Das Herz schlägt links
Von Ingar SoltyDie Geschichte der Wissenschaft, der Politik, Literatur und Kunst kennt zahlreiche Familiendynastien – eine sich über mehrere Generationen spannende Tradition bedeutungsvollen öffentlichen Wirkens. Dies gilt besonders für weltanschaulich ausgerichtete Familien. Man denke, mit Bezug auf die Geschichte des Sozialismus, an Karl und Jenny Marx und deren drei Töchter, Friedrich Wolf und dessen Söhne Markus und Konrad oder die drei Generationen der Kuczynski-Familie. Mitunter aber bleiben Generationen im Schatten, vor allem Frauen. Das ist Normalität in patriarchalen Gesellschaften.
Eine solche Geschichte erzählt die Familie Frank. Oberflächlich wirkt sie wie ein Zweigenerationenepos des Sozialismus. Da ist der Vater, Leonhard Frank, den man als großen gesellschaftskritischen und antimilitaristischen Schriftsteller kennt. Und da ist dessen 1929 geborener Sohn André Gunder Frank, der es, vor allem international, zu noch viel größerem Ruhm brachte. Als Teil einer Viererbande, zu der neben ihm noch Immanuel Wallerstein, Samir Amin und Giovanni Arrighi gehören, stellte der 1933 gemeinsam mit seinem jüdisch-sozialistischen Vater exilierte Sozialwissenschaftler die liberale Modernisierungstheorie auf den Kopf und beschrieb in seiner Weltsystemtheorie, wie Kapitalismus und Imperialismus zur systematischen Unterentwicklung der Entwicklungsländer führen. Und doch ist das Bild unvollständig ohne die Großmutter, Marie Frank.
Starrende Armut
Ihr Werk ist schmal. Es umfasst bloß eine einzige Veröffentlichung. Die Gründe hierfür machen indes dessen Bedeutung aus. Es handelt sich um eine Autobiographie, die eigentlich nie hätte entstehen dürfen.
Marie Frank war Proletin. Ihr 1914 erschienenes Buch trägt den Titel: »Der Lebensroman einer Arbeiterfrau«. Arbeiter, erst recht Arbeiterfrauen, schreiben aber nicht, sie arbeiten. In der Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft bilden sie, in Stadt und Land, die Mehrheit. Aber ihre Perspektive fehlt.
Marie Frank, Familienname Bach, wurde am 13. März 1852 als das zweite nichteheliche Kind einer Dienstmagd in einem Armenhaus in der Nähe von Uffenheim, südlich von Würzburg, geboren. Der Vater ist abwesend. Die Mutter kann Marie allein nicht durchbringen. In der Nähe von Rödersdorf bei München wird sie »im Alter von zwei Wochen zu ein paar alten, weitläufigen Verwandten der Mutter in Pflege gegeben«, die sie »unentgeltlich aufnehmen, obwohl sie selbst arm« sind. Auf Umwegen kommt sie, »vernachlässigt, mit schiefgerutschten Beinen und grauer, schmutziger Körperhaut«, in etwas bessere Verhältnisse. Die leibliche Mutter wird dazu gebracht, Pflegegeld an die alte, verwitwete Mutter der Köchin einer Herrschaft zu zahlen, die sich Marie aus christlicher Nächstenliebe annimmt. Für ein eigenes Kinderbett reicht es trotzdem nicht.
Marie besucht die Volksschule, 80 Schüler im Klassenraum. Schon in der Schulzeit ist Kinderarbeit normal: Nach der Schule geht sie »mit ihrer Pflegemutter über Land (…), beide mit einem Säckchen Nägeln über dem Arm, die in den Dörfern verkauft« werden. Trotzdem ist Marie die beste Schülerin. Sie liest leidenschaftlich, auch wenn ihre leibliche Mutter die Pflegemutter drängt, »das Kind mehr zum Arbeiten an(zu)halten«. Schließlich sei sie »angewiesen, sich einmal durch Dienen ihr Brot zu schaffen«. Marie erlebt das als »Hass (…) aus jedem Wort und Blick«, mit dem die leibliche Mutter »alles, was der Vater des Kindes ihr Schweres zugefügt« habe »und wofür sie ihn hasste«, auf das Kind »übertrug«.
Das hinterlässt Spuren. Die Tiefe des Liebeslochs zeigt sich, als sie im Alter von acht Jahren ein einziges Mal den Vater trifft, der aus Amerika zurückgekehrt ist. Sie trifft ihn im Gasthaus. Der Vater nimmt sie auf den Schoß, stellt ihr mit Tränen in den Augen ein paar Fragen, drückt ihr einen Taler in die Hand und bittet sie, »recht brav zu sein und es auch stets zu bleiben« – und verschwindet wieder aus ihrem Leben. Marie aber hält diesen »schönen Traum« fest.
Und zugleich, »in die reiferen Jahre« gekommen und »an ihre liebeleere Kindheit« denkend, fasst Marie »den festen, heiligen Entschluss, wenn ihr einmal Kinder beschert sein sollten, sie mit alles tragender Liebe zu betreuen«.
Die Kinder lassen nicht lange auf sich warten. Ab dem 14. Lebensjahr verdingt sich Marie als Dienstmädchen und heiratet schließlich einen Schneidergesellen aus Adelshofen. Aus der Ehe gehen vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen, hervor. Leonhard Frank ist 1882 das letzte, ungewollte Kind.
Maries Liebesschwur wird auf eine harte Probe gestellt. Das Gehalt eines Zehnstundenschichten schuftenden Schreinergesellen reicht nicht hin. Das Schicksal der Mutter umreißt Leonhard gleich zu Beginn seines autobiographischen Romans »Links wo das Herz ist«: »Dass die Mutter es vollbrachte, Geld für Holz und Kohlen abzuzwacken, dem schwer arbeitenden Vater jeden Morgen Vespergeld mitzugeben, Schuhe und Winterkleider für zwei Erwachsene und vier Kinder beizuschaffen und dennoch die Miete zu bezahlen und täglich zweimal Essen für sechs auf den Tisch zu stellen, alles von achtzehn Mark in der Woche, war ein Wunder.«
Leonhard Frank empfängt die Liebe seiner Mutter. Zugleich beschreibt er eine Kindheit und Jugend extremer Entbehrungen, »herabdrückend und die Seele verwundend«. Hinzu kommt die »seelenmordende« Volksschulerfahrung, auf die der lange, steinige Weg des Arbeiterkinds zur bildenden Kunst und zum literarischen Schreiben folgt. Insofern er auch für das Leben der Mutter relevant ist, wollen wir kurz verweilen.
Der Leser von »Links wo das Herz ist« folgt Frank durch die Kreise der Münchner Vorkriegsboheme, die – ihm freilich unbekannte – Autoren wie Nietzsche und Freud diskutiert, und wohnt seinen verzweifelten Versuchen bei, Künstler zu werden. Er begegnet dem typischen Weg des Bildungs- und Sozialaufsteigers, dem überall Steine in den Weg gelegt sind, der die Welt, aus der er stammt, verraten muss, um in der Welt, in die er will, aber deren Regeln er nicht versteht, einen Platz zu finden. Frank beschreibt seine Mutter voller Liebe – »eine schöne Frau, dünn, mit großen Feueraugen«, die »ihren Mann (liebte) und (…) ihm so himmelhoch überlegen (war), dass er es in seinem ganzen Leben niemals bemerkte«. Dann aber gerät ihr Leben aus dem Blick. Der Leser, dessen Herz links schlägt, empfindet die Ungerechtigkeit.
Roman als Lösung
Frank lebt selbst in ärmlichsten Verhältnissen, während er zu schreiben versucht. Er beschreibt den Graben zwischen Schreib-sehnsucht und -hemmung: »Die Sehnsucht schreiben zu können und sagen, was er zu sagen hatte, die ihn seit einiger Zeit quälte, war nachts im Traum erfüllt worden. (…) Ganz Würzburg mitsamt dem Lehrer Dürr war in Flammen aufgegangen. Aber der Druck in der Brust war verschwunden gewesen.« Frank schreibt wie wild. »Dennoch hatte er nach eineinhalb Jahren erst drei Viertel des Romans geschrieben.« »Schreiben ist schwer, sehr schwer.«
An diesem Punkt tritt Marie Frank wieder in sein Leben. Im Herbst 1913 kommt sie zu Besuch. »Sie war nach Jena gefahren, ans Kindbett ihrer Tochter (…). Nach Würzburg zurückzukehren, ohne den Sohn gesehen zu haben, (…) hatte sie trotz der Mehrausgabe von zwei Mark achtzig nicht über sich gebracht.« Man hat sich acht Jahre nicht gesehen. Der Sohn erschrickt: Sie ist »eisgrau geworden«.
Es ist die bittere Armut des Sohnes, die Marie Frank zum Schreiben bringt. »Das scharfe Auge der Mutter, die aus lebenslanger Erfahrung die Zeichen der Not kannte, war nicht zu täuschen, sie sah die schwere Not. Sie sagte kein Wort. Aber nach drei Wochen« sei ein Brief von ihr gekommen, »der mit dem Satz begann: ›Ich habe mich entschlossen, auch einen Roman zu schreiben, um Euch vor Wintersnot zu schützen.‹« In seiner Erinnerung weint Frank bitterlich. In der Hilflosigkeit der Mutter spiegelt sich sein eigenes Elend. Am Ende lässt er in »Links wo das Herz ist« sein Alter ego zu seiner Frau sagen: »Sie wird erzählen, wann sie geboren wurde, wo sie in die Schule ging, dass sie Dienstmädchen war, den Vater kennenlernte, wann sie ihr erstes Kind bekam, ihr zweites, ihr drittes und mich, das letzte, und dann ist der Roman zu Ende – zwei Seiten. Ich schreibe ihr, sie soll es nicht tun.« Marie Frank tut es dennoch.
Immerhin: Leonhard Frank beendet sein Erstlingswerk. Anfang März 1914 schickt er das Manuskript an den Georg-Müller-Verlag in München. Drei Tage später erhält er einen Vertrag mit einer Monatsrente von 220 Mark auf zwei Jahre. Der Roman erscheint noch im selben Jahr unter dem Titel »Die Räuberbande« und wird mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet. Frank ist auf einen Schlag berühmt und seine Geldsorgen ein für alle Mal los. Der Insel-Verlag kauft die Rechte. Von dem Erlös kann sich Frank ein Haus mit Garten in Zürich leisten. Das Werk wird zum Klassiker. Marcel Reich-Ranicki und Walter Jens werden es ein Dreivierteljahrhundert später in ihre zwanzigbändige »Bibliothek des 20. Jahrhunderts« aufnehmen. Frank kann sein Glück kaum fassen und hält sich, typisch für das Arbeiterkind, für einen Hochstapler: »Welches Wunder« habe »ihn, den Dümmsten, Unfähigsten von allen, davor bewahrt, erdrückt und abgetötet zu werden vom Lehrer Dürr, der Tausende Kinder erdrückt und abgetötet hatte«?
1914 wird auch Marie Franks »Lebensroman« publiziert, als »eine der wenigen Selbstdarstellungen von Frauen der unteren Klassen«, wie es in der Einleitung zur 1979 bei Campus erschienenen Neuauflage heißt. Die Mutter hatte dem Sohn das Manuskript per Post zugesandt. Es sind nicht zwei Seiten, sondern 185. Schon nach den ersten Seiten ist er begeistert: »Sie dichtet, Lisa, sie dichtet, sie schildert ihre Geburt – ihre Mutter im Kindbett, den Schein der Petroleumlampe, den Sturmwind, der heulend über die Felder jagt.« Der Sohn ist vom Talent der Mutter beeindruckt und vermittelt sie an den Münchner Delphin-Verlag.
Die Mutter, schreibt Frank, »war vierundsechzig Jahre alt. Sie hatte nie ein lesenswertes Buch gelesen, nur hin und wieder eine Romanfortsetzung in ›Fels zum Meer‹ oder der ›Gartenlaube‹, wenn zufällig eine alte Nummer in die Wohnung geraten oder eine Seite vom Metzger als Einwickelpapier benutzt worden war. Sie hatte den Roman heimlich geschrieben, tagsüber am Kochherd, solange der Vater außer Haus auf Arbeit gewesen war. Er dürfe es nicht wissen und nie erfahren. Niemand in Würzburg dürfe erfahren, dass sie einen Roman geschrieben habe.« Darum das Pseudonym Wegrainer.
Aber was dichtete Marie Wegrainer? Ihren Schwur, ihren Kindern eine liebevolle Mutter zu sein, bringt sie in einen eigenen dreistrophigen romantischen Paarreim: »Stör’ nicht den Traum der Kinder, / Wenn eine Lust sie herzt: / Ihr Weh schmerzt sie nicht minder, / Als dich das deine schmerzt. / Es trägt wohl mancher Alte, / Deß’ Herz längst nicht mehr flammt, / Im Antlitz eine Falte, / Die aus der Kindheit stammt. / Leicht welkt die Blum’, eh’s Abend, / Weil achtlos du verwischt / Den Tropfen Tau, der labend / Am Morgen sie erfrischt.«
Das Gedicht erschließt sich vor dem Hintergrund der Biographie. Es ist die Kollektivbiographie ihrer Klasse, ohne dass es Marie bewusst wird. Ja, weil es ihr nicht bewusst ist, schildert sie sie als Individualbiographie, indem vieles als Schicksal erscheint, was von Menschen geschaffene Verhältnisse der Ausbeutung und Unterdrückung sind.
Als Tochter ihrer Klasse führt Maries Weg unweigerlich in sie hinein. Trotz ihrer hervorragenden Leistungen endet die Schullaufbahn nach sechs Jahren Volksschule. Sie wird konfirmiert und verdingt sich ab dem Alter von 14 Jahren als Dienstmädchen. Zunächst geht sie zu Verwandten der Pflegemutter in München in Stellung. Marie hat Angst. Aber es gibt keine Alternative, und so bleibt nur schicksalsergebenes ohnmächtiges Hoffen, dass »die Leute ein wenig gut zu mir sein werden«. Aber auch als sich alles in Marie gegen die erste Stelle sträubt, drängt die Pflegemutter, es seien »liebe und gute Menschen, bei denen du fortan sein wirst«. Sie müsse »nur ein wenig Vertrauen zu ihnen fassen, (…) willig sein«, dann werde es schon »besser gehen (…). Ich habe dich gut erzogen, und nun musst du mir auch Ehre machen«. Marie gibt nach: »Wenn du mich lieb behalten willst, dann will ich auch geduldig sein.« In München plagt sie jedoch Heimweh, sie verweigert das Essen, magert ab.
Komplett fremdbestimmt
Das Leben der Arbeiterfrau besteht aus Fluchtimpulsen ohne Fluchtpunkte. Die lebenslang »ersehnte Gemeinschaft mit der Mutter« nagt an Marie. Zugleich weiß sie, dass es für sie kein elterliches Heim gibt – auch nicht, als es ihr aufgezwungen wird. Die leibliche Mutter ist mittlerweile 43, findet Lohnarbeit als Köchin in einem Gasthaus in Rothenburg und heiratet einen 20 Jahre älteren, gewalttätigen Schuster, der, auch weil die Mutter noch mal schwanger ist, die beiden nichtehelichen Kinder der Mutter gegen ihren Willen, aber die Rechtslage gibt es her, als Arbeitskräfte zu sich holt. Das Neugeborene stirbt nach drei Wochen an Diphtherie in Maries Armen. Marie lernt auch, dass der Stiefvater nicht nur ihre Arbeitskraft ausbeuten will. Ihr erster Geschlechtsakt ist eine Vergewaltigung. Als die Mutter und der Bruder auf den Jahrmarkt fahren, um Schuhwaren zu verkaufen, schleicht er sich in ihre Kammer. Sie wehrt sich »mit aller Kraft gegen ihn. Fast ohnmächtig, an allen Gliedern zitternd, lag sie da, als er sich endlich entfernt hatte«.
Marie beschließt zu fliehen: »Sie weiß nicht mehr, was sie alles zu ihm gesagt hat, und weiß nur, dass sie hier nicht mehr bleiben kann.« Immerhin führt Scham nicht zu Schweigen; Marie erzählt ihrer Mutter von der Gewalttat und dass sie nach München zurückkehren will. Gerade jetzt, als das Elternhaus zum ersten Mal im Leben durch die Mutter Schutzraum sein könnte, ist es der Ort, von dem die Gefahr ausgeht.
Also zurück in Stellung. Das Leben des Dienstmädchens bedeutet ständige Kontrolle und Fremdbestimmung. Auch in der Freizeit. Auch bezüglich der ersten geschlechtlichen Lebensbejahungen gibt es keine Autonomie, keinen bürgerlichen Subjektstatus. Obschon sie alt genug und ökonomisch selbständig ist, erzwingen Dienstherrin und Pfarrer ein Ende der Liebesbeziehung zu ihrem künftigen Mann. Marie ist nicht bereit, die Verlobung zu lösen, binnen vier Wochen wird sie fristlos gekündigt.
Immer wieder fügt Marie sich. Welche Alternative hat sie? In immer neuen Stellungen – bei einer Baronesse und einer russischen Gräfin, bei hohen Staatsbeamten – hegt sie die immer gleiche Hoffnung: Diesmal möge es anders sein – und erlebt den immer gleichen Zwang: Launen und Willkür ihrer Herrschaft bleibt sie stets ausgesetzt.
Marie Franks Autobiographie ist ein Wunder, allein durch ihre Existenz. In »Links wo das Herz ist« reflektiert Leonhard Frank über das Schicksal seiner Mutter: Seit seinem Auszug »ins blanke Nichts« habe er »durchschnittlich fünfmal im Jahr zu Mittag gegessen und sich unzählige Male hungrig ins Bett gelegt. Er war schon infolge seiner Armutskindheit innerlich vorbereitet gewesen, eine Art rebellischer Gefühlssozialist zu werden. Jetzt bekam dieser Gemütszustand neue Nahrung durch die Tatsache, die er immer noch nicht begreifen konnte – dass die Mutter, eine lebenslang von Geldsorgen schwer überbürdete Frau, der vom Schicksal jegliche Möglichkeit, ihre Gaben auszubilden, versagt worden war, als Vierundsechzigjährige dieses Buch geschrieben hatte«. Mit Wundern wie diesem »könne man nicht rechnen«. In »einer Gesellschaftsordnung, die nur dem Kind wohlhabender Eltern erlaube, zu werden, was es sei«, ersticke die »übergroße Armut im Keim (…) kostbarste Volkskräfte von unerrechenbarem Wert«. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Enttäuschte Hoffnungen
Marie Franks Buch ist jedoch nicht nur ein Wunder. Es hebt sich vor dem Hintergrund anderer Arbeiterautobiographien – wie die von Carl Fischer, Franz Rehbein, Wenzel Holek, Adelheid Popp oder Moritz Bromme – auch durch seinen besonderen Charakter hervor: »Der Beweggrund« war »weder missionarische Laune noch narzisstische Redseligkeit«, sondern der Wunsch, den Sohn finanziell zu unterstützen. Marie schreibt »kein Arbeiterbuch im üblichen heroischen Sinne von Gesellschaftsveränderung«, sondern eine Biographie »mit umgekehrtem Pathos – dem der Anpassung an die gegebenen Verhältnisse«, wie es in der Einleitung der Neuausgabe heißt.
Es ist ein Ausdruck schier übermenschlicher Kräfte, dass bei Marie Frank der Dauerzustand des Ausgeliefertseins in ausbeuterischen und unterdrückerischen Verhältnissen nicht zu emotionaler Verhärtung führt. Marie Franks Herz wendet sich gegen das durchlittene Unrecht. In ihm regt sich die Sehnsucht nach menschlicheren Verhältnissen. Auch wenn die Welt ist, wie sie ist, ist sie nicht bereit, einen Zynismus herauszubilden, der die ungerechte Realität zum Schicksal erklärt und auf zarte sozialistische Änderungsträume mit »Das ist halt so« reagiert. Während die leibliche Mutter in ihren Augen diesen Zynismus verkörpert, bleibt bei Marie Frank der Traum von einem besseren Leben erhalten. Mehr noch: Sie will konkret menschlichere Verhältnisse schaffen. Nur weil ihr die Vorstellungskraft für und die Verbindung zur sozialistischen Arbeiterbewegung fehlt, geht es in erster Linie um menschlichere Verhältnisse für ihre Kinder.
Für das Arbeiterkind gilt stets nur die Hoffnung, dass aus der herrschenden Klasse jemand sich ihrer erbarmt, ihr Talent entdeckt – etwa der Lehrer Dietz aus der Sonntagsschule, dem sie ein Gedicht auswendig aufsagt und der, als er erfährt, dass sie aus armen Verhältnissen kommt, sagt: »Armes Kind, du wirst die Schule des Lebens bitter empfinden!« Oder der alleinstehende Oberleutnant a. D., den sie bewirtet und der, da er »so allein in der Welt stehe und niemand habe, für den ich sorgen könnte«, sich »Mariens annehmen und sie ausbilden lassen« will, aber kurz nach diesem Ansinnen stirbt. Oder die erste Liebe Karl, »der einzige Mensch, der sie liebte«, den sie in der Tanzstunde kennenlernt und der, nach Rottenburg am Neckar versetzt, mit »zärtlichen Versicherungen« anfänglich noch »überschwenglich liebe Brief(e)« schreibt, sie dann ignoriert, erneut den Kontakt sucht, ihn wieder abbricht und ihr wenig später selbstmitleidig schreibt, er habe es ja immer »von einem Tag zum andern hinausgeschoben (…), ihr mitzuteilen, dass er durch Familienverhältnisse gezwungen sei, eine gute Partie zu machen«.
Hoffnung und Desillusionierung, Sehnsucht und Enttäuschung wohnen Tür an Tür. Marie ist keine 20 Jahre alt, da entspricht ein Lied ihrem Lebensgefühl: »Fahr wohl du Lenzesmorgen, / Du schöner Maientraum. / Trau nicht dem Jugendlenze, / Dem goldnen Sonnenschein, / Es senken sich die Wolken / Auch in das Herz hinein.« Der Fall ist jedes Mal um so tiefer, je himmelstürmender die Träume sind.
Selbst den Märchenprinzen gibt es, der das Aschenputtel aus seinem Elend retten soll. Ja, faktisch ist er längst König. Denn nach Franks Darstellung lächelt die Mutter während ihrer Dienstzeit bei der russischen Gräfin einmal – es ist Juli 1871 – König Ludwig II. persönlich an (was bei der Gräfin einen Wutanfall provoziert). Der sieben Jahre Ältere, seit 1867 verlobt, ist natürlich auch bloß ein falscher Fuffziger. Er lässt sie per Kurier bitten, »morgen um dieselbe Zeit allein nach Schloss Berg« zu kommen. Marie macht sich, nachdem sie erfolgreich um Urlaub gebeten hat, hübsch zurecht. Freilich ahnt sie, worum es dem König geht. Aber in welchem Herr-Knecht-Universum darf eine Dienstmagd dem König seinen Wunsch ausschlagen? Und natürlich ist da dieser Resttraum aus Kindertagen vom rettenden Prinzen. »Bangen Herzens« lässt sich Marie vom Kammerdiener ins Schloss begleiten. Über das, was folgt, schweigt sie sich aus. Aber gerade das Schweigen ist beredt.
Als Marie zur Gräfin, die ihr auf die Schliche gekommen ist, zurückkehrt, liegt das Entlassungsschreiben auf dem Tisch: »Packen Sie Ihre Habseligkeiten. Sie verlassen heute noch mein Haus.« Marie fliegt raus, »ohne Lohnabfertigung«.
Angesichts dessen mag es nicht verwundern, dass Marie sich mit ihrem künftigen Mann auch deshalb gut versteht, weil auch er »eine traurige Erfahrung gemacht« hat. Denn während sie sich »ihre erste Jugendliebe (…) aus dem Herzen reißen und für immer (…) begraben« musste, hat auch Leonhard »ein Mädchen geliebt«, die aber »ihn hintergangen« hat. Marie und Leonhard Wegrainer treffen sich, ungeachtet des Verbots von Liebesbeziehungen, in ihrem Dienstmädchenverhältnis. Bald kommt das erste Kind. Es ist jedoch nicht Leonhard Franks ältestes Geschwisterkind, sondern Pepperl, der nach drei Wochen erkrankt und stirbt. Bei der Beerdigung sagt der Pfarrer: »Vater und Mutter haben mich verlassen, aber der Herr nimmt mich auf.« Wie gut es doch sei, »dass Gott sich solcher Kinder erbarme und sie sterben lasse, welche durch den Leichtsinn der Eltern vernachlässigt« würden und »doch nur ein kümmerliches Dasein führen müssten«. Marie ist wie von Sinnen und springt dem kleinen Sarg nach in die Grube.
Ihr ist klar: »Die Zukunft« der Ehe steht »nicht in rosigem Lichte vor ihr. Ein Kampf ums Dasein« wird »es werden, bei ihrer beiderseitigen Mittellosigkeit«. Es erwartet sie eine »auf ein arbeitsvolles Mühen aufgebaute Ehe«. Dass sie bei der Schwiegermutter, die Marie nicht ausstehen kann, wohnen, macht es noch schlimmer. Freuden und Schicksalsschläge wechseln einander ab: Auf die Geburt des ersten Sohnes folgt ein schwerer Arbeitsunfall ihres Mannes. Auf die Hochzeit der zweiten Tochter folgt der Selbstmord des Bruders.
Spätes Glück
Am Ende des Buches kommt Marie Frank auch auf ihren jüngsten Sohn zu sprechen, der im Roman Gerhart heißt. Über ihn heißt es, »still war es zu nennen jetzt, ihr Heim, und eine Wehmut wollte Marie beschleichen. Fort waren sie alle, die sie so sehr geliebt hatte und mit denen sie in der Sorge um sie so glücklich gewesen war. Nun hatte sie für niemand mehr zu sorgen als für ihren Mann und ihren zärtlich geliebten jüngsten Sohn Gerhart. Doch auch der letzte, sie gestand es sich offen, allergrößte und empfindlichste Schmerz konnte ihr nicht erspart bleiben. Ihr liebster Sohn ging nun auch von ihr, um eine Malschule und später die Akademie der bildenden Künste zu besuchen (…). Er hatte den feinen Sinn der Mutter geerbt, und diese allein auch brachte ihm das innigste Verständnis entgegen, beseelt von dem Wunsche, es möge ihm gelingen, das zu erreichen, was ihr die Härte des Schicksals versagt hatte. Er sollte höher steigen und nicht im Elend des Lebens untergehen, wie es sie bedroht und fast auch ereilt hatte. Der Vater, nicht einverstanden mit seines Jüngsten Beruf, fasste erst ein Vorurteil gegen denselben, und Marie hatte einen schweren Standpunkt ihm gegenüber, wenn Briefe eintrafen, in denen der Sohn oft seine gedrückte Lage schilderte und von seinen Entbehrungen sprach, die er sich auferlegen musste, um seiner Kunst willen. Für das alles hatte der Vater taube Ohren und wachte darüber, wie nie in seinem Leben, ob von seinen Einnahmen nichts zugunsten des Sohnes verwendet wurde (…), während der Mutter fast das Herz brechen wollte, weil sie ihr Liebstes, das sie auf der Welt besaß, leiden wusste«.
Marie Frank schreibt, sie könne nur noch durch ihren Sohn leben. Sie bangt, dass er sie vergisst, weil man sich lange nicht sah. Einmal schreibt er: »Alles, alles möchte ich Dir geben, liebe Mutter.« Als er es kann, tut er es. Unverhofft wohlhabend geworden, lässt er sich ein Haus bauen und holt seine Eltern zu sich, damit sie in Würde altern mögen. Noch zehn würdevolle Jahre sind Marie Wegrainer alias Marie Frank nach der Veröffentlichung »Der Räuberbande« und ihres »Lebensromans« vergönnt. Am 20. Oktober vor 100 Jahren hörte ihr linkes Herz auf zu schlagen.
Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt am 16. Oktober 2024 über Donald Trumps Regierungsprogramm
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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Leserbrief von Leonhard Schäfer aus Florenz (22. Oktober 2024 um 21:14 Uhr)Die » Kreuzung« von Mutter und Sohn Franks Leben und Werk ist sehr gelungen! Allerdings: Leonhard Frank war kein Jude (siehe: 'jüdisch-sozialistischer Vater zu Sohn André). Dessen Zugehörigkeit zur Viererbande (Gang of for) eine schöne Anspielung auf die Räuberbande. Es ist gut, dass Solty den Gefühlssozialisten Frank erwähnt, denn manchmal kann man von einem aktiven Teilnehmer Leonhard Frank während der Novemberrevolution in München oder der Räterepublik lesen, was nicht stimmt. Frank war zwar mit Erich Mühsam und linken Sozialisten befreundet, er blieb aber nur Gefühlssozialist. Übrigens, in Leonhard Franks Heimatstadt Würzburg, die ihn besonders nach dem Krieg verkannte und nicht achtete, gibt es die Leonhard Frank Gesellschaft. Diese veranstaltet am 23. einen Vortragsabend: Marie Frank-Marie Wegrainer: Wahrheit und Dichtung. Referent: Hans Steidle
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (19. Oktober 2024 um 13:51 Uhr)Gratulation an Ingar Solty für diesen so gründlich recherchierten und äußerst einfühlsam geschriebenen Artikel. Er erzählt nicht nur über zwei bemerkenswerte Schriftsteller, sondern sehr eindringlich auch über jene Epoche, in der proletarische Literatur erst unter Schmerzen geboren wurde. Wir sollten nie vergessen, dass die Lebensumstände von Marie und Leonhard Frank keinesfalls nur Geschichte sind. In großen Teilen der Welt ist das, was wir als schmerzhafte Vergangenheit empfinden, immer noch tägliche Realität, die der Kapitalismus den Menschen weiter antut, »weil es sich lohnt«. Es ist außerordentlich wichtig, denen immer wieder den Spiegel ihrer eigenen Geschichte vors Gesicht zu halten, die heute so tun, als hätten sie die Menschenrechte erfunden. Dass unter so erbärmlichen Verhältnissen so große Literatur entstehen konnte, ist bewunderungswürdig. Und eine schallende Ohrfeige für all jene heutigen Theoretiker, die in der Arbeiterklasse höchstens eine dumpfe Masse zu erkennen vermögen, unfähig, die Welt zu erkennen und zu verändern.
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