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Aus: Ausgabe vom 16.10.2024, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Vorurteil

Von Felix Bartels
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Philosophie: Für Platon die Überwindung des Vorurteils, doch streng getrennt vom Erfahrungswissen

Das Vorurteil kommt vor dem Urteil und ist doch selbst ein Urteil. Jegliche Einschätzung hat Urteilscharakter, zugleich liegt im Begriff was Wertendes, das etwa in der Frage anklingt, ob man sich hier­über oder darüber ein Urteil erlauben könne. Insofern mehr als bloßes Meinen gefordert wird, unterscheiden Vorurteil und Urteil sich nicht in ihrer Form, sondern in der Form ihrer Begründung.

Ein Vorurteil ist eine Feststellung, die nicht auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft wurde – durch Erfahrung, Vernunft oder Aufnahme von Wissen. Es kommt stets von außen, da es der theoretischen oder praktischen Bekanntschaft mit dem Gegenstand vorausgeht. Ein Urteil aufgrund von Erfahrung kann falsch sein, es wäre dann aber kein Vorurteil, das definitionsgemäß vermittelt ist durch Hörensagen, geläufige Meinungen, Überlieferung. Streng genommen spielt es keine Rolle, ob es zutrifft. Vorurteile können sich als richtig erweisen, begründete Urteile falsch sein. Das Wesen des Vorurteils liegt also weder in seiner Form noch in seinem Inhalt, sondern in der Art seines Zustandekommens. Ist ein Urteil bloß übernommen, handelt es sich um ein Vorurteil. Ein gesellschaftlicher Charakter scheint also stets enthalten.

Zu unterscheiden wäre ein erkenntnistheoretisches Verständnis des Begriffs von einem psychologischen. Ersteres fragt nach der Denk­methode und setzt Erkenntniswillen vor­aus. Die neuzeitliche Philosophie knüpft nicht an Aristoteles an, der volkstümliche Meinungen verarbeitet hat, statt sie zu desavouieren, sondern bei Platon. Bacon unterscheidet vier Arten von idola: tribus (Täuschung durch Sinne), specus (Deformation durch Erziehung oder Tätigkeit), fori (Verführung durch Sprache), theatri (geistige Trägheit und Nichtbelehrbarkeit). Descartes belebt Platons scharfe Entgegensetzung von Erscheinung und Wesen. Nichts sei aufgrund von Evidenz für wahr zu halten, alles müsse mit dem Geist geprüft sein. Die Aufklärung vereinfacht Descartes streng spekulative Methode in ihrem Kampf gegen Unwissen, geläufige Meinungen, Religionen und politische Doktrinen, vervolkstümlicht also die Kampfform gegen das Volkstümliche. Kants »Sapere aude!« steht ebenfalls in dieser Linie, während Hegel das vermittelnde Denken wieder aufruft. Er lobt am Menschen, nichts anzuerkennen, das »nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist«, während er andernorts der Aufklärung vorwirft, »sich rein negativ gegen den Glauben« zu verhalten und damit »ebensowenig über sich selbst aufgeklärt« zu sein. Historische Formen des Denkens sind ihm Quelle wie in sich aufzuhebende Momente. Erziehungstheoretisch ließe sich ergänzen, dass das Vorurteil nicht nur als falsch gebildete Aussage Bedeutung hat, sondern bei der individuellen Entwicklung notwendige Funktion erfüllt: Da sich nie alles immer gleich prüfen lässt, kann es zum vorläufigen Ersatz begründeter Urteile werden, der dazu beiträgt, das sich herausbildende Weltverständnis eines Heranwachsenden zu stabilisieren.

Das psychologische Verständnis des Vorurteils fragt dagegen nach Motiven. In der Jetztzeit liegt der Schwerpunkt auf ihm, weil die Auseinandersetzung mit auf Stereotypen ruhenden Ressentiments ins Zentrum heutiger Kämpfe gerückt ist. Damit ändert sich allerdings, was man darunter versteht: das Vorurteil als nicht durch Erfahrung begründete Meinung, die sich gegen Belehrung widerständig zeigt. Es geht heute weniger um die Bildung von Vorurteilen als vielmehr um das Festhalten an ihnen. Entfaltet erscheint dieses Festhalten in identitätspolitischen Narrativen und Verschwörungserzählungen, jenen modernen Religionsäquivalenten, die vollständige Welterklärung zu sein beanspruchen und hermetisch bleiben. Einwände werden für nichtig erklärt oder deformiert integriert. Interessanterweise vollziehen die Betroffenen dabei oft gedanklich aufwendigere Manöver, als eine Korrektur ihrer Meinungen sie erforderte.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (15. Oktober 2024 um 21:32 Uhr)
    Die Korrektur (m)einer Meinung erfodert ja möglicherweise (m)eine Verhaltensänderung. Gedanklich aufwändige Manöver sind eben bequemer als Verhaltensänderungen. Entwicklungsgeschichtlicher Exkurs: In einer unübersichtlichen Lage war es von Vorteil, schnell handeln zu können. Angreifen oder verduften? »Reasoning under uncertainty«, wie es in der künstlichen Intelligenz gerne genannt wird, dauert zu lange. Also Vorurteil angewendet und überlebt (vielleicht). War das Vorurteil unpassend, hat es natürliche Selbstauslese betrieben. Dieser Ballast aus Zeiten des Säbelzahntigers prägt heute noch die Struktur unseres Gehirns/Denkens/Handelns. Übrigens nachgewiesen: Das Bewusstsein kann eine Handlung durch sein Veto unterbinden, die Handlung wurde vorher (0,5 bis 1 Sekunde) unbewusst vorbereitet. Der nicht mehr ganz neue Beitrag »Des Menschen freier Wille« vom DLF beleuchtet das Thema »Der angeblich freie Wille des Menschen ist eine Illusion, lautet ein Credo von Hirnforschern.« (https://www.deutschlandfunk.de/philosophie-im-hirnscan-manuskript-teil-1-des-menschen-100.html).

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