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Aus: Ausgabe vom 21.10.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Debatte über die Arbeiterbewegung

Verschwunden und doch da

Marcel van der Linden über Aufstieg und Niedergang der »klassischen« Arbeiterbewegung
Von Gerd Bedszent
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Aufgegeben wird nicht: Streikende Bergarbeiter in England im Mai 1912

Die Arbeiterbewegung steckt, so scheint es, seit Jahrzehnten in einer schweren Krise. Als sichtbarer, eigenständiger politischer Faktor ist sie in den meisten kapitalistischen Metropolen verschwunden. Die Kraft der Gewerkschaften, die sich etwa in Deutschland aus Massenorganisationen in reine Apparate ohne Eigenaktivität der Mitglieder verwandelt haben, schwindet. Viele sich noch als sozialistisch verstehende Parteien sind tatsächlich mehr oder minder angepasst. Einst mit marxistischem Anspruch angetretene antikoloniale Befreiungsbewegungen erschöpfen ihre Aktivitäten mittlerweile darin, ihren eigenen Weg in den Kapitalismus zu finden und – oft gegen einstige Verbündete – durchzusetzen. Nicht nur für Marcel van der Linden, Forschungsdirektor am Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam, ist das Grund genug für eine kritische Bilanz, die mit kontroversen Urteilen aufwartet.

Eine Analyse der Entwicklung der modernen Klassengesellschaft und der Arbeiterklasse liefert das Buch nicht. Auch keine Beschäftigung mit den bürgerlichen Nationalstaaten als Herrschaftsgebilde. Gesellschaftliche Strukturen werden als gegeben gesetzt – dem Autor geht es primär um die Möglichkeiten des Widerstandes gegen die jeweiligen Zumutungen der gesellschaftlichen Ordnung.

Im Kapitel über den Anarchismus als Ideologie und politische Bewegung wird jede Art von Staatsgewalt mit Schutzgelderpressung gleichgesetzt. Dass unter kapitalistischen Bedingungen staatliche Zwangsmaßnahmen ausführende Gewalt ökonomischer Zwänge sind, thematisiert der Autor nicht. Immerhin hatte schon Karl Marx im »Kapital« erwähnt, dass bereits 1791 das gegen die absolutistische Bürokratie siegreiche französische Bürgertum unverzüglich daranging, das gerade erstrittene Recht der Arbeiter, sich gewerkschaftlich zu organisieren, wieder zu verbieten. Bekannt ist auch, dass sich französische Revolutionstruppen nicht nur gegen monarchistische Aufstände zur Wehr setzten, sondern auch Hungerrevolten der städtischen Armut brutal zusammenschossen. Dass irgendwann anarchistische Kritiker jeder Art von Staatsgewalt ähnlich klangen wie »libertäre« Verfechter marktradikaler Sparprogramme, wird ebenfalls nicht problematisiert.

Interessant ist das Kapitel über den Syndikalismus, einer einstmals bedeutenden klassenkämpferischen Strömung innerhalb der Gewerkschaftsbewegung, die das Primat ihrer Arbeit in der gewerkschaftlichen Selbstorganisation sah, nicht aber in einem Engagement im Rahmen sozialistischen Parteipolitik. Durchaus zutreffend stellt der Autor das Entstehen dieser Strömung in den Kontext der zweiten industriellen Revolution und dem in diesem Zusammenhang erfolgten starken Wachstum der Industriearbeiterschaft. Die Ursache des Niederganges dieser radikalen Bewegung sieht der Autor in der Stabilisierung bürgerlicher Nationalstaaten und der von ihnen geschaffenen Wohlfahrtssysteme. Revolutionäre Bewegungen seien im 20. Jahrhundert immer nur in Ländern erfolgreich gewesen, die sich auf dem Weg in die Industrialisierung befanden, nie in bereits entwickelten kapitalistischen Gesellschaften.

Die wichtigsten Kapitel des Buches setzen sich mit der Entstehung sozialdemokratischer und kommunistischer Parteien auseinander. Deren Wurzeln sieht der Autor aber nicht im Aufkommen des Marxismus. Die ersten Versuche, soziale Gerechtigkeit durch Eroberung und Umgestaltung der Staatsmacht zu erreichen, habe es in Gestalt der Gründung lokaler Arbeiterparteien bereits um 1830 gegeben. Erkämpft wurde in diesem Zusammenhang auch das allgemeine Wahlrecht (zunächst nur für Männer). Motivation des Erkämpfens der Staatsgewalt durch sozialistische Parteien sei – wie der Autor schreibt – stets primär die Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen durch Reformen gewesen. Der Sozialismus als Endziel sei zwar in den meisten Parteiprogrammen genannt worden, habe in der politischen Praxis aber kaum eine Rolle gespielt. Die marxistische Kritik kapitalistisch strukturierten Wirtschaftens wurde zwar offiziell lange nicht in Frage gestellt, gleichzeitig aber angestrebt, eine stabile kapitalistische Wirtschaft durch deren Umgestaltung zu erreichen. Interessant und überaus lehrreich sind in diesem Zusammenhang die vom Autor herausgearbeiteten Wandlungen der Sozialdemokratie ab der Mitte des 20. Jahrhunderts. Scharf ablehnend begegnet der Autor dem Leninismus, zu dem sich die Mehrzahl der nach 1917 neu gegründeten kommunistischen Parteien bekannte. Die russische Sozialdemokratie, aus der dann die Bolschewiki hervorgingen, habe ihrer Wurzeln nicht in der Arbeiterklasse gehabt, die es im zurückgebliebenen zaristischen Russland fast noch gar nicht gegeben habe, sondern in Gruppen bürgerlicher Intellektueller, die per Gewaltakt versucht hätten, das unterentwickelte Riesenreich in die kapitalistische Moderne zu zwingen.

Anhand statistischen Materials weist van der Linden am Ende des Buches nach, dass die Klasse der Lohnabhängigen entgegen einer weithin – und seit den 90ern auch in linken Debatten – verbreiteten Annahme weltweit keineswegs schrumpft, sondern im globalen Maßstab immer weiter anwächst. Die weiter offene Frage ist, wie diese Massen zu einer erneuerten Arbeiterbewegung formiert werden können.

Marcel van der Linden: »… erkämpft das Menschenrecht«. Vom Aufstieg und Niedergang klassischer ArbeiterInnenbewegungen. Promedia, Wien 2024, 216 Seiten, 25 Euro

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