Datenkraken am Pranger
Von Barbara EderDie Bühnengestaltung war nüchtern und nahezu unscheinbar, abseits des Rednerpults gab es kaum Requisiten. In diesem Ambiente wurden am vergangenen Freitag in der Bielefelder »Hechelei« die Big Brother Awards verliehen – vom Verein Digitalcourage vergebene Negativpreise, die Unternehmen, Institutionen und Einzelpersonen für »herausragende Leistungen« im Bereich des Datenmissbrauchs prämieren. Der Orwellsche Alptraum der Totalüberwachung heißt vor Ort nicht »Innovation«, vielmehr warnten Jurorinnen und Jurymitglieder auch in diesem Jahr vor Entwicklungen, die digitale Apparate und ihre Erzeuger zu panoptischen Erziehungsinstanzen in spätkapitalistischen Kontrollgesellschaften machen.
Bislang zählen Konzerne wie Lidl, Telekom und Tchibo zu den Preisträgern, mit ihrer Prämierung geriet die Gefahr des Datenmissbrauchs über Rabattkarten, Scoring-Systeme und Smartphones verstärkt in den Fokus. Ein »Daten-Oscar« aus Nordrhein-Westfalen führt nicht selten zu weiteren Sanktionen: Nach der Vergabe eines Big Brother Awards an die Computer Science Corporation (CSC) im Jahr 2013 wurden etwa die Vergaberichtlinien für die Aufträge von öffentlichen Stellen aufgrund der Beteiligung des Unternehmens an der Datenverarbeitung für Geheimdienste geändert, etliche Bundesländer kündigten daraufhin ihre CSC-Verträge. Auch in diesem Jahr fanden sich prestigeträchtige Personen und kapitalstarke Konzerne unter den Nominierten – Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) war ebenso darunter wie die Deutsche Bahn AG.
Die Big-Brother-Award-Gala, moderiert von dem Schauspieler und Kabarettisten Andreas Liebold, beleuchtete ein breites Spektrum an Übergriffen auf die Privatsphäre. Nach dem Auftakt der Vintage-Jazzband »Rootbirds« ergriff Laudator Thilo Weichert das Wort, um den ersten Preisträger zu verkünden. Weichert nannte verfassungsrechtliche Bedenken am Konzept des »European Health Data Space« (EHDS) – verantwortlich für dessen nationale Ausgestaltung: Lauterbach. Das entsprechende »Gesundheitsdatennutzungsgesetz« (GDNG) wurde unter der Federführung des Bundesgesundheitsministers beschlossen und es sieht vor, dass hochsensible Gesundheitsdaten künftig nicht nur im Dienst von Patienten genutzt werden können. Drittanbieter dürfen diese für sogenannte sekundäre Zwecke, darunter wissenschaftliche Forschung, Gesundheitsplanung und pharmazeutische Dienstleistungen, weiterverarbeiten; die ärztliche Schweigepflicht wird damit auf digitalem Weg unterlaufen – wenn das der Hippokrates wüsste.
Der Kategorie »Gesundheit« folgten Nominierungen in den Bereichen »Behörden und Verwaltung«, »Mobilität« und »Verbraucherschutz«. Mit einer rekordverdächtigen Leistung brilliert die »Polizei Sachsen« unter den Ämtern. Für ihr videogestütztes »Personen-Identifikations-System« (PerIS) vergab Laudator Frank Rosengart einen Award. Er kritisierte die biometrische Überwachung mittels Gesichtserkennung, die in erster Linie Unbeteiligte erfasse, per se aber alle zu Verdächtigen erkläre. Was ursprünglich als »Grenzschutzmaßnahme« begann, habe sich, so Rosengart, in weiten Teilen Sachsens als Dauerüberwachung etabliert.
Die Deutsche Bahn AG wurde in der Kategorie »Mobilität« ausgezeichnet. Den zunehmenden Zwang zur digitalen Fahrscheinbuchung und die damit einhergehende Abschaffung der tastbaren Bahncard prangerte Laudator padeluun als gezielte Maßnahme zur Einschränkung der Anonymität im öffentlichen Raum an. Die DB AG, so die Kritik, setze alles daran, Reisen ohne digitale Datenspur unmöglich zu machen – und schaffe damit auch die Voraussetzungen für weitere Verwertungen. In der Kategorie »Verbraucherschutz« erhielten die Handelsplattformen »Temu« und »Shein« je eine Auszeichnung für ihre dubiosen Datenschutzpraktiken. Peter Wedde führte aus, wie diese Plattformen die Rechte der Verbraucher durch aggressive Datensammlung und intransparente Geschäftsbedingungen aushöhlen und den Nutzern jegliche Kontrolle über ihre Daten nehmen.
Der Hauptpreis in der Kategorie »Trend« ging an einen unsichtbaren Akteur, der als ideologische Implikation in vielen Apparaten wirkt – vom blinkenden Wasserkocher bis zur piepsenden Herdplatte: der »Technikpaternalismus«. Dieser markiere, so Digitalcourage-Vorstandsfrau Rena Tangens, den schleichenden Übergang von nützlicher Technik hin zu übergriffigen, bevormundenden Technologien, die uns jede Entscheidung abnehmen – eine Kritik, die feministische Argumente auf den Plan ruft: In Nachfolge des antiken Pater familias, der »alles besser weiß und uns ständig sagt, was wir tun und was wir lassen sollen«, infantilisieren paternalistisch operierende Geräte und Anwendungen ihre Nutzer und belassen sie damit im Zustand digitaler Unmündigkeit.
Hacking ist nur eine mögliche Gegenbewegung dazu – eine andere wäre die Entzauberung: Mit einem Zaubertrick demonstrierte der Mentalmagier Harry Keaton gegen Ende der Gala, wie mitten im Absurden aus dem Sinnlosen wieder Sinn hervortreten kann. Er fügte die Worte aus Zeitungsschnipseln, die er zuvor an das Publikum verteilt hatte, auf der Bühne zu einer neuen Wortkombination zusammen: »Gemeinsam verändern wir die Welt.«
Digitalcourage – Kampf für Privatsphäre
Digitalcourage e. V. ist eine der bekanntesten Organisationen in Deutschland, die sich für den Schutz der Grundrechte im Digitalzeitalter einsetzt. 1987 als »FoeBuD« – als »Förderverein zur Unterstützung der Datenschützer und Bürgerrechtler« – gegründet, wurde der Zusammenschluss 2012 in »Digitalcourage« umbenannt. Rena Tangens und padeluun zählen zu den Gründern. Sie kamen ursprünglich aus unterschiedlichen Kunstkontexten und entdeckten das Internet als erweiterten Raum für ihre Aktionen. Sie verbanden digitale Transformationen nicht nur mit Chancen, sondern auch mit erheblichen Risiken für die Bürgerrechte. Ihre Intention bei der Gründung des Vereins war es, ein Bewusstsein für die Gefahren von Überwachungstechnologien zu schaffen und gleichzeitig konkrete Schritte zur Verteidigung der Grundrechte zu unternehmen.
Digitalcourage e. V. erlangte insbesondere durch die seit dem Jahr 2000 jährlich verliehenen Big Brother Awards öffentliche Bekanntheit. Diese »Oscars für Überwachung« gehen an Unternehmen, Organisationen oder Einzelpersonen für Datenschutzverletzungen. Die Big Brother Awards sind für den Verein Digitalcourage nicht nur ein Werkzeug, um Verstöße anzuprangern, sondern auch ein Instrument im öffentlichen Diskurs. Eine Jury, bestehend aus Bürgerrechtlern und Datenschutzexperten, nominiert Jahr für Jahr die Preisträger. Der Verein veranstaltet in regelmäßigen Abständen auch den »Aktivcongress«, bei dem Datenschutzaktivisten aus ganz Deutschland zusammenkommen, um Strategien gegen Überwachungsmaßnahmen zu entwickeln. Ein wiederkehrendes Thema in der Arbeit von Digitalcourage ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Bundesnachrichtendienst (BND), dessen umfangreiche Überwachungspraktiken – so etwa das Ausspähen von Kommunikationsdaten – immer wieder im Fokus der Kritik stehen. (be)
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (15. Oktober 2024 um 11:35 Uhr)»… infantilisieren paternalistisch operierende Geräte und Anwendungen ihre Nutzer und belassen sie damit im Zustand digitaler Unmündigkeit.« - Das totale Gegenteil von »sapere aude«, der zentralen Forderung der Aufklärung. Wer findet beispielsweise heute noch ohne »Navi« seinen Zielort? Es geht aber um viel mehr als »nur« um den Verlust der natürlichen Orientierung im geographischen Raum; denn der eigenen Orientierungslosigkeit folgen zwangsläufig Entscheidungs- und Verantwortungsunfähigkeit und damit das Ende des vielzitierten »mündigen Bürgers«.
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