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Aus: Ausgabe vom 17.10.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kunst

Die Revolution leben

Die Viennale widmet dem linken Filmemacher Robert Kramer eine Retrospektive
Von Stefan Ripplinger
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Von der Revolution wird nicht bloß gequatscht: »Ice« (1969)

Was sind das für Typen, die seinerzeit den US-Präsidenten killen wollten? Robert Kramer (1939–1999) zeigt sie in »The Edge« (1967). Es sind Existenzialisten, die sich aufopfern, Anarchisten, die Kropotkin gelesen haben, es sind Menschen mit kaputten Ehen, miesen Jobs; Vietnam treibt sie um. Die Zögerer, Miesmacher und Verräter sind ebenfalls nicht weit – und auch eine der zentralen Figuren in Kramers Universum hat ihren Auftritt: der Töpfer. Wie die meisten seiner Filme analysiert »The Edge« das Scheitern der Linken in langen Konversationen. Und das Seltsame ist, dass man lieber mit diesen Leuten scheitern, als mit den Spießern davonkommen will. Die Viennale zeigt gerade eine Retrospektive auf das faszinierende Werk Kramers. Begleitend sind die Gespräche, die der Filmhistoriker Bernard Eisenschitz mit ihm geführt hat, in einer vervollständigten Fassung herausgekommen.

Auf »The Edge« folgte »Ice« (1969), ebenfalls ein Konversationsstück, und diesmal wird von der Revolution nicht nur gequatscht, ein Politiker wird erschossen, ein Gebäude gesprengt, Massen werden mobilisiert. Doch das findet alles in der Mitte des Films statt, die umgeben ist von zermürbenden Diskussionen, kurzen Lehrgängen über »falsches Bewusstsein«, dokumentarischen Bildern aus Vietnam und Afrika oder einem Agitprop-Spaß mit einem die »herrschende Klasse« repräsentierenden Roboter, der es mit einer V2-Rakete treibt. Und auch die Mittelklasse kommt in Gestalt einer jungen Lehrerin gebührend zu Wort. Sie empfiehlt unter anderem, Kinder hart anzupacken. Der Aufstand als blutige Insel inmitten eines Ozeans der Banalitäten – der Grundgedanke Kramers, es gehe nicht um revolutionäre Ereignisse, sondern darum, die Revolution zu leben, zeigte sich früh und ausgesprochen ironisch.

Nachdem Kramer für »In the Country« (1966) noch mit William Devane, einem der besten Schauspieler seiner Generation, zusammengearbeitet hatte, waren die Darstellerinnen und Darsteller in »The Edge« und »Ice« sämtlich Laien. Sie treten so ernst und sicher auf, die schwere 35-Millimeter-Kamera wird von Robert Machover – eigentlich einem Direct-Cinema-Mann – so souverän geführt, dass es einem heute wie ein Wunder vorkommt. Ein Wunder sind die frühen Filme Kramers auch deshalb, weil die Mitwirkenden wenig Lust auf sie verspürten. Die meisten von ihnen waren wie er selbst an der linksradikalen Agentur Newsreel beteiligt und hätten sich lieber mit militanten Aktionen befasst, und sei es, Deserteure außer Landes zu schaffen oder ärztliche Hilfe für die Black Panthers zu organisieren.

Auch Kramer möchte in seinem Gespräch mit Eisenschitz statt von Kunst lieber von seinem politischen Leben sprechen, etwa von seinen Reisen nach Vietnam oder nach Israel, wo seine Mutter lebte. Während des Sechstagekriegs dachte er kurz darüber nach, sich einziehen zu lassen, aber dann war der Krieg auch schon vorbei, Kramer sah, wie sich die Besatzungsarmee in Jerusalem benahm, und sein Verhältnis zum israelischen Staat kühlte merklich ab. Lebte er noch, er wäre einer der linken Juden, die in Deutschland nicht mehr willkommen sind.

Nach einigen Jahren Pause drehte er zusammen mit John Douglas – der darin ausgerechnet einen blinden Töpfer spielt – »Milestones« (1975), ein Panora­ma der Neuen Linken, wie es kein zweites gibt. Der Krieg war (vorläufig) vorüber, die Revolution abgesagt, es galt, das Leben neu zu organisieren, in der Landkommune oder in der Fabrik, mit Kindern oder ohne, im Privaten oder weiterhin im Kampf (etwa für die Ureinwohner). Noch wirken, so in den Szenen mit der Schriftstellerin Grace Paley oder in den Alpträumen des GI Terry (Jay Foley), die Erfahrungen von Vietnam nach, noch mussten die bitteren Knastjahre aufgearbeitet werden. »Milestones« – der Titel entstammt einem Gedicht von Ho Chi Minh – verbindet teils schockierende Dokumente mit Spielszenen und Gesprächen, ist sehr viel nervöser und sprunghafter als die frühen Filme; die Montage des dreieinhalbstündigen Meisterwerks dauerte ein ganzes Jahr. Es gibt rauschhafte Szenen darin, und doch ist es ein Abgesang. Danach brach Kramer seine Zelte ab und zog erst nach Portugal, weil da »noch etwas läuft«, dann nach Paris.

In Europa entstanden zuerst die »­Scenes from the Class Struggle in Portugal« (1977) und der Politthriller »Guns« (1980). Kramer erzählt, dass er sich bei der Produktion von »Guns« vorgekommen sei, als hätte er noch nie einen Film gedreht. Anstatt Geld zusammenklauben zu müssen, gab es eine ordentliche Finanzierung, doch das bedeutete zugleich, einen Produktionsplan einzuhalten. »Die Vorstellung, dass ich wissen sollte, was ich in fünf Tagen drehe, war absurd.« Die Darstellerinnen und Darsteller waren nun nicht mehr natürlich begabte Linke aus den USA, die sich in Gesten und hingeworfenen Wörtern ausdrücken, sondern europäische Profis, die umständliche Sätze deklamieren. Doch das verleiht dem Ganzen größere ästhetische Distanz. Kramer erzählt seine verschlungene, finstere Geschichte bewundernswert ruhig, musikalisch diskret begleitet von dem Jazzbassisten Barre Phillips. »Alle Geschichte ist die Geschichte von Waffen.« Auch dieser Kampf musste verlorengehen.

Das Thema des Scheiterns der antiimperialistischen Linken gewann mit jedem Jahr an Wahrheit. Kramer verdichtete es poetisch in seinem von Paul Mc­Isaac dargestellten Alter ego, dem »Doc« (»Doc’s Kingdom«, 1987; »­Route One/USA«, 1989, »Dear Doc«, 1990). Der Doc ist wie der Vater des Filmemachers Arzt, aber steht, ob in Portugal oder in den USA, in Diensten der Unterdrückten. Er ist einer, der hilft, aber weiß, dass er nicht viel ändern kann. »Es lässt sich nicht von einem gesunden Körper sprechen, ohne auch darüber zu sprechen, wie gesund seine gesellschaftliche Umgebung ist.« Der Doc hat Entsetzliches durchgemacht und hängt nun an der Flasche. Aber er ist, und das ist vielleicht die Lehre aller Filme von Kramer, als einer, der gegen das Imperium, gegen die Macht lebt, immer noch mit der Revolution verbunden.

Der wohl ungewöhnlichste Film unter so vielen ungewöhnlichen ist »Berlin 10/90« – gedreht auf Video am 25. Oktober 1990 in Berlin, zwischen Viertel nach drei und Viertel nach vier Uhr nachmittags. Wir sehen den glatzköpfigen Robert Kramer in einem an eine Folterkammer der Gestapo gemahnenden Badezimmer einen Monolog über den Reichstagsbrand, über Ezra Pound, über seine Eltern und gegen die Wiedervereinigung halten. Hätte er sich im Einheitsdeutschland, wo ihn eh niemand kennt, unmöglich machen müssen, mit diesem Film wäre es ihm gelungen.

Retrospektive: Robert Kramer. ­Viennale und Österreichisches Filmmuseum, Wien, 18.10.–28.11.2024

Bernard Eisenschitz: Starting Places. A Conversation with Robert Kramer. Herausgegeben von Volker Pantenburg. Österreichisches Filmmuseum, Synema, Wien 2024, 223 Seiten, 24 Euro

Die Filme von Robert Kramer erscheinen in einer noch nicht abgeschlossenen Werkausgabe bei Re:Voir, Paris

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