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Aus: Ausgabe vom 19.10.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Ukrainischer Faschismus

»Dieser Faschismus war vom Nazismus inspiriert«

In einigen Tagen erscheint im Verlag 8. Mai der Band »Der Bandera-Komplex« mit den Materialien einer wissenschaftlichen Konferenz. Ein Gespräch mit der Herausgeberin Susann Witt-Stahl
Von Arnold Schölzel
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Ein Monument für die UPA auf dem ukrainischen St.-Wolodimir-Friedhof in Oakville, Kanada

Am 29. Oktober 2023 veranstalteten die Tageszeitung junge Welt und das Magazin für Gegenkultur M&R in Berlin die wissenschaftliche Konferenz »Der Bandera-Komplex. Der ukrainische Faschismus – Geschichte, Funktion, Netzwerke«. Unter dem selben Titel erscheint am 6. November im Verlag 8. Mai ein Band mit Materialien der Tagung (352 Seiten; 23,90 Euro), herausgegeben von M&R-Chefredakteurin Susann Witt-Stahl. Das Buch kann über jungewelt-shop.de bereits bestellt werden.

An diesem Sonnabend, dem 19. Oktober, stellt Susann Witt-Stahl um 14 Uhr am Stand des Verlages auf der Buchmesse in Frankfurt am Main (Halle 3.1, B 48) den Band vor. Über das Ziel der Konferenz und des Buches sprach mit ihr Arnold Schölzel.

Warum ist die Beschäftigung mit ukrainischem Faschismus in Deutschland nötig?

Schon aus seinem Vorläufer, dem integralen Nationalismus, »krochen die deutschen Bajonette«, wie Rosa Luxemburg 1918 zum Raubfrieden von Brest anmerkte. Das gilt allemal für den entwickelten Faschismus der Organisation Ukrainischer Nationalisten, OUN, besonders für ihren radikalen Flügel OUN-B unter der Führung von Stepan Bandera. Dieser Faschismus war vom Nazismus ideologisch inspiriert. Seine Anhänger wurden von Hitlerdeutschland ausgebildet – Mikola Lebed zum Beispiel, Chef des OUN-B-Sicherheitsdienstes, hat das Foltern bei der Gestapo gelernt. OUN-Kämpfer wirkten in der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS oder in der Ukrainischen Aufständischen Armee, der UPA, am Holocaust und Vernichtungskrieg mit. Im Kalten Krieg sorgte die Adenauer-Regierung mit dafür, dass die OUN-B 1946 aus ihrem mit Hilfe britischer und US-amerikanischer Geheimdienste in München aufgeschlagenen Hauptquartier heraus den »Anti-Bolshevik Bloc of Nations«, ABN, die mächtigste Dachorganisation ehemaliger Hitler-Kollaborateure weltweit, aufbauen konnte. Heute rüstet eine deutsche Ampelregierung die größtenteils in die Kiewer Armee integrierten Nachfolger der UPA und andere ukrai­nische Faschistenhorden aus. So ist der Gruß »Slawa Ukrajini!«, die Version der OUN von »Sieg Heil!«, den ein deutscher Bundeskanzler seit 2022 wiederholt zu offiziellen Anlässen ausgestoßen hat, durchaus als Bekenntnis zu verstehen – und zwar zu einem mehr als ein Jahrhundert währenden Bündnis des deutschen Imperialismus mit dem ukrainischen Nationalismus als Durchsetzungsinstrument gegen Russland. Daher wäre es ein klägliches politisches und historisches Versagen, sich nicht mit dem ukrainischen Faschismus zu befassen.

Wie sieht es mit der Quellenlage zu diesem Thema in der Bundesrepublik und international aus?

Besser als erwartet – jedenfalls, was die Geschichte der OUN und des Banderismus bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs anbelangt. Historiker wie John-Paul Himka, Per Rudling und der Bandera-Biograph Grzegorz Rossoliński-Liebe haben wichtige Arbeit geleistet. Es finden sich in Archiven und Bibliotheken von Forschungseinrichtungen, auch in den westlichen Ländern mit großen ukrainischen Diaspora-Communitys, etwa den USA und Kanada, noch viele Originalquellen. Überliefert ist etwa das Schreiben von Banderas Stellvertreter, Jaroslaw Stezko, von 1941, in dem er der Führung Hitlerdeutschlands seine Unterstützung für die »Methoden der Ausrottung des Judentums« versichert hatte. Aber in der Ukraine gibt es ein großes Problem: Die OUN und ihre Lobby, die seit der Präsidentschaft von Wiktor Juschtschenko in Kiewer Regierungen hineinwirkt, betreiben im großen Stil Fälschung ihrer eigenen Geschichte. Allen voran Wladimir Wjatrowitsch, der banderistische »Gedächtniszar« des Landes: Er hat während seiner Amtszeit als Direktor des staatlichen Ukrainischen Instituts für Nationale Erinnerung, UINP, zu dem ihn die von Faschisten kontrollierte Maidan-Putschregierung ernannt hatte, irreversibles Unheil angerichtet.

Können Sie ein Beispiel für das, was Wjatrowitsch angerichtet hat, nennen? Was macht er heute?

Nachdem 2015 auf Anordnung des damaligen Präsidenten Petro Poroschenko alle Archive aus der Sowjetzeit, etwa des SBU, ins UINP transferiert worden waren, hat Wjatrowitsch Dokumente, die die OUN und UPA schwer belasten, aus dem Bestand heraussäubern oder manipulieren lassen. Leider hat er bis heute großen Einfluss auf die Vergangenheitspolitik der Ukraine und sorgt mit Büchern und Vorträgen weiter dafür, dass die Bandera-Forschung durch Bandera-Kult ersetzt wird. Derzeit bewirbt er unter anderem ein Projekt zur Massenreproduktion eines Hemds, das Bandera auf einem berühmten Foto getragen hat – der Erlös geht an die ukrainischen Streitkräfte.

Die OUN existierte nach dem Zweiten Weltkrieg weiter und spielte im Kalten Krieg eine nicht unwichtige Rolle. Wie sieht es mit der Quellenlage für die Zeit nach 1945 aus?

Allein in den Archiven der CIA und anderer Geheimdienste gibt es eine Menge Beweismaterial zur Kumpanei der Regierungen der USA, Kanadas, Großbritanniens und der BRD mit Nazi­kollaborateuren, die aus Osteuropa exiliert waren – vieles davon ist zugänglich. Bis Ende der 1980er Jahre, als es noch investigativen Journalismus und mehr Wissenschaftsfreiheit gab, kamen einige verstörende Wahrheiten ans Tageslicht. Da gab es – sehr zum Ärger der in New York angesiedelten OUN- B-­Führung der USA – den »Nazijäger« Charles R. Allen, der seine Enthüllungen in diversen Leitmedien publizierte, als diese noch nicht zu NATO-Propagandaorganen verkommen waren. Christopher Simpsons Buch »Blowback« über die Rekrutierung von Banderisten und anderen Faschisten durch US-Regierungen liefert wichtige Fakten. Völlig zu Recht als Standardliteratur gilt Russ Bellants Buch »Old Nazis, the New Rights, and the Republican Party«.

Welche Bedeutung hat die ­OUN-B heute?

Ihr Einfluss wird erheblich unterschätzt. Als Kriegstreiber hat die OUN-B in der Ukraine zum Beispiel in der 2019 gegründeten »Widerstandsbewegung gegen die Kapitulation« an der Erreichung des Nahziels, einen Verhandlungsfrieden mit Russland zu verhindern, effizient agiert. Auch die irrationalen, perspektivisch auf Auslösung eines Weltinfernos gerichteten Forderungen, wie sie sich sogar im »Siegesplan« von Präsident Selenskij finden, tragen ihre Handschrift. In den westlichen Ländern reanimiert die OUN-B gerade mit Plattformen wie dem Free Nations Post-Russia Forum, flankiert von etablierten Denkfabriken aus den USA, etwa dem Atlantic Council, den ABN. Dieser hat im Sommer 2024 unter neuem Namen, »Anti-Imperial Block of Nations«, seinen ersten Weltkongress abgehalten und mit einer »antiimperialen Koalition« auch schon seinen Anker in Deutschland ausgeworfen. Das alles und noch viel mehr ist der Öffentlichkeit der sogenannten freien Welt kaum oder gar nicht bekannt. Das liegt daran, dass die ­OUN-B vorwiegend im Halbdunkeln weitverzweigter Netzwerke von Fassadenstrukturen agiert. Hauptverantwortlich für die Misere ist aber das – spätestens seit 2022 eingeschworene – Schweige- und Lügenkartell von Forschung, Bildung und Medien, inklusive Experten, die sich der Faschismusbekämpfung verschrieben haben. Michael Colborne zum Beispiel, Autor des Recherchekollektivs Bellingcat und eines Buches über die Neonazibewegung »Asow«, war 2023 die Behauptung nicht zu peinlich, dass die OUN-B nicht mehr existiere.

Ihnen gelang es, mit Moss Robeson und Russ Bellant zwei Autoren aus den USA, die sich intensiv mit Geschichte und Gegenwart der OUN-B befasst haben, für die Konferenz und den Band zu gewinnen. Können Sie kurz umreißen, worin die Leistung beider besteht?

Moss Robeson ist ein hochtalentierter Nachwuchsforscher aus New York. Er hat es in nur fünf Jahren geschafft, die einflussreichen Tarnorganisationen der Bandera-Lobby auszumachen, ihre Vorstände als OUN-B-Funktionäre zu identifizieren und ihre Verbindungen zum militärisch-industriellen Komplex der Vereinigten Staaten freizulegen. Ihm sind auch viele Recherchen zur »Victims of Communism Memorial Foundation« in Washington, D. C., deren Gründung Anfang der 1990er Jahre von Banderisten maßgeblich mit initiiert worden war, und ähnlichen antikommunistischen Organisationen als Trägerstrukturen einer neuen faschistischen Internationale zu verdanken. Seit 2022 beschäftigt er sich zudem mit der »›Asow‹-Lobby«, die nicht zuletzt durch eigene Filmproduktionsfirmen, Modelabels sowie ein geschicktes Marketing Neonazis zu kultureller Hegemonie in der Ukraine verholfen hat, die in Richtung Westen expandiert – nicht zuletzt mit Unterstützung des digitalen NATO-Hooligannetzwerks »North Atlantic Fella Organization«. Robeson arbeitet auch historisch, etwa zu den bisher nahezu unbekannten Anfängen der OUN-B in den USA in 1940er Jahren – also zu einer Zeit, als sie noch zu Hitlers Fußtruppen gehörte. Russ Bellants Enthüllungen von Machenschaften der »Grand Old Party«, US-amerikanischen Regierungskreisen, Militärs mit eingewanderten Faschisten aus Osteuropa und den ehemaligen Achsenmächten in der Reagan-Ära sind von unschätzbarem Wert. Allein schon, weil er für seinen »Old Nazis«-Band namhafte Hitler-Vasallen wie Nikolai Nasarenko, Exkommandeur einer Kosakeneinheit der Waffen-SS, getroffen und interviewt hatte. Bellant ist ein unverzichtbarer Zeitzeuge. Beide Autoren zeichnet aus, dass sie komplett unabhängig arbeiten – etwas, das sie mit jW verbindet.

Wie beurteilen Sie die Qualität der Quellen?

Es wurden vorwiegend Primärquellen verwendet, beispielsweise Originaldokumente der OUN-B wie Beiträge aus ihren Publikationen, etwa ABN Correspon­dence. Vieles stammt auch aus Social-Media-Kanälen von ukrai­nischen Neonazis, wo man wahre Schätze bergen kann. Die verwendeten Sekundärquellen, wie Zeitungen und historische Abhandlungen, stammen nahezu alle von westlichen, oft sogar dezidiert prowestlichen Journalisten und Wissenschaftlern. Damit erweist sich der Band als schwer angreifbar durch die üblichen plumpen »Putin-Propaganda!«-Anwürfe, mit denen sich heute jeder konfrontiert sieht, sobald er Interesse an den historischen und politischen Wahrheiten des Ukraine-Konflikts signalisiert.

Wie erklären Sie sich, dass die Propagandamärchen der ukrainischen Faschisten in der Bundesrepublik nicht nur von Politikern und Medien, sondern von einer breiten Öffentlichkeit für bare Münze genommen werden?

Es fehlt eine Opposition, die Einspruch erhebt. Bei der auf allen Ebenen forcierten Formierung der Gesellschaft zur deutschen Jubelvolksgemeinschaft für die NATO-Militärwalze, die immer entschlossener nach Osten vorstößt, darf offenbar auch die gesellschaftliche Linke nicht außen vor bleiben. Das gilt auch für das zunehmend sozialchauvinistische Antifa-Establishment, das stets zu Diensten ist, wenn es darum geht, die Macht der Bandera-Faschisten im ukrainischen Sicherheitsapparat und der Naziarmada in der Armee kleinzureden. Als es nicht mal Protest gab, nachdem die Ampelregierung auf eine parlamentarische Anfrage die vielfach belegte Beteiligung der OUN am Holocaust indirekt geleugnet hatte, ist endgültig klar geworden: Was derart blinder Antifaschismus als Menetekel zu erkennen verweigert, wissen die Funktionseliten des deutschen Imperialismus als günstige Gelegenheit zu nutzen. Wer heute über den Banderismus nicht reden muss, kann morgen vom Nazismus schweigen.

Susann Witt-Stahl ist Chefredakteurin der Zeitschrift

M&R

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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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  • Leserbrief von Wolfgang Schmetterer aus Graz (22. Oktober 2024 um 13:55 Uhr)
    Tausend Dank für diesen Beitrag! Als »Nachhilfe« habe ich ihn sogleich an die (steirischen) Grünen geschickt, auf dass sie etwas dazulernen und vielleicht eines Tages in der Lage dazu sind, sich vom heutigen ukrainischen Faschismus zu distanzieren, den sie beharrlich leugnen und in Teilen (siehe »Lwiw«) sogar unterstützen.

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