Die Show muss weitergehen
Von Norman PhilippenConor Obersts Weltschmerz nüchtern anzuhören ist eigentlich fahrlässig. Zumindest für trockene Rezensenten, die sich zuverlässig schon nach Song eins in einen Pool voll Grauburgunder wünschen, in dem sie untenauf schwimmen. Weil ja, da hat er Strophe für Strophe so oft ganz recht, die Gesamtscheiße, die man Leben nennt, doch so herzverwundend wunderschön zum Kaputtgehen ist, dass zum Auftauchen, um Luft zu holen, vorsätzlich der Atem fehlt. Zu hübsch hässlich ließ sich 2005 das Meilensteinalbum aller vor Lebenshunger müdgewordenen Missmutigen »I’m Wide Awake, It’s Morning« an, als dass man sich nicht ins mit Weinflaschen möblierte (Studenten-)Zimmerchen zurückwünschte, in dem sich noch, die Augen schön, die Seele und Hose speckig, davon träumen ließ, nicht 45 werden zu müssen.
Ein halbes Dutzend Bright-Eyes-Alben später hat es aber immerhin schon zum vierten Titel von »Five Dice, All Threes« geschafft, wer – »Shamrock on a jacket, dropped into a casket, baby that’s no way to die / I never thought I’d see 45, how is it that I’m still alive?« – sich mit Oberst fragen darf, warum und zu welchem Ende man morgens immerzu noch aufwacht. Dabei ist die Antwort eine leichte: Weil man noch am Leben ist und es wohl ganz gerne noch bleiben mag. Oder einfach, weil – »Then they found you in the morning hanging from an extension chord« (»El Capitan«) – nichts da ist, was den verbliebenen Lieben irgendwie zuzumuten wäre.
Also weitermachen, den Bright Eyes den albernen Ausflug ins pompös Orchestrale ihrer letzten Veröffentlichung »Down In The Weeds, Where The World Once Was« (2020) nachsehen und feststellen, dass Am-Leben-Sein mindestens so schön sein kann, wie fünf Würfel würfeln, von denen alle die Drei anzeigen. Ein mittelmäßiges Dasein ist schließlich allemal lebenswerter, als sich der vermaledeiten »Mitte der Gesellschaft« zugehörig zu fühlen. So wie »Five Dice, All Threes« hörenswerter erscheint als alles, was die seit demnächst 30 Jahren an der Existenz zwar leidenden, aber – traurig klingt der Schlussakkord in Moll, jedoch: Die Show muss weitergehen, auf Wiedersehn! – noch für manch melancholischen Augenaufschlag taugenden Bright Eyes so in der Welten Stream schicken.
Das hört sich, Lyrics zum Selbsttotmachen hin und her, zunächst sogar erstaunlich beschwingt an. Ab Song fünf dann gewohnt weniger. Und, das scheint derzeit so ein (vielleicht noch als Nachwehe der erzwungenen Coronabühnenabsenz erklärliches) Ding zu sein, klingt so, als stünde die Band live auf der Bühne. Was in diesem Falle dem Album sehr schön, gar »bright«, ansteht. So wie es tendenzsuizidalen Stubenhockern bei Anrufen vielleicht verbliebener Freunde als Ausrede dienen kann, nicht mit auf ein Konzert gehen zu müssen. Den freundlich Besorgten am anderen Ende der Leitung liefert Oberst mit »Tiny Suicides« auch gleich noch die alle Besorgnis sicher ausräumende Zeile mit: »Nah, I don’t drink much, just the cold stuff.« Sollten die dann von den ständigen, affektierten englischen Zitaten genervt sein, könnten sie antworten: »Es ist an der Zeit, die Zeche zu zahlen, du musst der erste in der Schlange sein. / Oh, sie verbrennen also ein Bildnis von dir, das passiert mir auch ständig.« Mit »Wie auch immer« antworten, auflegen, zwecks Konzertersatzfun eine Fanta aufmachen, ein Mentos klinken, fünf Würfel werfen und »Yatzy« rufen kann dann immer noch, wer vom Leben zu ernüchtert ist, um das pisswarm kalte Zeug nicht austrinken zu wollen. Dazu liefern die Bright Eyes mit ihrem neuen Album wenigstens wieder eine gute Grundlage. Fazit: »Cheap thrills cost a lot.« Hauptsache »the band sounds like an animal«. Wenn auch wieder wie ein waidwundes. Schönste Zeilen: »Jesus dies in a cage fight / Elon Musk in virgin whites / I kill him in an alley over five dice / … You were so beautiful before, until you weren’t.«
Bright Eyes: »Five Dice, All Threes« (Dead Oceans)
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