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Aus: Ausgabe vom 16.10.2024, Seite 11 / Feuilleton
Der Mensch muss trinken

Daheim ist, wo man sich aufhängt

Zur neuesten Narretei im Kneipenwesen
Von Marco Gottwalts
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Der Frankfurter-Ebbelwei-Express: Tradition ohne glitschige Anbiederung

Ist Heimat »das Gefühl des Verlustes« (Edgar Reitz) oder ist sie »an einer Pissrinne geboren« (Andreas Maier)? Frank-Walter Steinmeier fragt gewohnt wortreich: »Ist es der vertraute Ort der Kindheit, verbunden mit Menschen, mit Gerüchen, Landschaften, Essen, Dialekt? Oder ist es der Ort, an dem man lebt und zu Hause ist? Ist es Sprache? Ist Heimat eine politische Kategorie oder ein Gefühl?« Er hat darauf natürlich eine Antwort: »Heimat, das ist etwas Positives (…).«

Nicht verwunderlich also, dass auch Restaurants, Gaststätten und Kneipen den Begriff für sich ausgebeutet haben: »Heimat Weinstube«, »Heimat Pizza«, »Café Heimat«, »Restaurant Heimat«, um nur einige im Dunstkreis meines Wohnortes aufzuzählen. Gastronomische Gäste- und Umsatzfischer, die mit der Suche nach diffuser, vermeintlicher Behaglichkeit, nach Rückzugs-, Flucht-, Sehnsuchtsorten und vielleicht Mutters Schoß Schindluder treiben. Überall lauern die geschäftstüchtigen Schlangenölverkäufer.

Eine noch raffiniertere Strategie, oftmals steckt die System- beziehungsweise Eventgastronomie dahinter, ist der augenscheinliche Versuch, die Kundschaft mittels des Lockrufes »Daheim« hinters Licht zu führen. Denn »Daheim« ist persönlicher, intimer, verletzlicher, aber auch unverdächtiger als »Heimat«. Feine Klinge. Als vor kurzer Zeit mein Stammcafé nach über dreißig Jahren in Pension ging, plazierte ein dort verkehrender pensionierter Redakteur der Frankfurter Rundschau in der nämlichen Zeitung einen wohlmeinenden, wehmütigen Text. Überschrieben war der Artikel, Sie ahnen es, mit: »Daheim«. Er hatte völlig recht, obwohl die Inhaber niemals gewollt haben, ich solle mich als Stammgast bei ihnen »Daheim« fühlen. Gott bewahre! Man tut es einfach – oder nicht!

Der höchste Gipfel glitschiger Anbiederung ist derzeit in Frankfurt am Main, im »Ebbelweiviertel« Sachsenhausen erklommen worden. Dort führte ein offenbar von der Sammelleidenschaft gepacktes Ehepaar seit Übernahme einer ersten Wirtschaft vor rund zehn Jahren schon zwei Speiselokale, bevor es vor wenigen Wochen das dritte aufgesperrt hat. Ein viertes entstand zwischendurch außerhalb Sachsenhausens – nahe der Altstadt – in der in den Fünfzigerjahren erbauten, denkmalgeschützten Kleinmarkthalle.

Man firmiert – glauben Sie es oder nicht – unter »Betriebsgesellschaft ›Wie Daheim‹ GbR«. Passenderweise versah das Paar die neu übernommenen, zuvor alteingesessenen Apfelweinlokale (Lorsbacher Thal, Affentorschänke) mit dem Zusatz »Daheim im«, »Daheim in der« oder – jetzt neu: – »Daheim bei den« (Drei Steubern) und verpasste ihnen eine vermeintlich moderne, angeblich zukunftsfähige Ausrichtung. Das mag man nur als lächerlich oder Public-Relations-Albernheit abtun; doch kann man es auch aus guten Gründen grauslich finden oder gar persönlich nehmen. Machen Sie sich also bitte selbst ein Bild und lesen Sie, wie sich die offenbar der Caritas nahestehende Betriebsgesellschaft (in einem Aushangtext kurz vor der Neueröffnung von Lokal Nummer vier) selbstdarstellt:

»Wir möchten Sie hier empfangen und umsorgen – wie Daheim. Deswegen haben wir unseren Familiennamen (sic!) ›Daheim‹ den ›drei Steubern‹ hinzugefügt. Es ist uns Freude und Verpflichtung zugleich, die Tradition dieser Original-Schankwirtschaft zu bewahren, an Wolfgang Wagner (der frühere Wirt, Anm. des Verfassers) zu erinnern und die Wirtschaft vorsichtig in eine gastfreundliche und erfolgreiche Zukunft zu führen.«

Auf der eigenen Webseite heißt es:

»Gäste sind für uns wie gute Freunde, die uns Daheim besuchen, einen guten Schoppen trinken und lecker verköstigt werden. So haben wir das auf den vielen geschäftlichen und privaten Reisen um die ganze Welt selbst erleben und genießen dürfen. Und gerade diese für uns unvergesslichen Erlebnisse warmherziger, familiärer Gastfreundschaft und Zuneigung möchten wir versuchen an unsere Gäste weiterzugeben. Nehmen Sie uns und unsere Mitarbeiter beim Wort. Wir alle sind angetreten, um uns um Sie zu kümmern.«

Apropos geschäftliche Reisen: Der männliche, für Marketing und Außendarstellung zuständige Teil des Betreiberpaars lässt über seinen geschäftlichen Background folgendes wissen (Quelle: www.lust-auf-gut.de):

»Mit der Deutschen Marketing Gesellschaft und dem Netzwerk an Mitarbeitern und Fachleuten rund um Marketing und Kommunikation haben wir Kleines und Großes bewegt. Wir haben Marketing für Immobilien in Deutschland etabliert.«

Würden Sie dem Herrn einen Gebrauchtwagen oder einen Perserteppich abkaufen? Ihr Zahngold vorbeibringen? Sicher: Die Zeiten ändern sich; wie zum Guten, so auch zum Schlechten. Wenn Sie mich fragen: Dann doch lieber schmallippige, knorrige Wirte und – ja! – Wirtinnen, die Ihre Gäste nicht mit nannyhaftem Getue, »familiärer Gastfreundschaft, und Zuneigung« (s. o.) an den Fliegenfänger (Daheim am Fliegenfänger) locken wollen, sondern ihre Macken und Schrullen pflegen.

Weniger warmherzig (oder wenigstens nachsichtig) geht er mit den traditionsbewussten, nostalgisch veranlagten Kritikern seiner expansiven Strategie um, die er abwechselnd entweder als »Apfelweintaliban« oder »Kampftrinker« diskreditiert. Während Kampftrinker bloß unfreundlich klingt, bezeichnet man mit »Taliban« eine islamistische Terrorgruppe. Herzenswärme hört sich anders an.

Begleitet wird das durchsichtige McDaheim-PR-Produkt von einer an Unterwürfigkeit grenzenden Hofberichterstattung im Rhein-Main-Teil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Im »Kleinen wie im Großen« oder »Wie der Herr, so’s Gescherr« möchte man hinzufügen, denkt man an die ähnlich anmutende Linie des Blattes zu über das Regionale hinausgehenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Man muss sich ungläubig schütteln und sich fragen, ob die Lokalredaktion bereits in ein Komitee zum Zwecke der Heiligsprechung des Sprachrohrs der »Daheim-Familie« umgewidmet wurde. Dem Feuilleton­herausgeber der Frankfurter Allgemeinen (ein einst ehrwürdiges Amt) haben wir bekanntlich bereits die Vergabe des Ludwig-Börne-Preises an die Lichtgestalt Robert Habeck zu verdanken.

Genug davon? Gut, verlassen wir das trübe Deutschland und schauen in die südöstliche Alpenrepublik und deren Hauptstadt:

Im Alsergrund, dem neunten Wiener Gemeindebezirk, haben die Gebrüder Reinhard und Sigi Steindl ihr wunderschönes, wahrlich den Menschen zugeneigtes »Wein- und Bierhaus Steindl« nach gut fünfzig Jahren zugesperrt. Der Ruhestand sei ihnen schweren Herzens aufrichtig gegönnt. Nach dem unwiederbringlichen Verlust des Gasthauses Adlerhof verschwindet ein weiteres der wenigen übriggebliebenen unverstellten Beisl.

Aber Vorsicht! In Wien agiert nämlich das Kaffeehaus- (und mittlerweile auch Gasthaus-) Imperium der »Familie Querfeld«, an deren Logo das der »Daheim-Familie« merkwürdigerweise erinnert. Wird jene Familie (Querfeld, nicht die »Daheim-Familie« – aber wer kann das für die Zukunft schon ausschließen) dort zuschlagen und »die Tradition dieser Original-Schankwirtschaft (…) bewahren, an Reinhard und Sigi Steindl (Ersatz bzw. Einfügung des Verfassers) (…) erinnern und die Wirtschaft vorsichtig in eine gastfreundliche und erfolgreiche Zukunft führen«?

Ich beobachte das; bleiben Sie aufmerksam – und bleiben Sie lieber zu Hause.

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