Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 21.10.2024, Seite 12 / Thema
Politische Ökonomie

Theoretiker der Krise

Eugen Varga war als Ökonom der kommunistischen Weltbewegung eng mit der marxistischen Kapitalismusanalyse im 20. Jahrhundert verbunden
Von Jörg Goldberg
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Eugen Varga, 1879–1964 (Illustration aus der Großen Sowjetischen Enzyklopädie, erste Auflage, 1927)

Am 7. Oktober jährte sich der Todestag des wohl wichtigsten Ökonomen der kommunistischen Weltbewegung zum 60. Mal. Dass die sonst auf Jahrestage versessene mediale Welt diesen bedeutenden marxistischen Forscher und Politiker heute weitgehend ignoriert, ist nur teilweise Ausdruck antikommunistischer Haltung. Schon länger wurde das umfangreiche, 1.400 Veröffentlichungen schwere Werk des Wirtschaftsforschers, der wie kaum ein anderer mit der marxistischen Kapitalismusanalyse im 20. Jahrhundert verbunden ist, wenig beachtet, und zwar auf allen Seiten des Eisernen Vorhangs.

Wirtschaft und Wirtschaftspolitik

Eugen Varga wurde 1879 unter den Namen Jenö Weisz in Budapest geboren. Aufgewachsen in einem intellektuell-bürgerlichen Milieu, engagierte sich schon früh bei den ungarischen Sozialdemokraten. In der ungarischen Räterepublik von 1918 war er Volkskommissar für Finanzen und Vorsitzender des Wirtschaftsrats. 20 Jahre lang, von 1927 bis 1947, leitete er das Moskauer Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik, in dieser Eigenschaft wurde er von Stalin oft zur wirtschaftlichen Beratung hinzugezogen – einige ökonomische Formeln in Stalins Reden stammen direkt von Varga. Zur Potsdamer Konferenz 1945 reiste Varga als Mitglied der sowjetischen Delegation. Gelegentlich wurde er deshalb als »Stalins Ökonom« bezeichnet.¹ Dagegen wendet der durchaus kritische Gerhard Duda ein, dass »im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen … immer noch in der Lage blieb, auf ökonomische und politische Veränderungen in der Welt zu reagieren und seine Konzeption in einem gewissen Rahmen zu korrigieren, falls es ihm erforderlich schien, auch wenn dies mit bereits dogmatisch als ›gesetzmäßig‹ festgelegten Merkmalen der allgemeinen Krise des Kapitalismus kollidierte«.² Varga war zwar »kein Märtyrer«, wie Jürgen Kuczynski feststellt, verteidigte aber immer das, was er für wissenschaftliche Wahrheit hielt.³ Trotzdem mag die Nähe zu Stalin einer der Gründe sein, aus denen Vargas Arbeiten später auch im sozialistischen Lager wenig Beachtung fanden.

Das ist um so bedauerlicher, als seine wohl wichtigste Leistung, die laufende Analyse der Entwicklung des Kapitalismus zwischen 1922 und 1939 (veröffentlicht vierteljährlich, zunächst in der Zeitschrift der Kommunistischen Internationale (Komintern), der Internationalen Pressekorrespondenz, ab 1933 in der Rundschau über Politik, Wirtschaft und Arbeiterbewegung⁴), umfangreich empirisches Material versammelt, das auch heute noch von Bedeutung ist. Denn diese Krisen- und Umbruchperiode der kapitalistischen Weltökonomie ist bei den Wirtschaftshistorikern aller Couleur noch immer Gegenstand von Kontroversen. Ohne dass auf die hier näher eingegangen werden kann, bleibt festzuhalten, dass Varga einer der wenigen Ökonomen war (und ist), die die Verflechtung der Weltwirtschaftskrise zwischen 1929 und 1932 mit der weltweiten Agrarkrise aufgezeigt haben. Bis heute ist diese Leistung eines seiner wissenschaftlichen Alleinstellungsmerkmale.

Varga war vor allem Empiriker, der in seinen Konjunkturübersichten eine ungeheure Fülle von Material aus aller Welt verarbeitet hat. Im Kontext einer überproduktionstheoretischen Fassung der Marxschen Krisentheorie konnte er die aktuellen Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise jeweils historisch-konkret belegen. Dabei geriet er manchmal in politisch unruhiges Fahrwasser, da seine Wirtschaftsprognosen nicht selten im Widerspruch zu den in der Komintern verbreiteten revolutionären Hoffnungen standen. Kritikern entgegnete er: »Es gibt nur ›richtige‹ oder ›unrichtige‹ Analysen … eine erfolgreiche revolutionäre Politik lässt sich nur auf der Grundlage einer richtigen, den Tatsachen entsprechenden Analyse und einer sich darauf gründenden Perspektive erreichen.«⁵

Konjunkturprognostiker

Will man heute die Treffsicherheit von Vargas Kapitalismusanalysen und -prognosen beurteilen, gibt es allerhand Licht und Schatten. Varga hat die Entwicklungen des Kapitalismus in den 1920er und 1930er Jahren früh erfasst. Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings, den ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung des Kapitalismus in den 1950er und 1960er Jahren, hat er weitgehend verkannt.

Beides soll hier kurz belegt werden – und beide Urteile hängen mit Vargas Verständnis kapitalistischer Krisen als zyklisch verlaufende Absatzkrisen zusammen, eine Auffassung, die er von Rosa Luxemburg übernommen hat. 1928, kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, formuliert er (empirisch zutreffend, theoretisch unzutreffend): »Die Annäherung des wirklichen Kapitalismus an den reinen Kapitalismus von Marx führt also zu einer Verschärfung des Widerspruchs zwischen Produktions- und Absatzmöglichkeiten, führt zu einer raschen Folge von tiefgehenden Wirtschaftskrisen …«⁶ Da er die Vorstellung von »großen Zyklen« bzw. längeren Perioden des wirtschaftlichen Auf- und Abschwungs des Kapitalismus ablehnt, sieht er diesen in einem anhaltenden Niedergangsprozess, der allenfalls vorübergehend aufgehalten werden kann.

Zunächst kann man zugestehen, dass Varga die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932 und vor allem das Ausbleiben einer Belebung danach adäquat vorhergesehen hat (»Depression besonderer Art«). Damit setzte er sich in Gegensatz zu den meisten bürgerlichen Konjunkturbeobachtern, wie ein Vergleich mit den Aussagen des von Varga geschätzten Deutschen Instituts für Konjunkturforschung von Ernst Wagemann zeigt. Noch im Februar 1930 beschrieb Wagemann die damalige Konjunkturlage als Übergangsphase zu einem Konjunkturaufschwung: »Bei fortschreitender Entspannung der Kreditmärkte dürfte weiteren Rückgängen der wirtschaftlichen Tätigkeit zunehmender Widerstand erwachsen.« Tatsächlich kam es aber so, wie es Varga im Januar 1930 im Bericht über das letzte Vierteljahr 1929 vorausgesagt hatte: »Es ist daher wahrscheinlich, daß wir nach dem Jahre 1920 in diesem Jahr (d. h. 1930, J. G.) das erstemal wieder eine die ganze kapitalistische Welt umfassende Wirtschaftskrise haben werden.«⁷

Dieser treffenden Analyse der wirtschaftlichen Perspektiven der 1920er und 1930er Jahre steht eine Einschätzung der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber, die vom heutigen Standpunkt aus kaum noch nachvollziehbar scheint. In seinem 1953 veröffentlichtem Buch »Grundfragen der Ökonomie und Politik des Imperialismus« schreibt Varga zusammenfassend: »Die kapitalistische Wirtschaft befindet sich offenbar am Vorabend einer neuen Wirtschaftskrise. Die Krise wird zweifellos sehr tiefgreifend und lange sein. … Die inneren Widersprüche des Kapitalismus, ihre Vertiefung und Verschärfung in der neuen Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus werden unvermeidlich den Ausbruch einer schweren Überproduktionskrise hervorrufen, von der die gesamte kapitalistische Welt erfaßt werden wird. Diese Krise wird die Produktion der kapitalistischen Welt zurückwerfen, und zwar unter den Vorkriegsstand.«⁸ Auch wenn speziell dieses Buch dazu diente, seine in der Sowjetunion nach Schließung des von ihm geleiteten Instituts geschwächte wissenschaftliche Position wieder zu festigen, so hat Varga doch diese fragwürdige Einschätzung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu seinem Tode nicht aufgegeben. In den 1963 verfassten »Beiträgen zu Problemen der politischen Ökonomie des Kapitalismus«, in denen er für die Jahre 1948 bis 1962 eine Verdoppelung der Industrieproduktion der kapitalistischen Welt konstatieren muss, schreibt er: »Ein so langanhaltendes und starkes Wachstum der Produktion, wie es bisher in den besiegten Industrieländern zu verzeichnen war, ist für die Zukunft jedenfalls nicht mehr zu erwarten.… Die Vertiefung der allgemeinen Krise des kapitalistischen Systems äußert sich in einem Anwachsen der Zahl von Produktionszweigen, die sich im Zustand einer chronischen Krise befinden … oder einer solchen Krise entgegengehen … Die ›goldenen Tage‹ der Nachkriegsperiode sind für den Kapitalismus vorbei!«⁹

Während die von ihm korrekt dargestellten Daten zeigen, dass der Kapitalismus sich gerade mitten in seiner historisch dynamischsten Periode befindet – »Innerhalb der Epoche des entwickelten Kapitalismus … war das ›golden age‹ 1950–1973 die bei weitem wachstumsstärkste Periode«¹⁰ –, hält er theoretisch weiter daran fest, dass der Kapitalismus sich in seiner »Niedergangsperiode« befinde.

Der Grund für diese Fehleinschätzung mag auch mit politischen Rücksichten zusammenhängen. Entscheidend bleibt aber sein Festhalten an einer krisentheoretischen Position, der zufolge jede zyklische Krise den Kapitalismus weiter an sein Ende heranführt. Tatsächlich ist ihm nie gelungen, auf der Grundlage der ungeheuren Materialmenge, die er und seine Mitarbeiter gesammelt und verarbeitet haben, eigenständige Beiträge zur Weiterentwicklung des Marxismus zu erarbeiten. Das gilt auch und vor allem für eine von Varga immer wieder behandelte und diskutierte Erscheinung: die zunehmende Rolle des Staates. Die Tatsache, dass der Kapitalismus periodisch an immanente Entwicklungsschranken stößt, die er im Zuge von strukturellen Veränderungen zeitweilig überwinden kann, wird von Varga zwar empirisch erfasst, aber nicht theoretisch verarbeitet. Die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus als Gesellschaftsformation, von Marx im Vorwort zur ersten Auflage des ersten Bandes des »Kapitals« angesprochen (» daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist« MEW 23, 16), wird von Varga zumindest grob unterschätzt.

Staatsmonopolistischer Kapitalismus

Die Tatsache, dass Varga sich schon früh mit staatlichen Interventionen im Kapitalismus befasst hat und in diesem Kontext auch den Begriff des Staatsmonopolismus verwendete, hat einige Beobachter dazu verleitet, ihn als Vater der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (SMK) zu bezeichnen. »Das Konzept des staatsmonopolistischen Kapitalismus … ist das Ergebnis einer These von Eugen Varga, aufgestellt am Ende des Zweiten Weltkriegs«, behauptet etwa das französische Onlinemagazin matérialisme.dialectique.com. Paul Boccara, einer der wichtigsten Vertreter des Konzepts im Westen, »nimmt vollumfänglich das Konzept Vargas auf, allerdings ohne dies jemals auszusprechen«.¹¹ Frieder Otto Wolf meint, dass die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus jene »innermarxistischen Positionen zusammenfasst, welche – in der Nachfolge von Eugen Varga – von der These eines auf den klassischen ›Monopolkapitalismus‹ folgenden Entwicklungsstadiums eines ›staatsmonopolistischen Kapitalismus‹ ausgingen, in dem zum Teil jedenfalls die von Lenin behaupteten Tendenzen des ›Imperialismus als höchstes Stadium‹ des Kapitalismus noch einmal modifiziert wurden«.¹²

Dagegen wäre festzuhalten, dass Varga zwar oft den Begriff des staatsmonopolistischen Kapitalismus als Bezeichnung für den Kapitalismus nach der großen Weltwirtschaftskrise (nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg) verwendet hat, damit aber nie ein eigenständiges Entwicklungsstadium meinte. Angesichts der zahlreichen Analysen, in denen er sich mit der Rolle des kapitalistischen Staates im Kapitalismus befasste – zum Beispiel im Kontext des Rooseveltschen »New Deal« –, überrascht es zunächst, dass die meisten prominenten Vertreter dieses Theorieansatzes sich selten oder nie auf Varga bezogen haben. Bei näherem Hinsehen aber wird klar, dass die Beschreibung der Rolle von Staat und Monopolen bei Varga (»Vereinigung von zwei Kräften, nämlich der Monopole und des Staates«¹³) zwar mit der Definition des staatsmonopolistischen Kapitalismus der 1960er und 1970er Jahre übereinstimmt. Die Konsequenzen sind allerdings völlig andere. Für Varga waren die Staatsinterventionen Ausdruck des Niedergangsprozesses des Kapitalismus: Auch »durch die volle Ausbildung des staatsmonopolistischen Kapitalismus war es (nicht) möglich, den historischen Zusammenbruch des Kapitalismus aufzuhalten, zu einer zeitweiligen Stabilisierung der kapitalistischen Verhältnisse zu gelangen, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg eintrat«, schreibt er in seiner Arbeit »Der Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts« aus dem Jahre 1962.¹⁴ Dagegen war für die an der SMK-Theorie orientierten Kapitalismusforscher der staatsmonopolistische Kapitalismus Ausdruck einer Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus, Beleg also für dessen Überlebensfähigkeit.

Obwohl Varga die Phänomene zunehmender Staatsinterventionen beschreibt, zieht er daraus keine theoretischen Konsequenzen. Für ihn bot der Staatsmonopolismus dem Kapitalismus keinen auch bloß zeitweiligen Ausweg. Den US-amerikanischen »New Deal« sah er als Beleg dafür – erst mit dem Krieg konnte die Depression überwunden werden.

So zeigt sich, dass Vargas Verständnis des staatsmonopolistischen Kapitalismus wenig mit der modernen SMK-Theorie zu tun hat. Heinz Petrak, einer der prominenten SMK-Autoren der DDR, schreibt 2014: »In der DDR wurde die Stamokap-Theorie entwickelt, aus der Erkenntnis heraus, dass der Kapitalismus noch lange Zeit existieren werde. … Die damalige Position des Autors und anderer war: Wenn das veränderte Wechselverhältnis zwischen Staat und Monopolen alle vier Momente des kapitalistischen Reproduktionsprozesses (Produktion, Distribution, Austausch und Konsumtion) erfasst und prägt, haben wir es mit einer neuen Phase des Kapitalismus zu tun.« Es ging den SMK-Theoretikern also darum, die Entwicklungspotentiale des Kapitalismus zu analysieren.¹⁵ Für Varga dagegen ging es bloß um einzelne staatliche Interventionen, die den kapitalistischen Reproduktionsprozess immer nur partiell beeinflussen konnten und zudem reversibel waren. Das den staatlichen Interventionen im Kontext des »New Deal« gewidmete Kapitel in Vargas Hauptwerk von 1934 trägt den programmatischen Titel »Die erfolglosen Versuche zur künstlichen Überwindung der Krise«. Staatliche Interventionen, so Vargas Credo, können die Grundwidersprüche der kapitalistischen Produktionsweise nicht beeinflussen: »Sowohl die allgemeine Krise des Kapitalismus wie die zyklischen Überproduktionskrisen sind die Folge der ›Naturgesetze‹ des Kapitalismus, wie Marx es manchmal nennt.«¹⁶ Die staatliche Wirtschaftspolitik steht im Kreuzfeuer divergierender Interessen des Kapitals, aber auch – unter bestimmten Bedingungen – der Gewerkschaften. Dem »New Deal« Roosevelts werden gute Absichten attestiert, er sei aber letzten Endes erfolglos geblieben.

In späteren Veröffentlichungen hat Varga das, was er im Einklang mit dem herrschenden Sprachgebrauch »staatsmonopolistischen Kapitalismus« nennt, systematisch dargestellt: »Die Vereinigung von zwei Kräften, nämlich der Monopole und des Staates, bildet die Grundlage des staatsmonopolistischen Kapitalismus.« Diese eigentlich eindeutige Aussage – im Programm der KPdSU wird sogar von einem »einheitlichen Apparat« von Staat und Monopolen gesprochen – interpretiert Varga eigenwillig und behauptet, es gehe um das »Zusammenwirken zweier Kräfte«, was bedeute, »daß das Monopolkapital und der Staat selbständige Kräfte« darstellen. Der Staat vertrete dabei nur die gemeinsamen Interessen der Monopolbourgeoisie, die da sind der Systemerhalt, niedrige Löhne und die Verlagerung der Steuerlast auf alle Bevölkerungsschichten. Mit einer gewissen Modifikation in Punkt drei könnte man »Monopolbourgeoisie« leicht durch »gesamte Bourgeoisie« ersetzen. Ansonsten sind die Interessen der Monopolbourgeoisie in den jeweiligen Wirtschaftszweigen divers, d. h. der Konkurrenzkampf zwischen den Monopolen erfasst auch den Staat. Verkompliziert werden die Verhältnisse durch einen großen Staatsapparat, der keineswegs einfach den Interessen der Monopole untergeordnet sei, und durch das parlamentarische System: »Wir sehen also«, schlussfolgert Varga, »daß die Beziehungen zwischen Monopolbourgeoisie und Staat trotz ihres ständigen Zusammenspiels in der konkreten Wirklichkeit wesentlich komplizierter und widersprüchlicher sind, als sich das am Anfang einer theoretischen Analyse darstellt.« Genau das hatte seine Analyse des New Deal ergeben. Zwischen den zentralen Staatsaufgaben, dem Systemerhalt und der Umverteilung des Nationaleinkommens zugunsten des Monopolkapitals, besteht eine Spannung – im zweiten Punkt werden sowohl die Arbeiterklasse als auch die nichtmonopolistischen Gruppen der Bourgeoisie belastet. Das Ziel des Systemerhalts kann gewisse Konzessionen des Monopolkapitals sowohl gegenüber der Arbeiterklasse als auch gegenüber den nichtmonopolistischen Gruppen erfordern, was im Rahmen des parlamentarischen Systems auch gegen die wirtschaftlichen Interessen des Monopolkapitals durchgesetzt werden kann. Zudem, so Varga, sei das Monopolkapital »im Prinzip … gegen die Einmischung des Staates in die Wirtschaft und gegen eine Sozialgesetzgebung.« Daher treten die Monopole für einen Abbau der Staatstätigkeit ein, wenn sie ihre Existenz als gesichert betrachten, d. h. »Tendenzen zur Verstärkung des staatsmonopolistischen Kapitalismus (sind) von starken Gegentendenzen begleitet«. Als Beispiele für solche »Gegentendenzen« führt Varga die Beendigung des »New Deal« und die Reprivatisierungen nach dem Zweiten Weltkrieg an – er bezeichnet das als Abbau der »staatsmonopolistischen Elemente«. »Die Bourgeoisie tritt grundsätzlich gegen die Nationalisierung auf.« Die einzelnen Monopolunternehmen seien »gegen staatliche ›Einmischung‹, gegen den staatsmonopolistischen Kapitalismus«, kämpften aber gleichwohl um öffentliche Aufträge.¹⁷ Insgesamt sieht Varga zwar eine gewisse Tendenz zum Ausbau des Staatsapparates, hält aber Staatsinterventionen selbst für potentiell gegen die Interessen des Monopolkapitals gerichtet: Dieses setze nur dann auf den Staat, wenn es das System für gefährdet hält. Staatliche Eingriffe, auch wenn sie intensiviert werden, berührten nicht die Grundstruktur der kapitalistischen Gesellschaftsformation, während »der Begriff ›SMK‹ die ökonomische Grundstruktur und Funktionsweise moderner kapitalistischer Gesellschaften beschreibt«.¹⁸

Obwohl Varga die Veränderungen im Kapitalismus nach der Weltwirtschaftskrise empirisch korrekt und umfassend beschrieben hatte, gelang ihm nicht, die damit verbundenen grundlegenden Veränderungen im kapitalistischen Reproduktionsprozess zu erfassen. Seine wissenschaftliche Hauptleistung bleibt die detaillierte Analyse des Kapitalismus der Krisenjahre zwischen den Weltkriegen.

Anmerkungen:

1 André Mommen: Stalin’s Economist. The Economic Contributions of Jenö Varga. London 2011

2 Gerhard Duda: Jenö Varga und die Geschichte des Instituts für Weltwirtschaft und Weltpolitik in Moskau 1921–1970. Berlin 1994, S. 119

3 Jürgen Kuczynski: Gesellschaftswissenschaftliche Schulen. Studien zu einer Geschichte der Gesellschaftswissenschaften. Band 7. Berlin 1977, S. 40

4 Eugen Varga: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, Vierteljahresberichte 1922–1939. 5 Bände. Herausgegeben von Jörg Goldberg. Berlin 1977

5 Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im 1. Vj. 1925. Bd. 3. Inprekorr Nr. 77/S. 1017

6 Ebd., 1. Vj. 1928. Inprekorr Nr. 48, S. 850

7 Jörg Goldberg: Zur Neuherausgabe von Vargas »Vierteljahresberichten«, Berlin 1977

8 Eugen Varga: Grundfragen der Ökonomik und Politik des Imperialismus (nach dem Zweiten Weltkrieg). Berlin 1955, S. 728

9 Eugen Varga: Beiträge zu Problemen der politischen Ökonomie des Kapitalismus. In: Ausgewählte Schriften 1918–1964. Bd. 3. Berlin 1982, S. 272

10 Angus Maddison: The World Economy. OECD

11 matérialisme-dialectique.com, Dossier »Paul Boccara, le Varga francais«

12 Frieder Ott Wolf: Was braucht marxistisches Denken heute, um als »Theorie« existieren zu können? Das Trilemma kritischen Denkens nach dem Ende der offiziellen Marxismen (core.ac.uk)

13 Varga: Beiträge …, a. a. O., S. 135

14 Varga: Beiträge …, a. a. O., S. 68

15 Heinz Petrak: SMK-Theorie und gegenwärtige Weltwirtschaftskrise. In: Z – Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 100 (Dezember 2014), S. 56–60

16 Die Große Krise und ihre politischen Folgen. Wirtschaft und Politik 1928–1934, in: Eugen Varga: Ausgewählte Schriften 1918–1964. Bd. 2. Berlin 1982, S. 299

17 Varga: Beiträge …, Probleme des staatsmonopolistischen Kapitalismus, S. 135 und 151

18 Jörg Huffschmid: Kapitalismus, Staatsmonopolistischer. In: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. Bd. 2. Hamburg 1990, S. 758

Jörg Goldberg ist Ökonom. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 26. Januar 2024 über ländliche Räume und Bauernfrage im klassischen Marxismus.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in alexander v. aus Berlin (23. Oktober 2024 um 11:22 Uhr)
    Zwei/drei Anmerkungen zu diesem unerlässlichen Beitrag. »Eiserner Vorhang« ist eine Bezeichnung von Joseph Goebbels, welchen er in Anbetracht der kommenden Befreiung vom Faschismus insbesondere durch die UdSSR am 23. Februar 1945 in der Zeitschrift »Das Reich« verwendete: »und ein ‚eiserner Vorhang‘ werde sich über Europa senken«. Winston Churchill hat dann wohl kalkuliert diese Bezeichnung für die durch die UdSSR vorgenommene Sicherung der Westgrenzen übernommen. Die zitierte Ausgabe »Eugen Varga: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik, Vierteljahresberichte 1922–1939« ist 1977 vom »deb das europäische buch in westberlin« ediert worden. Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus ist sehr vielfältig, einen (gerade auch heute) ökonomisch behilflichen Zugang ermöglicht: »Zur Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus« von Robert Katzenstein (hier abrufbar: https://archiv.ub.uni-marburg.de/es/2014/0003/data/pdfs/Zur_Theorie_Des_Staatsmonoplistischen_Kapitalis.pdf).
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (22. Oktober 2024 um 11:46 Uhr)
    Eugen Varga war ein bedeutender marxistischer Ökonom, der sich durch seine fundierten Analysen kapitalistischer Krisen und seine empirischen Studien zur Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932 einen Namen machte. Besonders hervorzuheben ist seine Arbeit zur Verflechtung von Agrar- und Industriekrisen, die bis heute wissenschaftlich relevant ist. Dennoch verharrte Varga in der Vorstellung eines unausweichlichen Niedergangs des Kapitalismus und übersah die Dynamik des Systems nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere dessen Erholungs- und Wachstumsphasen. Trotz seiner detaillierten Datenanalysen konnte er – wie viele andere Marxisten – zentrale Anpassungsmechanismen des Kapitalismus theoretisch nicht vollständig erfassen.

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