Verwischte Erinnerung
Von Reinhard LauterbachIvan Katchanovski ist für alle, die sich mit dem sogenannten Euromaidan im Winter 2013/14 befassen, seit langem kein Unbekannter mehr. Der in Kanada lehrende Politikwissenschaftler mit ukrainischen Wurzeln hat in einer Vielzahl von Publikationen vor allem den Ablauf der Gewalteskalation im Februar 2014 rekonstruiert, die zum Sturz des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch und zur Machtübernahme durch eine Koalition rechter und vom Westen angeleiteter Kräfte führte.
Charakteristisch für Katchanovskis Arbeitsweise ist die Analyse des in reichem Ausmaß vorliegenden Videomaterials ukrainischer und internationaler Fernsehsender über die bewaffneten Zusammenstöße am Morgen des 20. Februar 2014 und deren Zusammenführung mit der Auswertung der Aussagen von Zeugen. Katchanovski hat sich mit dieser kleinteiligen Arbeit einen Namen als führender »Maidan-Revisionist« gemacht – denn seine Ergebnisse zeigen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass die Schüsse auf Polizisten, aber auch in die Reihen der Demonstrierenden in ihrer übergroßen Mehrheit nicht von Vertretern der ukrainischen Staatsmacht abgegeben wurden, sondern von angeheuerten Scharfschützen im Dienste der nationalistischen Scharfmacher auf dem Maidan selbst. »Das Massaker war kein gescheiterter Versuch von seiten der Regierung, die Proteste des Euromaidan zu unterdrücken, sondern eine erfolgreiche False-Flag-Aktion von oligarchischen und rechtsextremen Kräften (…), um den asymmetrischen Konflikt mit der Regierung zu gewinnen und die Macht in der Ukraine zu übernehmen«, ist sich Katchanovski sicher.
In seiner neuesten Publikation fasst Katchanovski die Ergebnisse seiner bisherigen Nachforschungen zusammen und erweitert sie um die Auswertung der Ergebnisse des offiziellen Gerichtsverfahrens, das 2023 abgeschlossen wurde und bei weitem nicht so eindeutig ausfiel, wie es die auffallend spärlichen Berichte in westlichen Medien glauben machen wollten. Katchanovski rekonstruiert und belegt, dass die politische Initiative zur Gewalteskalation in der Nacht zum 20. Februar von Dmitro Jarosch, dem Chef des »Rechten Sektors«, ausging, um eine politische Kompromisslösung zu hintertreiben. Und er zeigt, dass die ersten Schüsse auf Polizisten am 20. Februar kurz nach acht Uhr aus Gebäuden abgegeben wurden, die unter Kontrolle des Euromaidan standen: aus dem Kiewer Konservatorium und dem Hotel »Ukraina« auf der gegenüberliegenden Seite des Unabhängigkeitsplatzes in Kiew. Funkprotokolle der Polizei zeigen, dass diese von den Schüssen vollkommen überrascht war und sich gegen 8.50 Uhr ungeordnet vom Unabhängigkeitsplatz zurückzog. Die meisten Opfer unter den Demonstrierenden wurden gegen oder kurz nach neun Uhr getroffen, und Katchanovski argumentiert, dass es nicht Polizeikräfte gewesen sein können, die sie erschossen haben. Denn die Schusskanäle waren durchgängig zu steil, als dass die Schüsse von Polizisten hätten abgegeben worden sein können, die sich auf derselben Ebene befanden wie die Demonstranten.
Dies alles zeigt Katchanovski Opfer für Opfer, und dadurch weist die Studie unvermeidlich Längen und Wiederholungen auf. Aber was wie positivistische Detailversessenheit anmutet, ist aus der Perspektive des Autors Pflicht: Er weiß natürlich, dass er sich mit seinen Ergebnissen auf vermintes Terrain begibt, und so verweist er an mehreren Stellen auf seine ukrainisch-patriotische Einstellung und den Umstand, dass er in seinen Studentenjahren in der späten Sowjetunion wegen der Thesen seiner auf ukrainisch verfassten Magisterarbeit von der Promotion ausgeschlossen worden sei und seine Studien anschließend im westlichen Ausland habe fortsetzen müssen. Selbst die ausdrückliche Versicherung, dass er für diese Studie von niemandem bezahlt worden sei, fehlt nicht. Und er betont, dass er im Kern nur Zeugenaussagen berücksichtigt habe, die »dem unmittelbaren Interesse des Aussagenden widersprechen«, um evidente Schutzbehauptungen auszuschließen.
Verdienstvoll ist auch, dass sich Katchanovski durch die »eine Million Wörter« des offiziellen Gerichtsurteils zum Maidan-Massaker geackert hat, dem er bescheinigt, auf »betrügerischen forensischen Analysen« zu beruhen, zahlreiche Zeugenaussagen verwundeter Maidan-Aktivisten und veröffentlichtes Videomaterial zu ignorieren und dennoch zu keinem klareren Urteil gekommen zu sein als einer Verurteilung von drei längst in Russland lebenden Offizieren in Abwesenheit. Gesamturteil des Autors: Hier wurde vertuscht und weißgewaschen.
Dass Katchanovski für seine Arbeiten angefeindet wurde, kann man sich denken, obwohl er Dutzende von Osteuropaforschern aus dem englischsprachigen Raum zitiert, die seine Ergebnisse für plausibel erklärt haben. Aus dem deutschen Sprachraum dagegen: Fehlanzeige. Wer die Haltung der offiziösen »Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde« (Vorsitzender: der CDU-Politiker Ruprecht Polenz) zum Ukraine-Konflikt verfolgt, wundert sich darüber nicht. Die offizielle deutsche Wissenschaft hat sich auf die Herstellung von geistiger Kriegsbereitschaft verlegt, und da kann die Beschäftigung mit Forschungsergebnissen wie denen von Katchanovski nur stören. Die Vertuschung hat System: Während ein kritischer Beitrag des WDR-Magazins »Monitor« 2014 noch gesendet werden konnte, ging eine lange, laut Katchanovski »entscheidende« ARD-Aufnahme der Maidan-Szenerie nach Angaben des Autors nie über den Sender. Dass sich etwa auf den einschlägigen Seiten im Onlinelexikon Wikipedia Apologeten des Euromaidan tummeln, wundert da nicht.
Katchanovskis Buch ist zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt frei auf der Verlagsseite im Internet abrufbar. Wer sich jetzt oder künftig faktenbasiert mit den Hintergründen des Euromaidan und der Eskalation in der Ukraine 2014 und danach beschäftigen will, kommt an dieser Studie nicht vorbei und sollte also die Gelegenheit nutzen und sie sich herunterladen, solange das geht.
Ivan Katchanovski: The Maidan Massacre in Ukraine. The Mass Killing that Changed the World. Palgrave Macmillan, London 2024, 266 Seiten, freier PDF-Download unter link.springer.com/book/10.1007/978-3-031-67121-0
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (13. Oktober 2024 um 21:10 Uhr)Vielen Dank für den Hinweis, Herr Lauterbach! Wie lange wird es Katchanovski noch machen? Im Vorwort kündigt er zwei Bücher zum Krieg in der Ukraine an. In Deutschland hätte seine akademische Karriere wohl schlechte Karten.
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