Unter Kuratel gestellt
Von Joachim GuilliardUmfassende Wirtschaftssanktionen haben sich mittlerweile zum bevorzugten Mittel der USA und ihren Verbündeten zur Durchsetzung ihrer Interessen und zum Niederringen ihrer Gegner entwickelt. Gleichzeitig nahmen Kritik und Widerstand gegen solche eigenmächtig verhängten Maßnahmen stark zu, vor allem im globalen Süden, wo sie als völkerrechtswidrige, neokoloniale Interventionen angesehen werden. Mit dem Wirtschaftskrieg gegen Russland bekamen die internationalen Auseinandersetzungen um sie eine neue Dynamik. Die praktischen Maßnahmen, die nun zunehmend im globalen Süden zur Überwindung, Umgehung und Vorbeugung gegen Wirtschaftsblockaden ergriffen werden, richten sich auch gegen die westliche Dominanz generell und beschleunigen so die Umbrüche in eine multipolare Welt.¹
Waren bis zum Ende des Kalten Krieges nur wenige Länder mit Wirtschaftssanktionen konfrontiert, so wuchs die Zahl von 1990 bis Anfang 2023 auf 27 Prozent aller Länder.² Wobei der Begriff »Sanktionen« strenggenommen nur bei solchen Restriktionen korrekt ist, die vom UN-Sicherheitsrat verhängt werden, da nur sie allgemein als legitim angesehen werden. Tatsächlich haben wir es überwiegend mit eigenmächtigen Zwangsmaßnahmen der USA zu tun, die in rund der Hälfte der Fälle von der EU mitgetragen werden. Diese richten sich in unterschiedlicher Schärfe mittlerweile gegen mehr als 40 Länder, gemessen an der Bevölkerung faktisch gegen ein Drittel der Menschheit.
Im Visier seit Jahrzehnten
Die heute am stärksten betroffenen Länder waren allerdings schon vor 1990 umfassenden Wirtschaftsblockaden ausgesetzt: Nordkorea, Kuba, Iran und Syrien sowie Russland als Teil der Sowjetunion. Nordkorea unterliegt seit dem Beginn des Koreakriegs 1950 Embargomaßnahmen der USA und seit 2006 auch UN-Sanktionen. In Kombination laufen sie auf ein fast vollständiges Verbot von Handel, Investitionen und Finanztransaktionen mit dem Land hinaus.
Kuba ist seit fast 60 Jahren mit einer Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade konfrontiert, als Fortsetzung der militärischen und geheimdienstlichen Operationen, die die USA ab Ende 1959 nach dem Sturz der Batista-Diktatur gegen die revolutionäre Regierung eingeleitet hatten. Sie zielen auf einen Umsturz und darauf, die Entwicklung des Landes zu behindern. Wie auch in den anderen Fällen dienen sie zudem der Abschreckung. Die Insel soll auf keinen Fall Vorbild für andere arme Länder des Südens sein. Mit den Torricelli- und Helms-Burton-Gesetzen von 1992 bzw. 1996 zwingt Washington mittels »sekundärer Sanktionen« auch Unternehmen und Finanzinstitute von Drittländern zur Beteiligung an der Blockade, um die Insel weitgehend vom internationalen Handels- und Finanzsystem zu isolieren.
Ähnlich umfassenden Blockademaßnahmen ist auch der Iran ausgesetzt. Die USA haben sie ab 1979, nach dem Sturz Schah Reza Pahlavis, ihres wichtigsten Verbündeten in der Region, verhängt und stetig erweitert. Seit 1995 unterliegt die Islamische Republik einer umfassenden Blockade, zu deren Einhaltung mit dem »Iran and Libya Sanctions Act« von 1996 ebenfalls »sekundäre Sanktionen« in Kraft gesetzt wurden.
Auch Syrien ist schon seit 1979 mit US-amerikanischen Zwangsmaßnahmen konfrontiert. Washington hatte das Land in diesem gravierenden Umbruchjahr wegen seiner Unterstützung palästinensischer und anderer antiimperialistischer Organisationen auf seine Liste »staatlicher Terrorismusförderer« gesetzt.
Die vier Beispiele weisen bereits deutlich auf Charakter und Ziele westlicher Zwangsmaßnahmen hin, die offiziell gerne mit angeblichen Bedrohungen durch die angegriffenen Länder, Menschenrechtsverletzungen und ähnlichem gerechtfertigt werden. Es geht offensichtlich um Schwächung, Destabilisierung und Regime-Change.
Auch wenn sie im Westen mittlerweile etwas kritischer gesehen werden, gelten Sanktionen dennoch weithin als probates, legitimes Mittel, mit dem Verstöße gegen das Völkerrecht geahndet und Länder zur Einhaltung von Menschenrechten gezwungen werden können. Praktisch können aber nur wirtschaftlich dominierende Mächte oder Bündnisse eigenmächtig wirksame Blockademaßnahmen durchsetzen, die selbst wiederum nie Ziel solcher Maßnahmen werden können, selbst nicht bei den schlimmsten eigenen Verbrechen. Und angewendet werden auch sie – wie immer – nur in Verfolgung eigener Interessen. Daher fördern Sanktionen keineswegs die »Stärke des Rechts«, wie unter anderem führende Politiker von Bündnis 90/Die Grünen hierzulande gerne ins Feld führen, sondern setzen lediglich das »Recht des Stärkeren« durch. Sie bleiben daher selbst in Fällen, in denen die vorgebrachten Gründe berechtigt erscheinen, Akte der Willkür und gehören, so Hans Köchler von der International Progress Organization in Wien, letztlich zum »Arsenal des Faustrechts«.³
Wirtschaftsblockaden werden auch fast nur von den USA und ihren Verbündeten verhängt, und das in zunehmendem Maße. Sie richten sich ausnahmslos gegen Länder, die als Gegner oder Rivalen der USA und ihren Verbündeten gesehen werden oder sich nicht willig genug ihren wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen unterwerfen wollen. Sieht man vom Wirtschaftskrieg gegen Russland ab, sind es in erster Linie ärmere Entwicklungsländer des globalen Südens, deren Wirtschaft von imperialistischen und ehemaligen Kolonialmächten angegriffen wird. Ihre erpresserischen Maßnahmen müssen daher auch als eine Form des Neokolonialismus angesehen werden.
Für die USA und die EU sind umfassende Zwangsmaßnahmen Mittel, die unterhalb der Schwelle militärischer Angriffe bleiben – als günstigere Alternative mit wesentlich geringeren Risiken und Nebenwirkungen für die Angreifer. Da sie unblutig wirken, ist es leichter, öffentliche Unterstützung für sie zu finden und sie, ohne größere Aufmerksamkeit zu erwecken, einzusetzen. Sie können sich aber rasch zu regelrechten Wirtschaftskriegen auswachsen, die ebenfalls tödlich und zerstörerisch sind. Denn sie haben das Potential, in den betroffenen Ländern Jahrzehnte des Fortschritts in zentralen Bereichen wie Gesundheitsversorgung, Wohnen, Basisinfrastruktur und industrieller Entwicklung zunichte zu machen.⁴ Sie bergen zudem stets die Gefahr, in eine offene militärische Konfrontation zu eskalieren.
Schärfste Waffe: Finanzblockaden
Die USA setzen mittlerweile bevorzugt Finanzblockaden ein, die vom Verbot bestimmter Transaktionen über das Sperren von Konten bis hin zum vollständigen Ausschluss vom US-Finanzmarkt reichen. Sie stützen sich auf die zentrale Rolle der Finanzinstitute des Landes bei der Abwicklung von grenzüberschreitenden Finanztransaktionen und die dominante Rolle des US-Dollars als globale Leit-, Reserve- und Transaktionswährung.
Bei internationalen Geschäften führt meist kein Weg an US-Finanzinstituten vorbei. Dadurch haben die Behörden des Landes umfangreiche Eingriffsmöglichkeiten. Gerechtfertigt werden diese mit der Auffassung, dass man sich schon bei der bloßen Durchleitung über US-Konten oder der Verwendung des Dollars unter US-Hoheit begibt, auch wenn Sender und Empfänger in anderen Ländern sitzen und auch sonst kein Bezug zu den Vereinigten Staaten besteht. Blockaden in diesem Bereich sind daher die effektivste und am universellsten einsetzbare Sanktionswaffe der USA. Im Unterschied zu klassischen Embargomaßnahmen, wie Beschränkungen von Ex- und Importen, entfalten sie auch ohne internationale Unterstützung eine starke Wirkung.
Finanzblockaden spielen auch bei der Durchsetzung von »Sekundärsanktionen« eine zentrale Rolle, um Personen und Unternehmen von Drittstaaten weltweit zu zwingen, US-Embargovorschriften einzuhalten. Bei Zuwiderhandlung drohen der Entzug von Vermögenswerten, hohe Strafzahlungen oder gar der Ausschluss von den US-Märkten. »Sekundärsanktionen« werden international nahezu einhellig als völkerrechtswidrig verurteilt – eigentlich auch von der EU. Als Reaktion auf das Helms-Burton-Gesetz gegen Kuba erließ Brüssel 1996 eine Verordnung »zum Schutz vor den Auswirkungen der extraterritorialen Anwendung von einem Drittland erlassener Rechtsakte«.⁵ Sie verbietet sogar explizit das Befolgen von Sekundärsanktionen, bleibt jedoch völlig zahnlos, da die EU nicht fähig ist, EU-Bürger und Unternehmen vor US-amerikanischen Erpressungen zu schützen.
Im Wirtschaftskrieg gegen Russland hat Brüssel im vergangenen Jahr begonnen, selbst »Sekundärsanktionen« gegen Unternehmen anzudrohen.⁶ Und europäische Denkfabriken drängen die EU-Staaten, noch stärker auf ökonomischen Zwang in der Verfolgung der wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen zu setzen. »Im Jahrhundert des Wettbewerbs zwischen China und dem Westen« werde »das Reich der Geoökonomie wahrscheinlich die zentrale Front« darstellen, legt beispielsweise der European Council on Foreign Relations in einer Analyse vom April 2023 dar. Die Autoren sprechen sich für eine »geoökonomische NATO« aus, die Forum für EU, USA und Großbritannien sein soll, um Entscheidungen über wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen zu koordinieren.⁷
Tödliche Folgen
Parallel zur Ausweitung der Wirtschaftsblockaden wächst auch der Widerstand dagegen. Er entzündet sich hauptsächlich an den verheerenden humanitären Auswirkungen. Breite Kritik setzte vor allem mit den katastrophalen Folgen des 1990 gegen den Irak verhängten Embargos ein, das über eine Million Iraker das Leben kostete. Das Embargo wurde zwar vom UN-Sicherheitsrat verhängt, eine Aufhebung jedoch von den USA und Großbritannien blockiert.
Auch wenn nicht so verheerend wie im Irak, verschlechtern alle umfassenden ökonomischen Zwangsmaßnahmen, sobald sie effektiv werden, unweigerlich die Lebensverhältnisse der Bevölkerung. Besonders stark leiden arme, kranke und alte Menschen. Zahlreiche Studien belegen die drastischen negativen Folgen, die vom Einbruch des Pro-Kopf-Einkommens, über eine Verschlechterung der Gesundheitsversorgung und eine Zunahme extremer Armut und Ungleichheit bis hin zu höherer Sterblichkeit reichen.
Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei den betroffenen Staaten meist um Entwicklungsländer handelt, die ohnehin mit finanziellen und entwicklungspolitischen Problemen zu kämpfen haben.
Die schädlichen Auswirkungen auf die Menschen in den betroffenen Ländern sind keineswegs »bedauerliche Kollateralschäden«, sondern gehören – entgegen allen Beteuerungen – zum Kalkül. Schließlich soll die Verschlechterung der Lebensbedingungen zu öffentlichem Druck auf die Regierung führen, den Forderungen der blockierenden Mächte nachzugeben, oder, wie zum Beispiel im Fall von Kuba, Syrien oder Iran, gar zum Aufstand.
Neben Menschenrechtsorganisationen halten daher auch UN-Organisationen wie das Welternährungsprogramm und UNICEF sowie die Weltgesundheitsorganisation ökonomische Zwangsmaßnahmen nicht mit dem Völkerrecht vereinbar. Sie verstoßen demnach unter anderem gegen die in der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« von 1948 fixierten Rechte. Zu diesen zählen das Recht auf Leben, auf angemessene Ernährung und Gesundheitsversorgung sowie auf soziale Sicherheit. Außerdem verstoßen sie klar gegen die verbindlichen Bestimmungen des »Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte« von 1966, den auch alle westlichen Staaten unterzeichnet haben. Dort heißt es in Artikel 1: »In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.«
Bereits Anfang 2000 konstatierte der renommierte belgische Völkerrechtler Marc Bossuyt in einem Gutachten für die UN-Menschenrechtskommission: »Die ›Theorie‹ hinter Wirtschaftssanktionen ist, dass ökonomischer Druck auf die Zivilbevölkerung in Druck auf die Regierung übersetzt wird, ihre Politik zu ändern. Diese Theorie ist bankrott, sowohl rechtlich wie praktisch.«⁸
Bankrott ist diese Theorie auch, weil selbst umfassende Wirtschaftsblockaden bisher belegbar kaum Erfolg hatten. Nur in seltenen Fällen gelang es, die erklärten Ziele zu erreichen, das heißt, das Verhalten eines Zielstaates in der gewünschten Weise zu ändern.⁹ Einen Krieg beenden konnten sie nie. Statt Revolten anzustacheln oder gar gegnerische Regierungen zu Fall zu bringen, haben sie in den meisten Fällen die Position der herrschenden Eliten eher gefestigt.
Gegen das Völkerrecht
Im Westen beschränkt sich Kritik an Wirtschaftsblockaden überwiegend auf ihre humanitären Auswirkungen sowie ihre mangelnden Erfolge. Ihre völkerrechtliche Legitimität wird auch von den Kritikern meist nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Statt dessen denken sie intensiv darüber nach, wie man ökonomischen Zwang als Instrument nutzen kann, ohne sich Vorwürfen wegen zu negativer Auswirkungen auszusetzen.
In den Ländern des globalen Südens herrscht überwiegend eine völlig konträre Sichtweise. Die negativen Folgen werden hier noch viel schärfer kritisiert, ebenso wie die anmaßende Einmischung des Westens. Vertreter des globalen Südens pochen daher auf die in der UN-Charta verankerten Grundsätze der »souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder« und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates. Diese wurden in den 1960er Jahren durch eine Reihe von Resolutionen der UN-Generalversammlung zum Interventionsverbot weiterentwickelt und gewohnheitsrechtlich verankert.
Mit dem US-Embargo gegen Kuba kam auch der Kampf gegen eigenmächtige Zwangsmaßnahmen auf die Agenda. In der »Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten«, die von der UN-Vollversammlung 1974 verabschiedet wurde, ist festgeschrieben, dass kein Staat wirtschaftliche, politische oder sonstige Maßnahmen anwenden darf, um einen anderen Staat zur Unterordnung zu nötigen oder sich sonstige Vorteile irgendwelcher Art zu verschaffen.
Im Dezember 1983 stimmte die Mehrheit der Staaten für eine UN-Resolution, die sich direkt gegen »Wirtschaftliche Maßnahmen als Mittel des politischen und wirtschaftlichen Zwangs gegen Entwicklungsländer« richtet. Sie verurteilt die Praxis industriell hochentwickelter Länder, ihre dominante Stellung in der Weltwirtschaft gegenüber Entwicklungsländern auszunutzen. Ab 1987 wurden alle zwei Jahre solche Resolutionen von der »Gruppe der 77« und China eingebracht und mit deutlicher Mehrheit angenommen. In den Folgeresolutionen wurde die internationale Gemeinschaft auch aufgefordert, »dringend wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung einseitiger wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen gegen Entwicklungsländer durch einige Industrieländer zu unterbinden«.¹⁰
Seit 1996 wird zusätzlich jedes Jahr eine weitere Resolution verabschiedet, die – eingebracht von der Bewegung der Blockfreien Staaten (NAM) – unter der Überschrift »Menschenrechte und einseitige Zwangsmaßnahmen« noch stärker die humanitären Folgen der westlichen Sanktionspraxis anprangert und noch klarer ihre Unvereinbarkeit mit internationalem Recht und universellen Menschenrechten betont.¹¹
Diese Resolutionen sind in der Folge immer weiter präzisiert und erweitert worden.¹² Die letzte, am 15. Dezember 2022 von der Generalversammlung verabschiedet, führt in ihrer auf mittlerweile 34 Punkte angewachsenen Liste eine breite Palette von Rechtsverstößen und schädlichen Auswirkungen auf. So werden die eigenmächtigen Zwangsmaßnahmen nun auch als »größtes Hindernis« für die Verwirklichung des »Rechts auf Entwicklung und der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung« verurteilt. Schließlich drängt die Mehrheit der UN-Mitglieder auch auf wirksame Gegenmaßnahmen und bekräftigt ihr »Engagement für die internationale Zusammenarbeit und den Multilateralismus«.
Sie wurde mit 123 Ja- gegen 53 Nein-Stimmen angenommen. Dem Nein der NATO- und EU-Staaten und ihren engen Verbündeten Australien, Israel, Japan, Neuseeland, Schweiz und Südkorea schlossen sich aus dem Süden nur Kleinstaaten wie die Marshallinseln, Mikronesien oder Palau an, die völlig vom Westen abhängig sind.
In der Resolution wird mit Verweis auf die Vielzahl relevanter internationaler Abkommen und Beschlüsse überzeugend begründet, dass »einseitige Zwangsmaßnahmen und -gesetze gegen das Völkerrecht, das humanitäre Völkerrecht, die Charta der Vereinten Nationen und die Normen und Grundsätze zur Regelung der friedlichen Beziehungen zwischen den Staaten verstoßen«.
Die sehr sorgfältig formulierten Resolutionen spiegeln das Völkerrechtsverständnis wider, das sich im globalen Süden herausgebildet hat. Dazu zählt insbesondere eine weite Auslegung des Interventionsverbotes. Die Abstimmungsergebnisse wiederum zeigen die tiefe Kluft zwischen ihm und der im Westen vorherrschenden Sicht.
Ignoranz des Westens
Trotz ihrer breiten Unterstützung werden die Resolutionen gegen Zwangsmaßnahmen im Westen völlig ignoriert. Die USA erklären diese schlicht für irrelevant, da sie das souveräne Recht der Staaten in Frage stellen würden, »ihre Wirtschaftsbeziehungen frei zu gestalten und legitime nationale Interessen zu schützen«. Unilaterale Sanktionen seien ein »legitimes Mittel«, um »außenpolitische, sicherheitspolitische und andere nationale und internationale Ziele zu erreichen«.
Die EU-Staaten teilen diesen Standpunkt weitgehend. Auch sie beharren darauf, dass von einem völkerrechtswidrigen, unter das Interventionsverbot fallenden Zwang überhaupt keine Rede sein könne, da es schließlich jedem Land freistehe, zu entscheiden, mit wem es wie viel Handel treiben möchte.
Diese plumpe Argumentation halten jedoch selbst die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages für nicht haltbar. Sie stellen fest, dass unilaterale Zwangsmaßnahmen als »extreme Formen der Druckausübung« gelten und unter das Interventionsverbot fallen, sobald sie »die Schwelle der Erheblichkeit überschreiten«, indem sie vitale Staatsinteressen berühren und den sanktionierten Staat in der Ausübung seiner Souveränität spürbar behindern.¹³ Das ist bei den westlichen Embargos, angesichts des enormen wirtschaftlichen Erpressungspotentials, über das die USA und die alten Kolonialmächte verfügen, sicher der Fall.
Katalysator für Multipolarität
Angesichts der mehrheitlichen Ablehnung verwundert es nicht, dass viele Länder schon seit langem helfen, Wirtschaftsblockaden zu umgehen. Der Wirtschaftskrieg gegen Russland hat dieser Tendenz einen regelrechten Schub gegeben. Die vom Westen gegen Russland verhängten Blockademaßnahmen sind zwar die bisher umfassendsten der Geschichte.¹⁴ Die gewünschte Wirkung trat aber bekanntlich bis zu diesem Zeitpunkt nicht ein, ganz im Gegenteil. Außerdem bleiben die NATO-Staaten in ihren Bemühungen ziemlich isoliert. Nur fünf Staaten außerhalb der NATO und der EU beteiligen sich mehr oder weniger aktiv: Australien, Japan, Neuseeland, Schweiz und Südkorea. Die übrigen Staaten führen ihre Zusammenarbeit mit Russland nicht nur fort, sondern haben sie zum Teil sogar noch intensiviert.
Auch der Iran konnte in dieser Gemengelage seine wirtschaftlichen und politischen Beziehungen in jüngster Zeit stark ausbauen, zum einen durch engere Kooperation mit Russland, vor allem aber durch den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit asiatischen Staaten. China ist mittlerweile der mit Abstand größte Handelspartner, und in dessen oft als »neue Seidenstraße« bezeichneten »Belt and Road Initiative« spielt der Iran schon aufgrund seiner Lage eine zentrale Rolle. Indien und andere asiatische Staaten haben begonnen, den Handel und die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Islamischen Republik auszuweiten, vor allem durch größere Ölimporte. Zudem baut der Iran in Kooperation mit seinen Nachbarn große Transportkorridore auf seinem Territorium aus und integriert sich auf diese Weise immer stärker regional. Mit der Vollmitgliedschaft in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, dem bedeutendsten sicherheits- und wirtschaftspolitischen Bündnis Asiens, konnte er diese Integration institutionalisieren. Nicht zuletzt wird die iranische Position gegenüber dem Westen durch die Aufnahme in die Staatengemeinschaft BRICS (ursprünglich Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) entscheidend gestärkt.
Die ausufernden westlichen Wirtschaftsblockaden, gar verbunden mit dem Einfrieren von Guthaben der angegriffenen Länder, sowie ihr Ausschluss aus dem US-amerikanischen Finanzwesen und dem internationalen Finanzkommunikationsnetzwerk SWIFT, befeuern das Streben nach wirtschaftlicher und finanzieller Unabhängigkeit von den USA und der EU. Viele Länder arbeiten nun mit Nachdruck daran, sich vom Dollar und dem US-dominierten Finanzsystem abzukoppeln – naheliegenderweise gemeinsam mit China, Russland und Iran. Auch in weiteren Bereichen zeigt sich eine zunehmend engere Kooperation der Länder des globalen Südens, um sich aus Abhängigkeiten vom Westen und von westlicher Bevormundung zu befreien. Die Wirtschaftskriege der USA und der EU wirken dabei offensichtlich als Katalysatoren. Sie zwingen viele Länder zur Kooperation, da sie die reale Gefahr sehen, selbst getroffen zu werden, oder weil sie den Erpressungen durch »Sekundärsanktionen« entgehen wollen, die ihre Souveränität einschränken und ihnen wirtschaftlich schaden.
Anmerkungen:
1 Siehe hierzu ausführlich: Joachim Guilliard: Arsenal des Faustrechts, Wirtschaftsblockaden, Menschenrechte und der Widerstand des Südens, in: IMI-Studie (2024), Nr. 4
2 Francisco R. Rodríguez: The Human Consequences of Economic Sanctions, Center for Economic and Policy Research (CEPR) (4.5.2023)
3 Hans Köchler: Sanktionen aus völkerrechtlicher Sicht, International Progress Organization (2018)
4 Siehe hier auch: Joachim Guilliard: Keine zivile Alternative, junge Welt (7.1.2023)
5 Verordnung (EG) Nr. 2271/96 des EU-Rates vom 22. November 1996 zum Schutz vor den Auswirkungen der extraterritorialen Anwendung von einem Drittland erlassener Rechtsakte sowie von darauf beruhenden oder sich daraus ergebenden Maßnahmen
6 EU will erstmals wegen Ukraine-Krieg chinesische Firmen sanktionieren, Berliner Zeitung (8.5.2023)
7 Jana Puglierin; Jeremy Shapiro: The art of vassalisation: How Russia›s war on Ukraine has transformed transatlantic relations, ECFR Policy Brief (4.4.2023)
8 Marc Bossuyt: The Adverse consequences of economic sanctions on the enjoyment of human rights, Economic and Social Council (21.6.2000)
9 Manuel Oechslin: Targeting autocrats: Economic sanctions and regime change, in: European Journal of Political Economy (2014), Nr. 36, S. 24–40
10 Economic measures as means of political and economic coercion against developing countries, UNGV, A/RES/42/173 (11.12.1987)
11 Menschenrechte und einseitige Zwangsmaßnahmen, Deutscher Übersetzungsdienst der UNO (3.3.1997)
12 Forciert vor allem durch Juristen aus dem Süden, unter anderem im Rahmen der Asian–African Legal Consultative Organization. Diese zwischenstaatliche Organisation, zu deren 50 Mitgliedern auch Japan, Indien und Thailand gehören, hat das Thema »Extraterritoriale Anwendung nationaler Rechtsvorschriften: Sanktionen gegen Dritte« seit 1997 auf der Agenda.
13 Rechtsfragen zu völkerrechtlichen Sanktionen, Wissenschaftlicher Dienste des Deutschen Bundestages (8.7.2019)
14 Eine Übersicht über die EU-Maßnahmen gegen Russland findet man bei den Wirtschaftskammern Österreichs: https://t1p.de/Russland-Sanktionen
Joachim Guilliard ist aktiv in der Friedensbewegung. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 16. August 2023 über die westlichen Sanktionen gegen Afghanistan
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Markus P. aus Frankfurt (18. Oktober 2024 um 03:08 Uhr)Was für ein toller und aufschlussreicher Artikel. Hätte mir noch mehr zur Einordnung der Natur der Russland-Maßnahmen (die ja nicht auf staatseigene Angelegenheiten zielen) im Vergleich zu den hier vor allem beschriebenen, auf Einmischungen in fremde Staatsangelegenheiten zielenden Zwangsmaßnahmen gewünscht. In dem Zusammenhang auch zur Rolle die Art. 53 UN-Charta und der implizite Ausschluss von Zwangsmaßnahmen lt. 1. und 2. Russlandresolution (UNGA-Res. ES-11/1 Nr. 14 und ES-11/2 Nr. 13) i.V.m. UNGA-Res. 377 vor dem Hintergrund von Art. 53 haben. Die Quellenangaben sind super und ich halte sie für alle Artikel für ebenso erforderlich wie selbstverständlich.
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