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Aus: Ausgabe vom 17.10.2024, Seite 10 / Feuilleton
Wohnen

Lebst du noch!

Vor 50 Jahren eröffnete IKEA in Eching bei München sein erstes Einrichtungshaus in Deutschland
Von Martin Küpper
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Nerv getroffen: Menschen auf dem Weg zum Möbelriesen

Das Wohnen, wie wir es kennen, entstand im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Verwüstungen des Kapitalismus. Die Wohnung bot einen Raum des Privaten und Intimen, insbesondere für die kleinste Zelle der Gesellschaft, die Familie. Walter Benjamin bezeichnete das 19. Jahrhundert als »wohnsüchtig« und die Wohnung als »Futteral des Menschen«. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Drei Faktoren machen eine Wohnung zur Wohnung. Erstens muss sie einen abschließbaren Raum bieten. Zweitens muss sie eine selbständige Haushaltsführung ermöglichen. Und drittens müssen Einrichtungen zur Körperpflege vorhanden sein. Die Wohnung ist Rückzugsort, Treffpunkt und Schutzraum vor der Welt »da draußen«.

Im »goldenen Zeitalter« des Kapitalismus, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, veränderte sich der Status der Wohnung. Während zuvor – abgesehen von den bürgerlichen Oberschichten – in den meisten Wohnungen die Gegenstände eher mit Tätigkeiten verbunden waren, wurde die Wohnung zunehmend durch breitere Kreise der Gesellschaft ästhetisiert. Die Atmosphäre, die Materialien und die Dinge wurden mehr genossen und zur Schau gestellt. Das Einrichten selbst wurde zum Konsumerlebnis. Natürlich sollten die Dinge in der Wohnung nach wie vor praktisch sein, aber es zählte nun mehr das Erlebnis, das man mit ihnen hat.

Kaum ein Unternehmen hat diese Entwicklung so vorangetrieben wie IKEA, das heute vor 50 Jahren in Eching bei München sein erstes Einrichtungshaus in Deutschland eröffnete. IKEA, »das sind fünf Jahrzehnte voller persönlicher Erfahrungen«, heißt es auf der Website.

Im Zentrum des Unternehmensdesigns stand lange der Gründer, der seinen Namen und seine Herkunft in ein Akronym goss: Ingvar Kamprad (1926–2018) aus Elmtaryd, einem Bauernhof in Agunnaryd. Ein bescheidener Mann mit Alkoholproblemen, der bei null angefangen, keine umfassende Bildung genossen und sich langsam aber sicher »hochgearbeitet« habe. Seiner einfachen Herkunft sei er immer treu geblieben: Bus statt Dienstwagen, IKEA-Hotdog statt Fünf-Sterne-Menü. Dieses Bild bekam erhebliche Kratzer, als bekannt wurde, dass er von 1942 bis 1945 ein umtriebiger Funktionär der faschistischen Partei »Schwedische Sozialistische Sammlung« gewesen war und die nationalsozialistische Organisation »Neuschwedische Bewegung« finanziell unterstützt hatte. Dessen ungeachtet spielt die Darstellung »typisch« schwedischer Werte bis heute eine zentrale Rolle im Marketing, unterstützt durch ein eigens vom Unternehmen eingerichtetes Archiv.

IKEA begann 1943 als Versandhandel und nahm 1947 Möbel in sein Angebot auf. Der Clou bestand darin, die Möbel in Einzelteilen zu versenden, um Transportvolumen und Montagekosten zu sparen. Was als Motor der Gewinnmaximierung diente, ermöglichte extrem hohe Stückzahlen von schlicht gestalteten Möbeln. Die »Baukastenmöbel«, ein modulares System, erlauben es, Ordnung mit Kreativität zu verbinden, den Gebrauch der Dinge in den Vordergrund zu stellen. In diesem Bullerbüfunktionalismus dominiert allerdings der Tauschwertgedanke. Die Möbel dienen trotz ihres Massencharakters eher der sozialen Abgrenzung, weil mit ihnen ein »Lifestyle« verbunden ist. Im IKEA-Katalog sieht man ganze Wohnmilieus, die man zwar nicht realisieren muss, die aber eine Norm vorgeben. Sprüche wie »Dein Zuhause. Dein Stil« richten sich an alle, unabhängig von ihrer sozialen Stellung, sollen aber gleichzeitig Individualität vorgaukeln, denn nur IKEA-Produkte würden glücklich machen. Zudem sollen die Produkte nicht allzu lange halten. »Benutze es, und wirf es weg«, lautete für kurze Zeit ein Werbeslogan in den 70ern. Heute unsagbar.

Jedenfalls traf das Unternehmen einen Nerv, konnte die Konkurrenz ausstechen und baute ab Mitte der 50er Jahre die Möbel selbst. Als der schwedische Markt zu eng wurde, expandierte Kamprad in den 60er Jahren, immer auf der Suche nach Zulieferern, denen er seine Regeln aufzwang. Die Jagd nach Marktanteilen wird freilich begleitet von der alltäglichen kapitalistischen Korruption. Immer wieder dringt an die Öffentlichkeit, dass Betriebsräte behindert, Steuerschlupflöcher genutzt und dem Raubbau an der Natur kaum Einhalt geboten wird. Allein in Rumänien, wo IKEA der größte private Waldbesitzer ist, wird immer wieder der Vorwurf erhoben, dass Umweltstandards nicht eingehalten werden.

Heute betreibt das Unternehmen ein Franchisesystem mit rund 450 Einrichtungshäusern weltweit. Allein in Deutschland sind es derzeit 54. Die erste Filiale in Älmhult glänzte bald mit einem Restaurant. Als 1965 die dritte Filiale in Stockholm eröffnet wurde, setzte man schon früh darauf, dass sich die Kunden ihre Waren selbst in den Einkaufswagen laden. Das verlängerte einerseits die Aufenthaltsdauer und verkürzte andererseits die Wartezeit auf die Produkte.

Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, so der Designhistoriker Heinz Hirdina, wurde die Wohnung zu einem »Typ Gaststätte«, zu einem Ort, »an dem das Ambiente und die Art der Dienstleistungen in der Spannung von Wärmstube und Luxusrestaurant liegen«. Das mag irritieren, aber wer denkt da nicht sofort an eine IKEA-Filiale? Das Unternehmen hat es geschafft, zum weltweiten Symbol für das Wohnen im 20. Jahrhundert zu werden – und wird es wohl noch lange bleiben.

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