Westdeutsche Wiederbewaffnung
Von Jörg KronauerEs begann mit einem Scheitern. Am 30. August 1954 lehnte nach langen und heftigen Debatten die französische Nationalversammlung die Ratifizierung des Vertrags über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ab. Der Plan hatte gelautet, eine gemeinsame westeuropäische Streitmacht zu gründen, zu der Frankreich, Italien sowie die Beneluxstaaten Beiträge leisten sollten. Vor allem aber war vorgesehen, bundesdeutsche Truppen einzubinden. Das hätte gestattet, das militärische Potential der Bundesrepublik im Kalten Krieg zu nutzen, zugleich aber jeglichen militärischen Alleingang des westdeutschen Staats zu unterbinden. In Frankreich stieß das Vorhaben auf wachsenden Widerstand, der nicht zuletzt auf dem klaren Unwillen beruhte, nach den beispiellosen deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg eine erneute Aufrüstung jenseits des Rheins zu ermöglichen. Die Nationalversammlung stoppte die EVG letztlich mit klarer Mehrheit, getragen vor allem von Gaullisten und Kommunisten.
Für die Bundesrepublik war das ein herber Rückschlag. Die Bundesregierung hatte einen Wiederaufbau deutscher Streitkräfte – unter welchen Vorzeichen auch immer – bereits seit Jahren im Blick. Schon im Dezember 1949 hatte Bundeskanzler Konrad Adenauer im Gespräch mit einem US-Journalisten erste Andeutungen gemacht, man könne es ja mit einer Eingliederung einiger deutscher Truppen in eine europäische Streitmacht versuchen. Der Koreakrieg ab 1950 verschaffte westdeutschen Militaristen Rückenwind, steigerte auch in den USA das Interesse an einem Bonner Militärbeitrag im Kalten Krieg – und Adenauer ließ umgehend 15 einstige Wehrmachtsoffiziere Pläne zum Wiederaufbau deutscher Truppen erstellen. Die alten Ostkrieger legten am 9. Oktober 1950 ihren Entwurf vor – die Himmeroder Denkschrift. 1952 wurde dann die EVG auf den Weg gebracht, um den Rahmen für die gewünschte Wiederbewaffnung zu schaffen. Alles schien geregelt – bis Frankreich schließlich die EVG zum Scheitern brachte.
Scheitern mit Folgen
Das Scheitern der EVG hatte in mehrfacher Hinsicht Folgen. Das westeuropäische Militärbündnis war explizit in den Deutschland-Vertrag vom 26. Mai 1952 aufgenommen worden, der das Besatzungsstatut aus dem Jahr 1949 ablösen und die Souveränität der Bundesrepublik teilweise wiederherstellen sollte. Da die EVG nach dem französischen Nein nicht zustande kam, konnte auch der Deutschland-Vertrag nicht wie geplant in Kraft treten. Es begannen hektische Verhandlungen. Die deutsche Wiederbewaffnung war dabei bloß eines von mehreren wichtigen Themen, neben Souveränitätsfragen oder auch der Frage nach der Zukunft der alliierten Streitkräfte in der Bundesrepublik. Die sechs EVG-Kandidaten sowie die USA, Großbritannien und Kanada kamen in unterschiedlichen Konstellationen zunächst in London – vom 28. September bis zum 3. Oktober 1954 – und dann, vom 20. bis zum 23. Oktober 1954, in Paris zusammen, um Lösungen zu finden. Das Ergebnis: die Pariser Verträge, die am 23. Oktober 1954 in der französischen Hauptstadt unterzeichnet wurden.
In den Pariser Verträgen – insgesamt sechs verschiedene Dokumente – wurde eine ganze Reihe von Themen behandelt. Adenauer gelang es, die bundesdeutschen Souveränitätsrechte zu erweitern. Die Bundesrepublik habe künftig »volle Macht über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten«, hieß es nun – klar, mit der Einschränkung, dass alliierte Vorbehaltsrechte vor allem mit Bezug auf eine mögliche »Wiedervereinigung« fortbestanden. Was die Militarisierung der Bundesrepublik betraf, einigte man sich in Paris auf eine doch ein wenig verwirrende Behelfskonstruktion. Der 1948 gegründete Brüsseler Pakt, dem Großbritannien, Frankreich und die Beneluxstaaten angehörten, wurde um die Bundesrepublik und um Italien erweitert. Das neue Format firmierte nun als Westeuropäische Union (WEU). Die WEU wiederum sah Obergrenzen für die Streitkräfte ihrer Mitgliedstaaten vor. Damit konnten der bundesdeutschen Aufrüstung gewisse Schranken gesetzt werden. Zugleich legte die WEU Regeln fest, die die bevorstehende Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO begleiteten – in das transatlantische Militärbündnis also anstelle der EVG.
Aufnahme in die NATO
Längst nicht allen behagte der Gedanke, die Bundesrepublik werde neue Streitkräfte erhalten, werde – so in Paris besprochen – zwölf Divisionen aufrüsten und sie dem NATO-Oberkommando unterstellen. Gewerkschaften, fortschrittliche Intellektuelle sowie Teile der evangelischen Kirche mobilisierten dagegen, die KPD, noch nicht verboten, warb für ein »kollektives Sicherheitssystem statt einseitiger Militärakte«, und Bertolt Brecht übergab im Februar 1955 auf einer Tagung des Deutschen Friedensrates in Dresden erstaunliche 175.000 Unterschriften gegen das Vertragswerk, das in Bonn kurz vor der Ratifizierung stand. Am 27. Februar 1955 stimmte der Bundestag dem Dokument zu – heute schwer vorstellbar: gegen das Votum der SPD. Am 18. März folgte der Bundesrat. Mit dem 5. Mai 1955 traten die Pariser Verträge schließlich in Kraft. Tags darauf wurde die Bundesrepublik das 15. Mitglied der NATO. Diese, nebenbei, war zu dieser Zeit ein Bündnis, das aktive Kolonialmächte einschloss: Großbritannien schoss damals in Kenia, Frankreich in Algerien antikoloniale Befreiungskämpfer nieder, und mit Portugal leistete sich das transatlantische Militärbündnis sogar die Mitgliedschaft einer faschistischen Diktatur. Den alten Wehrmachtsgenerälen, die nun in Bundeswehr und NATO Karriere machten, wird es gefallen haben.
Reaktionen derer, gegen die sich das Ganze richtete, blieben freilich nicht aus. Noch am 23. Oktober, dem Tag der Unterzeichnung der Pariser Verträge, übermittelte die Sowjetunion den drei Westalliierten eine diplomatische Note, in der sie eine Viermächtekonferenz vorschlug, auf der über Deutschlands Zukunft verhandelt werden sollte. Moskau plädierte für die Durchführung gesamtdeutscher Wahlen und für den Abzug sämtlicher alliierter Truppen. Zudem schlug sie die Einberufung einer weiteren Konferenz vor, auf der über die Schaffung eines gesamteuropäischen Systems kollektiver Sicherheit beraten werden sollte. Es war der Vorschlag, den, wie erwähnt, die KPD aufgriff. Doch nichts half: Die Westalliierten blockierten, setzten auf Blockbildung und hielten an den Pariser Verträgen fest. Kurz nach dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik gründete sich dann die Warschauer Vertragsorganisation. Die Sowjetunion zog damit die Konsequenzen aus der neuen Blockkonfrontation.
»Rein defensiver Charakter«
Die Parteien des am 4. April 1949 in Washington unterzeichneten Nordatlantikvertrages
– Sind überzeugt, dass die Sicherheit des Nordatlantikgebiets durch den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu diesem Vertrag verstärkt wird, und
–Stellen fest, dass die Bundesrepublik Deutschland durch ihre Erklärung vom 3. Oktober 1954 die in Artikel 2 der Satzung der Vereinten Nationen niedergelegten Verpflichtungen übernommen und sich verpflichtet hat, mit ihrem Beitritt zum Nordatlantikvertrag sich jeglicher Handlung zu enthalten, die mit dem rein defensiven Charakter dieses Vertrags unvereinbar ist, und
–Stellen ferner fest, dass die Regierungen aller Parteien sich der im Zusammenhang mit der genannten Erklärung der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls am 3. Oktober 1954 angegebenen Erklärung der Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland und der Französischen Republik angeschlossen haben,
–Und vereinbaren:
Artikel 1
Mit dem Inkrafttreten dieses Protokolls wird die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika im Namen aller Parteien der Regierung der Bundesrepublik Deutschland eine Einladung übermitteln, dem Nordatlantikvertrag beizutreten. Daraufhin wird die Bundesrepublik Deutschland an dem Tage, an dem sie gemäß Artikel 10 des Vertrags die Beitrittsurkunde bei der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika hinterlegt, Partei dieses Vertrags.
Aus: Protokoll zum Nordatlantikvertrag über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland, Paris, 23. Oktober 1954
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