In Haft im freien Westen
Von Nico PoppEs sind selten Sternstunden, wenn Westberliner Richter über die DDR räsonieren. Das war am Montag bei der Urteilsverkündung im Verfahren gegen einen ehemaligen Oberleutnant der Hauptabteilung VI des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, dem die Staatsanwaltschaft vorwarf, im März 1974 den polnischen Staatsbürger Czesław Kukuczka im Bereich der Grenzübergangsstelle am Bahnhof Friedrichstraße niedergeschossen zu haben, nicht anders.
In seinen Ausführungen zum Urteil wartete der Vorsitzende Richter der 29. Strafkammer des Berliner Landgerichts I, Bernd Miczajka, mit der mehrfach bekräftigten Ansicht auf, es sei »die Staatsdoktrin« der DDR gewesen, die Ausreise »einfacher Bürger« in den »freien Westen« zu verhindern. Er konstatierte bedeutungsschwer – und als sei das für den Fall irgendwie relevant –, dass der stellvertretende Minister für Staatssicherheit Bruno Beater, der an jenem 29. März 1974 angeordnet hatte, Kukuczka außerhalb der polnischen Botschaft (wo Kukuczka gedroht hatte, einen angeblich in seiner Aktentasche mitgeführten Sprengsatz zur Explosion zu bringen) »unschädlich« zu machen, »interessanterweise Mitglied des ZK der SED zum Tatzeitpunkt« war. Und Miczajka stellte zutreffend fest, dass der verletzte Kukuczka in das Haftkrankenhaus des MfS verbracht wurde – nur befand sich das zweifellos nicht »in der Normannenstraße in Berlin-Hohenschönhausen«.
Allein: Miczajka wurde am Montag ja nicht über die DDR oder sein Orientierungsvermögen in Ostberlin examiniert, sondern begründete ein Urteil. Und das fiel eindeutig aus. Das Gericht verurteilte den heute 80jährigen Manfred N. aus Leipzig nach Maßgabe des Strafrechts der DDR zu einer Haftstrafe von zehn Jahren. Es sei die zweifelsfreie Überzeugung der Kammer, dass N. der Schütze gewesen ist, der Kukuczka aus einem Hinterhalt heraus niedergeschossen hat, so Miczajka.
Bei dem Vorgang handelt es sich nach Auffassung des Gerichts um einen heimtückischen Mord, weil Kukuczka zum Zeitpunkt der Schussabgabe arglos gewesen sei. Das leitet das Gericht aus der Annahme ab, dass der Pole »sein Ziel erreicht zu haben glaubte«, nämlich die Ausreise nach Westberlin. Kukuczka habe nach außen hin nicht erkennen lassen, dass er noch mit einem Zugriff gerechnet habe. Auch N. habe bemerkt, dass Kukuczka arglos war. Das Gericht übernahm in diesem wesentlichen Punkt weitgehend die Konstruktion der Staatsanwaltschaft. Sehr weitgehend legte sich Miczajka auch dahingehend fest, dass zumindest zum Zeitpunkt der Schussabgabe auch N. nicht mehr ernstlich befürchtet habe, dass Kukuczka tatsächlich eine Bombe zur Explosion bringen könnte. Wie das schlüssig begründet werden kann, bleibt unklar – der Prozess hat in dieser Hinsicht keine beweiskräftigen Anhaltspunkte ergeben.
Die Kammer war sich auch sicher, dass N. die konkrete Ausführung der »Unschädlichmachung« Kukuczkas nicht vorgegeben worden war. Er habe einen Handlungsspielraum gehabt und letztlich »mit Tötungsvorsatz« gehandelt. Miczajka erklärte lediglich die Spekulation von Staatsanwältin Henrike Hillmann für nicht plausibel, N. habe auch deshalb so gehandelt, weil er seine persönliche Karriere fördern wollte.
Ein solcher Schuldspruch im Sinne der Anklage war von Anfang an nicht ausgeschlossen, kommt bei Abwägung des tatsächlichen Ertrags des sieben Monate dauernden Prozesses unter dem Strich aber durchaus überraschend. Unter den Beobachtern, die alle oder die meisten der 16 Verhandlungstage verfolgt haben (und das waren nicht viele), überwog zum Ende hin eher die Ansicht, dass nicht mit einem Schuldspruch zu rechnen ist.
N. ist damit der bisher einzige ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit, den ein bundesdeutsches Gericht wegen Mordes verurteilt hat. Nicht geholfen haben dürfte ihm, dass er sich während des gesamten Verfahrens nicht zur Sache geäußert und dadurch dem Gericht die Möglichkeit gegeben hat, die letztlich entscheidenden Umstände – die Frage der Arglosigkeit Kukuczkas und der Plausibilität der Gefahr durch die Bombendrohung für ihn als mutmaßlichen Schützen – durchweg im Sinne der Anklage auszulegen. Ein Grund für das Schweigen von N. mag gewesen sein, dass die Strategie der Verteidigung ersichtlich auf der Annahme fußte, das Gericht könne unter dem Strich gar nicht zu der Auffassung kommen, ein Mann, der nach eigenem nachdrücklichen Bekunden im Begriff ist, einen Bahnhof mit einer Bombe in der Aktentasche zu betreten, könne arglos sein – so sah das ja noch 2017 auch die Staatsanwaltschaft. N. und seine Verteidigerin haben die Möglichkeit, innerhalb von einer Woche Revision zu beantragen.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 15.03.2024
Ministerium oder Botschaft
- 13.10.2023
Schuss am Grenzübergang
- 03.12.2018
Wahrheit und Versöhnung?
Regio:
Mehr aus: Inland
-
»Kerngedanke«: NATO übt Atomkrieg
vom 15.10.2024 -
»Vorschriften kommen nicht in der Kabine an«
vom 15.10.2024 -
Viel Genozid, wenig Israel
vom 15.10.2024 -
Lobby für »Lex Lilly«
vom 15.10.2024 -
Ganztag braucht Personal
vom 15.10.2024
Aber als Offizier des MfS gehört der Verurteilte ohnehin zu den Tätern und Unterdrückern. Selbst im Falle eines möglichen rechtstaatlichen Fehlurteils ist das keine Katastrophe, weil, es trifft ja einen Bösen. Und auch das zuständige Gericht muss sich keine Sorgen machen, denn aufgrund der niedrigen Strafrente der MfS-Angehörigen wird sich der Verurteilte wohl kaum einen Anwalt für ein mögliches Revisionsverfahren leisten können.
Wie würde man heute im Falle einer Bombendrohung vorgehen? Erst einmal würde das SEK angefordert und zwischenzeitlich der Versuch unternommen, den Täter zur Aufgabe zu bewegen. Wäre der Täter nicht bereit, würde man mit allen Mitteln versuchen, eine mögliche Zündung der Bombe zu verhindern. Eine durchaus realistische und legitime Möglichkeit wäre ein gezielter Schuss, der den Täter bewegungsunfähig macht bzw. tötet. Es ist in der Folge nicht davon auszugehen, dass der Schütze als Mörder verurteilt wird. Es ist natürlich auch unterschiedlich zu bewerten, ob der Schütze ein freiheitlich, demokratischer und den westlichen Werten verpflichteter Angehöriger des SEK oder ein mordlustiger und systemtreuer Angehöriger des ostdeutschen Unterdrückungsapparates ist.
Bei den westlichen Verursachern von unschuldigen Opfern im Rahmen gewaltsamer Operationen ist man da wohl rechtstaatlich sehr tolerant. Da fällt mir doch wieder die Tat eines »kleinen« westdeutschen Oberst ein, der in Afghanistan ca. 150 unschuldige Zivilisten zu ihren Vorfahren schickte. Na ja ganz unschuldig waren sie nicht, da sie Benzin aus einem Tankfahrzeug geklaut haben.
Statt eines schlüssigen Beweises in der Sache bewies der Vorsitzende Richter Bernd Miczajka seine richterliche »Unabhängigkeit«, indem er in die mündliche Urteilsbegründung politische Statements einfließen ließ. Wir kennen das bestens aus Hunderten Verfahren gegen DDR-Bürger nach der Zwangsvereinigung.
Unabhängig von der Beweislage misst das LG Berlin nachweislich mit zweierlei Maß. 1999 verurteilte dasselbe LG Berlin Rudolf Müller wegen Totschlags unseres Grenzers Reinhold Huhn zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung. In der Revision änderte der BGH 2000 die Entscheidung und verurteilte Müller nun sogar wegen Mordes. Die Strafe auf Bewährung blieb unverändert.
Übrigens werden heute nicht nur Terroristen sofort erschossen. Der DDR stand ein solches Recht selbst bei eindeutigen Terrorhandlungen natürlich nicht zu.