Unbestimmte Erinnerung
Von Alexander Kasbohm»Rewilding«, das ist einerseits die Rückversetzung von Kulturlandschaft in ihren Naturzustand, andererseits die Wiedereingliederung von Lebewesen in die Natur, aus der sie entnommen wurden. Beide Definitionen ergeben Sinn im Kontext des gleichnamigen Albums von Başak Günak, einer in Berlin lebenden türkischen Künstlerin, die auch unter dem Namen Ah! Kosmos veröffentlicht.
Günak hat Field Recordings und Stimmen, die sie in Installationen verwendet hat, rekontextualisiert, mit einem Ambientnebel umgeben, der etwas unbestimmt Bedrohliches ausstrahlt. Dieses »Rewilding« ist nicht mit dem Wiedererlangen von Freiheit gleichzusetzen. Oder wenn, dann mit einer Freiheit, die einen verstört und desorientiert in einer Welt zurücklässt, in der mehr Gefahren als Verheißungen warten. »Es geschehen viele furchtbare Dinge in der Welt«, sagt Başak Günak. »Die Herausforderung besteht darin, diese Geschichten auf eine Weise zu erzählen, die uns nicht lähmt, sondern uns dazu bringt, zu leben und zu handeln. Uns dabei hilft, die Details wahrzunehmen.«
Der Track »Foraging« geht auf ihre Performanceinstallation »Kaya/The Well« zurück. Die Performer bewegen sich in einem dunklen Raum zwischen verschieden hohen Stelen mit Lautsprecherboxen, die in kleinen Lichtinseln stehen. Manche der Geräusche, die aus den Boxen kommen, scheinen Naturgeräusche ohne klare Freund-Feind-Kennung zu sein, andere sind als menschliches Pfeifen oder Flüstern zu erkennen. Oder: Sie scheinen als solche erkennbar. Vielleicht möchte sie unser Gehirn aber auch nur als genau das identifizieren. Die Geräusche verschwinden und kommen wieder. Aber sind es die gleichen Geräusche? Diese Vagheit, diese Unsicherheit führt zu erhöhter Aufmerksamkeit. Je genauer man hinhört, desto mehr offenbart sich die Möglichkeit einer objektiven Beurteilung als Illusion. Es ist die individuelle Geschichte, die eigene Erinnerung des Hörers, die den Klängen ihre Bedeutung zuschreibt.
Günak hat für »Foraging« einen anatolischen Folksong aus dem Südosten der Türkei dekonstruiert, einer Region, die viel Unheil erlebt hat. Bei der Aufstellung der Boxen hat Günak sich an der regionalen Topographie orientiert. Es ist natürlich unmöglich, alle Dimensionen dieser Installation bei der Übertragung in einen Track mitzunehmen, aber ein Gefühl der Verlorenheit und des Sehnens durchzieht nicht nur »Foraging«, es liegt dem gesamten Album in verschiedenen Erscheinungsformen zugrunde. Verschiedene Orte mit unterschiedlicher Geschichte und unterschiedlichen Geschichten, mit eigenen Geistern, die in ihnen spuken und eigenem Geist, der sie verkörpert. Das letzte und mit Abstand längste Stück »Swamp« ähnelt dem Gang durch eine Landschaft, die langsam in ein Moor übergeht. Mit glazialer Langsamkeit zersetzt sich organische Materie, geht die geordnete Landschaft über die elf Minuten des Stückes in einen Zustand immer höherer Entropie über. Sozusagen die Endstufe der Verwilderung, in dem die Natur jegliche Ordnung in eine durch nichts definierte Einheit auflöst.
Die benutzten Klangquellen – Mensch, Natur, Orgel, Bassklarinette, Halldorophone (ein von dem Isländer Halldór Úlfarsson entwickeltes Instrument, das aussieht wie ein Cello für die Cantina-Band in Star Wars) oder ein Buchla 100 Synthesizer – verlieren ihre eindeutige Identität, die Klänge lassen sich nicht unbedingt auf ihre jeweilige Quelle zurückführen. Başak Günak lässt uns in einer verstörenden Welt bedrückender Enge zurück, die manchmal vielleicht auch eine erschlagende Weite ist. »Rewilding« ist ein faszinierendes Gebilde zwischen Agoraphobie und Klaustrophobie, ein Pfeifen im dunklen Walde.
Başak Günak: »Rewilding« (Subtext/Multiverse)
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