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Aus: Ausgabe vom 17.10.2024, Seite 4 / Inland
US-Mittelstreckenraketen in der BRD

Wahrheit gefährdet »Staatswohl«

Raketenstationierung: Bundesregierung verweigert Auskunft zur »Fähigkeitslücke«. NATO ist Russland vermutlich schon jetzt weit überlegen
Von Philip Tassev
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Landgestützte Waffensysteme könnten die BRD noch mehr zum Ziel werden lassen (San Nicholas, 18.8.2019)

Die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik wird bekanntlich mit einer angeblichen »Fähigkeitslücke« begründet, die die NATO gegenüber Russland schließen müsse. Jessica Tatti, parlamentarische Geschäftsführerin des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW), wollte von der Bundesregierung wissen, worin diese »Fähigkeitslücke« besteht und wie das Kräfteverhältnis zwischen NATO und Russland bei Marschflugkörpern sowie Kurz- und Mittelstreckenraketen aussieht. Die Antwort der Regierung, die jW vorliegt, ist bezeichnend: Russland habe in diesem Bereich in den vergangenen Jahren »massiv« aufgerüstet – unter Bruch des INF-Vertrages, der deshalb beendet worden sei. Damit hört die Antwort im Grunde auch schon auf, denn weiter möchte die Bundesregierung auf die Frage nicht eingehen, »da der Gegenstand des Informations- und Auskunftsersuchen solche Informationen umfasst, die in besonders hohem Maße Erwägungen des Staatswohls berühren und daher selbst in eingestufter Form nicht beantwortet können«. Dazu Tatti: »Und was ist mit dem Wohl von mehr als 83 Millionen Menschen, die in diesem Land leben?«

Die Bundesregierung begründet ihre Nichtantwort aber nicht nur mit einer angeblichen »Gefährdung des Staatswohls«, sondern auch mit der Kooperation mit »ausländischen Nachrichtendiensten«. Eine Offenlegung von Informationen, die der deutsche Staat von ausländischen Diensten erhalten hat, würde demnach zu einem »Vertrauensverlust« bei jenen Diensten führen, was diese davon abhalten könnte, in Zukunft Informationen an die deutschen Geheimdienste weiterzugeben.

Die BSW-Abgeordnete weist in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass die Behauptung, wonach Russland den INF-Vertrag gebrochen habe, mindestens strittig ist. Von russischer Seite wurde selbiges den USA vorgeworfen. »Das Fatale war doch, dass die USA den russischen Vorschlag zu einer gegenseitigen Kontrolle der Abschussrampen und Raketen in Russland, Rumänien und Polen Anfang 2019 abgelehnt und den INF-Vertrag kurz darauf gekündigt haben«, so Tatti. Aus der Weigerung der Bundesregierung, eine konkrete Antwort vorzulegen, schließt sie, es liege die Vermutung nahe, »dass die NATO der Russischen Föderation schon heute überlegen ist«.

Unterstützt wird diese Vermutung von verschiedenen Militärexperten, die festgestellt haben, dass eine »Fähigkeitslücke« zwischen der NATO und dem russischen Militär so nicht existiert. Eine sowohl vom BSW als auch von der Partei Die Linke zitierte Studie des Bundeswehr-Oberst a. D. Wolfgang Richter für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung führt die NATO-Waffensysteme auf und zeigt, dass die NATO-Armeen in Europa zwar nicht über konventionelle landgestützte Marschflugkörper oder Mittelstreckenraketen verfügen, »jedoch ebenfalls über ein breites Arsenal von luft- und seegestützten Wirkmitteln sowie landgestützte Kurzstreckenraketen«. Ebenso hatte der Nuklearwaffenexperte Hans Kristensen schon im August darauf hingewiesen, dass Systeme wie die »Tomahawk«-Cruise Missiles, die die USA nun in der BRD stationieren wollen, schon lange von den Luft- und Seestreitkräften diverser NATO-Staaten verwendet werden.

Auch wenn es sich nicht um Atomwaffen handelt, wächst mit der geplanten Stationierung der landgestützten Systeme die Gefahr einer nuklearen Eskalation, denn erstens gerät die Bundesrepublik so noch stärker ins Visier Russlands, als sie es als zentrale NATO-Logistikdrehscheibe ohnehin schon ist, und zweitens dienen diese Waffen auch dazu, im Kriegsfall Abschussrampen »tief im russischen Territorium zu treffen«, wie etwa Jasper Wieck, politischer Direktor im Verteidigungsministerium, auf dem Youtube-Kanal der Bundeswehr erklärt.

Wenn diese Abschussrampen »neutralisiert« werden sollen, bevor von dort russische Marschflugkörper starten können, wie Wieck darlegt, stellt das genau einen solchen Erstschlag gegen Russlands strategische Einrichtungen dar, vor dem Moskau in der Vergangenheit mehrfach gewarnt hat und auf den es der eigenen Doktrin zufolge auch mit Nuklearwaffen reagieren könnte.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

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  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (21. Oktober 2024 um 12:36 Uhr)
    Um welche Fähigkeitslücke geht es? Es dürfte nach allem Ruinierungs-, Sieges- und Kriegstüchtigkeitsgeschrei nur noch um die Fähigkeit gehen, den nächsten Krieg zu gewinnen. Um diese Fähigkeit geht es, ging es schon in den vorangegangenen Kriegen bei ihrer Vorbereitung. Überlegen hin oder her, überlegen bei welchen Waffensystemen oder -gattungen, der Zahl der Panzer oder Raketen, es wäre wesentlich sinnvoller darüber nachzudenken, welcher Krieg noch wirklich gewinnbar ist. Aber danach haben imperiale Militärmächte nie gefragt, sich immer überschätzt und die Völker auf die Schlachtfelder getrieben im Wissen, wer die Opfer zu bringen hat und Kriege für imperiale Abenteurer immer profitabel und gewinnbringend gewesen sind.
    Die Auf- und Gegenrechnung der militärischen Fähigkeiten ist aus Zeiten des Kalten Krieges noch bestens bekannt, als Zahlen der Panzer, Kriegsschiffe, Divisionen, Flugzeuge gegenübergestellt wurden und der Warschauer Vertrag stets übermächtig galt. Genützt hat es nicht, bis auf die Sicherung des Friedens in Europa über Jahrzehnte. Am Ende wurde es zu einem Rüstungswettlauf mit bekanntem Ausgang. Wir haben es mit anderen Zeiten und Kräfteverhältnissen zu tun. Der Kriegs- und Siegeswahn des Westens, NATO und allen voran Deutschlands scheint aggressivster, risikobereiter, siegesicherer als zu Zeiten des Kalten Krieges zu sein. Wer will sich auf eine gegenseitige Abschreckung verlassen, wo die kriegerischen Töne und Versuche des Austestens immer mehr Gefahr schaffen?
    Vernunft und Verstand sind von Kriegstreibern nicht zu erwarten. Allein eine starke Friedensbewegung kann Einhalt gebieten. Verstand und Vernunft zu Gemeinsamkeit für Frieden, unter wirklich Friedensbewegten ist zu erhoffen, solange nicht noch mehr glauben, uns einreden wollen, eine Kriegsbewegung könne Frieden schaffen.
    »Von allen Dogmen der bigotten Politik unserer Tage hat keine mehr Unheil angerichtet, als die, dass ›um Frieden zu haben, man sich zum Kriege rüsten muss‹.
    Diese große Wahrheit, die sich hauptsächlich dadurch auszeichnet, dass sie eine große Lüge enthält, ist der Schlachtruf, welcher ganz Europa zu den Waffen gerufen und einen solchen Landsknechtsfanatismus erzeugt hat, dass jeder neue Friedensschluss als neue Kriegserklärung betrachtet und gierig ausgebeutet wird.« (MEW, Band 13, S. 444)
    Mit Marx sind wir noch heute auf der richtigen Seite aller Erfahrung der Geschichte.

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