Im Zweifel gegen Pressefreiheit
Von Karim NatourSollte er innerhalb des nächsten Jahres erneut straffällig werden, kostet ihn das 1.000 Euro. So lautet die Entscheidung des Landgerichts Berlin im Fall der Veröffentlichung von Gerichtsdokumenten durch Arne Semsrott von der Transparenz- und Rechercheplattform »Frag den Staat«. Das Gericht befand den Journalisten am Freitag für schuldig und sprach eine Verwarnung aus, weil er im August 2023 drei Beschlüsse zu Durchsuchungen und zum Abhören eines Pressetelefons im Zusammenhang mit der Klimaprotestgruppe »Letzten Generation« im Internet veröffentlicht hatte. Während des Prozesses hatte Semsrott die Veröffentlichung eingeräumt, die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert.
In Deutschland ist die Veröffentlichung amtlicher Dokumente aus laufenden Strafverfahren nach Paragraph 353 d Ziffer 3 StGB strafbar. Das Gesetz beruht noch auf einer Zensurregelung aus der Kaiserzeit. Semsrott ging laut eigenen Angaben das Risiko einer Anklage bewusst ein, um die Streichung der Strafnorm zu erstreiten. Ein striktes Veröffentlichungsverbot hält er für verfassungswidrig, da es die Pressefreiheit unverhältnismäßig einschränke. Das Zitieren aus laufenden Verfahren müsse »erlaubt sein, wenn das Verfahren von besonderem öffentlichen Interesse« sei, heißt es in einer Mitteilung von »Frag den Staat« vom Freitag. »Es darf nicht sein, dass faktenbasierter Journalismus kriminalisiert wird«, kommentierte Semsrott die Entscheidung. Er sehe das Justizministerium und den Bundestag »in der politischen Verantwortung«, erklärte Semsrott am Freitag im Gespräch mit jW. Diese Gesetzgebung gelte es »noch in dieser Legislaturperiode zu verändern«.
Der Vorsitzende Richter hatte am ersten Verhandlungstag eine Einstellung des Verfahrens angeboten. Diese lehnte der Journalist ab, um eine »Klärung der Rechtsfrage zu erwirken«. Die Verteidigung hatte beantragt, den Paragraphen 353 d dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vorzulegen, was das Gericht in Berlin nicht verordnete. Karlsruhe hatte ihn in der Vergangenheit bereits zweimal bestätigt.
1985 hielt das Gericht die Norm in einem Grundsatzurteil für verfassungskonform, im Jahr 2014 erklärte es, dass sie auch dann gelte, wenn der Beschuldigte mit der Veröffentlichung einverstanden sei. Das Gesetz soll die »Unbefangenheit von Verfahrensbeteiligten, namentlich von Laienrichtern und Zeugen« schützen, wie das juristische Fachportal Legal Tribune Online am Dienstag schrieb. Demnach sollen etwaige Schöffen und Zeugen nicht vor Prozessbeginn die Meinung eines Ermittlungsrichters zu den Vorwürfen erfahren.
Der »Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte mehrfach fest, dass pauschale Veröffentlichungsverbote auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen«, teilte »Frag den Staat« mit. Laut Verteidiger Lukas Theune schrecken Medien davor zurück, über laufende Verfahren zu berichten, wenn sie »dafür bestraft werden«. Diese »Gefährdung der Pressefreiheit durch die Justiz« sei »nicht weiter hinnehmbar«. Im Anschluss an die Entscheidung kündigte Semsrott an, beim Bundesgerichtshof Revision beantragen zu wollen.
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