellung gefunden, ebenso kleine und große Schätze; darunter (leider nur als Fotografie, nicht als Original) das Modell von Leipzig-Plagwitz mit Skyline. Ein bayerischer Unternehmer wollte 1997 im Stadtteil Wolkenkratzer pflanzen. Leider nein, leider gar nicht. Außerdem darf man noch einmal vor den Tresen des legendären Technoschuppens »Distillery« treten, der vergangenes Jahr netterweise weggentrifiziert wurde, weshalb man sein herausgeschnittenes Herzstück nun hier beäugen kann. Und: Die vom meschuggenen Friedreich Hundertwasser entworfene Boxrobe, die Henry Maske (die Pressemitteilung zur Ausstellung hat hingegen einen »Henri Maske« im Sinn) 1996 beim Einlaufen zum Titelkampf gegen den US-Amerikaner John Scully trug. Sonst: Den Demokratiekindergarten, für den man damals ganz bestimmt auf die Straße gegangen ist, gibt es auch hier, wenn man mit Klebepünktchen angeben kann, ob man die Leipzscher 90er selbst erlebt hat oder nicht; man darf auch Zettelchen schreiben und in der Rubrik »Das habe ich von meinem ersten Westgeld gekauft«, klebte einzig ein Short-Story-Genie folgende Hemingwaysche Kurzprosa an die dafür aufgestellte Kiste: »meine Eltern haben das Begrüßungsgeld aus Prinzip nicht abgeholt :/«. Sachen gibt’s.

Queere Stadtgeschichten

Prominent, weil weit vorn in der Schau placiert, sind feministische und Queerpolitik vor und nach dem, was in der Ausstellung als »Friedliche Revolution« begriffen wird. Darunter findet sich das Selbstverständnis des 1982 gegründeten »Arbeitskreis Homosexualität der Evangelischen Studentengemeinde«, nebst dem Bericht einer Inoffiziellen Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit, deren Enttäuschung man durchaus ernst nehmen kann, wenn sie anmerkt, dass bei den allen offenstehenden Treffen nicht »auf frauenspezifische Probleme« eingegangen wird, obwohl das Thema angekündigt worden sei. Die durchaus auch von einer historisch einzuordnenden kleinbürgerlichen Prüderie getriebene Privatisierung der Sexualität schuf in der DDR durchaus Widersprüche, denen sich andere anzunehmen suchten. Es ist Quatsch, das von der bundesdeutschen Ideologieapparatur zu fordern – aber eine differenzierte, mit dem Westen abgeglichene Betrachtung wäre hier den Ausstellerinnen und Ausstellern gelungen, wenn man etwa Ronald M. Schernikaus »Die Tage in L.« zur Hand genommen hätte, der da über seine Erfahrungen mit dem Arbeitskreis schrieb: »die schwulengruppe tagt, genau wie in hannover, in den räumen der evangelischen studentengemeinde. – ein bleicher dicker junge hält einen vortrag darüber, wie schön es im alten griechenland war. (…) der bleiche dicke junge macht zu anfang seines vortrags auf den klassencharakter der moral aufmerksam, auf die ökonomischen verhältnisse, die dieser freiheit für wenige zugrunde liegt, und ob es eine freiheit sei, sei noch die frage. – wenn man diesen jungen fragen würde, ob er marxist ist, würde er sagen: marxist? ich? wieso?«

Etwas, aber leider nur etwas über nichtheterosexuelle Liebe in der DDR erfährt man noch bis 6. Oktober im Keller des Hauses: In der vor allem mit Tonaufnahmen kuratierten Ausstellung »›SPÜRT IHR MEINE FREUDE / HÖRT IHR DAS GEWITTER?‹ Queere Stadtgeschichten aus Leipzig« kann man einer lesbischen Pflegerin zuhören, wie sie von ihrer ersten Liebe Mitte der 70er berichtet.

»Zwischen Aufbruch und Abwicklung: Die 90er in Leipzig«. Sonderausstellung, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Haus Böttchergäßchen, Böttchergäßchen 3, 04109 Leipzig, bis 7. September 2025

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