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Aus: Ausgabe vom 22.10.2024, Seite 12 / Thema
Arbeiterbewegung

Ungehorsam werden

Vorabdruck. Die Arbeiterklasse hat an Stärke gewonnen. Norden und Süden müssen sich die Hände reichen
Von Peter Mertens
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Auch nicht zu meutern kann gefährlich sein. 1792 findet das Schlachtschiff »Pandora« 14 Matrosen, die nicht an der Meuterei auf der »Bounty« teilnahmen. Auf der Rückfahrt geht es unter

In den kommenden Tagen erscheint im Berliner Brumaire-Verlag Peter Mertens Buch »Meuterei. Wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät«. jW dokumentiert daraus im folgenden das Nachwort »Stimmen unter Deck«. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck. (jW)

»Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist bereits auf dem Weg. Vielleicht werden viele von uns nicht mehr hier sein, um sie zu begrüßen, aber an einem ruhigen Tag, wenn ich sehr genau hinhöre, kann ich sie atmen hören.« (Arundhati Roy)

»Ich akzeptiere nicht länger die Dinge, die ich nicht verändern kann. Ich verändere die Dinge, die ich nicht akzeptieren kann.« (Angela Davis)

Ein altes Sprichwort besagt, dass die Fische als letzte das Wasser entdecken. Auch wir, die wir in einem Meer von Erfahrungen und Geschichten leben, haben die größte Mühe damit, unserer Welt einen Sinn zu geben. Für Tim Gurner ist das alles ganz einfach. Er ist der Chef der australischen Gurner Group, einer Immobiliengesellschaft, die sich auf Luxusimmobilien für die Besserverdienenden unter uns konzentriert.

Die Gruppe verfügt über ein Portfolio von 5,7 Milliarden Euro. Auch Gurner selbst hat mehr als genug Geld. Sein persönliches Vermögen beläuft sich auf 562 Millionen Euro. Auf dem Immobiliengipfel der Australian Financial Review Anfang September 2023 erklärt Gurner in nicht einmal einer Minute genau, wie die Welt funktioniert und was wir tun müssen, um sie noch besser zu machen. »Wir müssen Schmerzen sehen«, weiß Gurner, und er darf an dieser Stelle seine Meinung im Wortlaut kundtun:

»Wir haben das Problem, dass die Menschen mit der Covid-Krise beschlossen haben, weniger zu arbeiten. Die qualifizierten Arbeitnehmer haben ihre Produktivität deutlich zurückgefahren. Das hat sich massiv auf die Produktion ausgewirkt. Sie wissen, dass sie in den letzten Jahren reichlich entlohnt wurden, um nicht gerade viel zu leisten. Das muss sich ändern. Die Arbeitslosigkeit muss steigen. Wenn es nach mir ginge, müsste die Arbeitslosigkeit auf 40–50 Prozent in die Höhe schießen. Es muss der Wirtschaft wehtun. Man muss die Menschen daran erinnern, dass sie für den Arbeitgeber arbeiten und nicht andersherum.

Ich meine, es hat sich ein Systemwechsel vollzogen, bei dem die Beschäftigten finden, ihr Arbeitgeber habe Glück, dass sie für ihn arbeiten und nicht umgekehrt. Diese Dynamik muss sich ändern. Wir müssen dieser Haltung ein Ende setzen, und zwar indem wir der Wirtschaft schaden, was die ganze Welt gerade versucht. Auf der ganzen Welt versuchen die Regierungen, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen, um zu einer gewissen Normalität zurückzukehren.

Und wir sehen es, ich glaube, jeder Arbeitgeber sieht das gerade. Ich meine, es gibt definitiv Massenentlassungen. Vielleicht spricht man nicht darüber, aber ohne jeden Zweifel entlassen die Unternehmen. Man bemerkt schon weniger Arroganz auf dem Arbeitsmarkt. Das muss weitergehen, denn es wird sich auf die Kostenbilanz auswirken.«

Tugend der Habsucht

Menschen, die so brutal ehrlich sind, sind selten. Vielleicht sollten wir Tim Gurner dankbar sein, dass er uns hier seine Sicht auf die Welt und den Menschen erfahren lässt. Wenn Gurner von Leuten spricht, »die in den letzten Jahren reichlich entlohnt wurden, um nicht gerade viel zu leisten«, dann meint er nicht sich selbst als Immobilienkönig, der in den letzten Jahren durch massive Geldflüsse stinkreich geworden ist, und zwar nicht durch Aktivitäten rund um reale Bedürfnisse, sondern durch Investitionen und Eigentum. Die Leute, über die der australische Multimillionär seine Verachtung ausgießt, sind die arbeitenden Menschen. Diejenigen, die während der Pandemie die Kastanien aus dem Feuer holten und dann den stotternden Motor des Aufschwungs in Gang setzten. Und die heute schon vergessen sind, in einer Welt, in der die galoppierende Inflation alle ihre Ersparnisse auffrisst.

Es ist höchst interessant, dass Gurner auf die Covid-Periode verweist. Genau da gelang es der Arbeiterklasse, ein neues Gefühl des Stolzes zu entwickeln. Wir sind die Unentbehrlichen, wir sind diejenigen, die etwas bewirken, und wir geben uns nicht mehr mit dem kleinen Applaus vom Balkon aus zufrieden. Das war das Thema meines letzten Buchs »Uns haben sie vergessen«.

Der Stolz der Arbeiterklasse zeigt sich auch in der neuen Welle von Arbeitskämpfen, die heute in den USA stattfindet. Todd Vachon ist Gewerkschaftsexperte an der Rutgers University in New Jersey. Er erklärt die neue Welle wie folgt: »Während der Pandemie gab es viele Arbeiter, die keine Gewerkschaft hatten, sich aber kollektiv organisierten, um sichere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Viele haben erkannt, dass ihre Wünsche erfüllt werden, wenn sie sie gemeinsam vertreten.« Gurner will mit diesem aufkeimenden Bewusstsein aufräumen: »Wir müssen mit dieser Einstellung Schluss machen.«

Mit seiner Rede reiht sich Gurner in den langen Strom eines Elitarismus ein, der aus dem Neoliberalismus hervorgegangen ist. Einer der Stars in den glorreichen Jahren von Margaret Thatcher und Ronald Reagan war die Schriftstellerin Ayn Rand. In ihrem Bestseller »Der Streik« erzählt sie, dass »Arbeiter und andere mittelmäßige Menschen sich wie Schmarotzer an die Einfälle und Anstrengungen von ein paar Begabten hängen«. Staatliche Einrichtungen und dumme Bürger stecken mit allen möglichen Vorschriften nur Stöcke in die Speichen der guten Unternehmer. Nicht die arbeitende Bevölkerung erschafft den Reichtum, sondern die Elite. Es sei höchste Zeit, dass die Welt auf »der Tugend der Habsucht« neu begründet werde. Soviel zu dieser Art von Mentalität.

Laut Gurner müssen wir »der Wirtschaft wehtun«, und die Arbeitslosigkeit muss um die Hälfte ansteigen, um zur »Normalität« zurückzukehren. Bei »Schmerzen« denkt der Immobilienkönig nicht an sich selbst. Die Schmerzen sind für die anderen, nicht für die Finanzgeier, die 15 Prozent Rendite in der Produktion verlangen. Für Gurner sollten die Früchte der Arbeit nicht in Form anständiger Löhne an die Arbeitenden zurückfließen, sondern in Form üppiger Dividenden an die Besitzenden.

Gehorchen und arbeiten

Natürlich verliert er kein Wort über eine gerechte Besteuerung, denn diese würde Eigentumsgruppen wie die seine belasten, damit die Regierungen mehr in Bildung, Gesundheit, öffentliche Verkehrsmittel und den ökologischen Wandel investieren könnten. Der Schmerz, den er meint, ist, Hunderttausenden von Familien den Lebensunterhalt zu entziehen und sie aus dem Wirtschaftskreislauf heraus an den Rand der Gesellschaft zu drängen. Das klingt fast verrückt, aber es ist nichts im Vergleich zu Margaret Thatchers und Ronald Reagans Rezessionstherapie in den frühen 1980er Jahren. Multimillionäre wie Gurner wollen das alles noch einmal erleben, back to the future mit einer schlechten Zeitmaschine.

»Arrogant« nennt Gurner Menschen, die einen gut bezahlten Job anstreben, um ein würdiges Leben zu führen. Massenentlassungen sind sein Rezept. Das passt in eine Weltanschauung, in der der Mensch eine Sache ist, ein Wegwerfprodukt, austauschbar wie ein Taschentuch. Gurner will die »Dynamik« der Gesellschaft verändern, jedoch nicht in Richtung von mehr Solidarität und Gemeinsinn, sondern in Richtung eines »Jeder für sich im Krieg aller gegen alle«. Das ist seiner Meinung nach die »normale« Ordnung der Dinge. Es ist nichts anderes als das, was Margaret Thatcher sagte, als sie »das Herz und die Seele der Nation« verändern wollte.

Erst am Ende von Gurners Rede wird klar, was Sache ist: »Das muss weitergehen, denn es wird sich auf die Kostenbilanz auswirken.« Welche Kostenbilanz? Die von mittellosen Familien? Oder von heruntergekommenen Arbeitervierteln wie in den britischen Midlands und dem US-amerikanischen Rust Belt? Oder von der Gesellschaft, die für all dieses Elend bezahlen muss? Nein, es geht um die Kostenbilanz seines Immobilienimperiums. Seine Liebe geht nicht durch den Magen, sondern durch den Geldbeutel.

Gurner stellt sich selbst gerne als »Industriekapitän« vor, und das kommt nicht von ungefähr. Es ist die Bezeichnung für jemanden, der die gesamte Gesellschaft als eine militärische Veranstaltung mit Kapitänen sieht, die Flotten mit gehorsamen Matrosen befehligen. In seiner einminütigen Rede verwendet er siebenmal das Wort »müssen«. Er verlangt von den Werktätigen Loyalität. So schuldete in der Feudalgesellschaft der Lehrling seinem Meister, der Pächter seinem Gutsherrn, die Gesellschaft dem König und der König schließlich Gott bedingungslose Treue. Der Geschäftsmann als Militärbefehlshaber, dazu geboren, dass man ihm absoluten Gehorsam erweist.

Panik und Repression

Man kann auch eine Prise Panik in all dem »müssen« von Gurner erkennen. Er ist nicht der erste, der seine Unsicherheit hinter einem martialischen Vokabular verbirgt. Die Angst vor einer anderen Welt, in der die Menschen, die den Reichtum produzieren, auch am Ruder der Gesellschaft sitzen. Die Angst des Kapitäns vor den Menschen unter Deck, wo geschwitzt, geschuftet, gearbeitet, getrunken und geflucht wird. Die Angst vor der Krankenschwester Kath, die zum ersten Mal politisch aktiv wird; die Angst vor dem Gewerkschafter Harsev, der die indischen Arbeiter in London organisiert; die Angst vor Bazazo, dem Lebensmittelhändler aus Beirut, der es leid ist, dass der Dollar sein Leben bestimmt.

Kath, Harsev, Bazazo, Emma, Jean, Tim und Liam tauchen in diesem Buch auf, und es fällt auf, wie oft dieselben Wörter wiederkehren. Wie ein Echo hallen sie im Laderaum des Schiffes wider: Gewissheit, Respekt, Stolz, Souveränität, Verbundenheit, Frieden, Engagement, Hoffnung. In unserer Welt mit ihren Kais voller Waren und Sprachen erweist sich der Seufzer der Menschen als erstaunlich universell. Auf Twitter, dem Kanal, der jetzt unter dem Namen X als Elon Musks privates Spielzeug firmiert, reagierten 20 Millionen Menschen auf Gurners Aussagen. Die Reaktionen kommen aus allen Ecken und Enden des Planeten. Von überall her springen sie in die Bresche für die Welt der Arbeit.

In unserer Welt gibt es Ozeane voller Engagement. Die Menschen engagieren sich in ihrer Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, für die Dinge, die ihnen wichtig sind. Dieser Einsatz bleibt oft im Dunkeln, insbesondere wenn es sich um kollektive Einsätze handelt. Der kollektive Kampf ist die Voraussetzung des Wandels. Ohne Engagement kein Handeln, ohne Handeln kein Bewusstsein, ohne Bewusstsein und Handeln keine Veränderung. Das aber beschleunigt die Reaktion der Kräfte der etablierten Ordnung.

Das war nie anders. Jede Bewegung, die den Status quo in Richtung von sozialem Fortschritt, Freiheit und Gerechtigkeit aufbrechen wollte, wurde geteert, gefedert und unterdrückt. Vom thrakischen Gladiator Spartacus und seinem Heer befreiter Sklaven bis hin zu Bauernführern wie Zeger Janssone, der 1325 einen der größten Bauernaufstände in Europa anführte und zum Dank dafür gerädert, enthauptet und am höchsten Galgen in Brügge aufgehängt wurde. Von Till Eulenspiegel und den Aufsässigen im spanischen Kaiserreich bis hin zu den radikalen Aufklärern in Paris und Port-au-Prince. Von den ersten Arbeitskämpfen in Manchester und im Borinage bis hin zu den Kämpfen von Patrice Lumumba und Thomas Sankara in Afrika: Widerstand erzeugt Gegenwehr.

Das ist heute nicht anders. Ein Mann wie Jeremy Corbyn wird mit Verleumdungen und Lügen bombardiert. Klimaaktionen und gewerkschaftliche Kämpfe werden kriminalisiert. Parteien werden als »populistisch« und »extremistisch« oder noch Schlimmeres abgetan. Diese Darstellung lässt sich nur auf eine Weise deuten: als Zeichen der Schwäche, als letzte Zuckungen einer untergehenden Welt.

Menschen wollen einfache Dinge: ein angemessenes Einkommen, gesundes Essen, ein Dach über dem Kopf, bezahlbare Energie. Sie schließen sich zusammen, organisieren sich und stehen auf. Solange es Unterdrückung und Ungerechtigkeit gibt, wird es Widerstand geben. Wir stehen an einem Scheideweg in einer polarisierten Welt, die jederzeit in alle Richtungen kippen kann. Die Ungeheuer sind nie weit weg. Hoffnung ist nur ein Wort, man muss daran arbeiten. Indem wir den Menschen helfen, aufrecht zu stehen, ihre Stimme zu erheben und sich zusammenzuschließen, sich zu bilden und zu handeln. Indem wir uns für das einsetzen, was in dieser Welt gerecht ist. Und indem wir diese Bewegungen, die nach einem neuen Sozialismus streben, zusammenbringen, in einer Gesellschaft ohne Plünderung, Hass und Unterdrückung, die die Quellen ihres Reichtums respektiert: die Arbeit und die Natur.

Wir sind alle Geuzen

Januar 2023. Die Wellen schlagen hart gegen den Kai des Malecón. Wir schlendern zwischen jungen Paaren auf Havannas Küstenboulevard. Belkys erzählt mir, dass sie ihre Magisterarbeit über Karl V. und das spanische Imperium auf Kuba geschrieben hat. Sie erregte sofort meine Aufmerksamkeit. Karl war der Sohn von Philipp dem Schönen und Johanna von Kastilien, besser bekannt als Johanna die Wahnsinnige. Als der kleine Mann am 24. Februar 1500 im Genter Prinsenhof den ersten Schrei eines Neugeborenen vernehmen ließ, wusste niemand, dass er der große Karl V. werden würde.

Reichtum wird vererbt, und Karl war wohlhabend. Über seine Großeltern väterlicherseits kam er im Laufe der Jahre in den Besitz der habsburgischen Fürstentümer in Mitteleuropa, Mailand, der Franche-Comté und den Niederlanden. Mütterlicherseits erbte er Kastilien, Aragon, Navarra, Neapel, Sizilien, Sardinien, die Kanarischen Inseln, Hispaniola, Kuba und die Perlenküste von Venezuela. In den ersten Jahren seiner Herrschaft als König von Kastilien und Aragonien eroberten die spanischen Konquistadoren noch die riesigen Reiche der Azteken und der Inkas. So ging es immer weiter, bis Karl V. über ein Reich herrschte, das sich über vier Kontinente erstreckte. Das erste seiner Art.

Seit 1512 war auch Kuba unter spanischer Kontrolle, und die Insel nahm sofort einen besonderen Platz ein, erklärt mir Belkys. Havanna war drei Jahrhunderte lang der Hafen des spanischen Reiches auf der anderen Seite des Ozeans. Von dort aus wurde so gut wie alles an Gold und Silber, was in Lateinamerika geplündert wurde, in das europäische Mutterreich verschifft. Einen »Aderlass« nannte der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano diese Ausbeutung in seinem Klassiker »Die offenen Adern Lateinamerikas«. Belkys erzählt mir, dass die Spanier nirgendwo in der Karibik oder in Lateinamerika eine so majestätische Stadt gebaut haben wie Havanna. Während sie ihre Geschichte erzählt, kann ich die alte koloniale Pracht hinter den neuen Anstrichen erkennen.

»Das könnte uns verbinden«, sage ich, »denn jenes große Reich hatte damals auch das Zepter in den Niederen Landen in der Hand.« Im spanischen Weltreich waren die Siebzehn Provinzen, wie unsere Regionen damals hießen, das wirtschaftliche Zentrum. Unsere Regionen haben von Anfang an an der ersten Globalisierung teilgenommen. Mit dem geplünderten Reichtum wurden Städte und Unternehmen aufgebaut. Zu dieser Zeit lief der internationale Handel in den Niederlanden über Antwerpen. Die Keksstadt wurde zum Handelszentrum par excellence: von kanarischem Zucker bis hin zu aller Art von Gewürzen. Versteckt hier und da in der Stadt kann man noch alte Lagerhäuser finden, durch die Tabak und Zucker aus Kuba transportiert wurden. Havanna und Antwerpen, zwei Drehkreuze, zwei Häfen, die jeweils an den Enden der spanischen Route liegen.

Ich erzähle Belkys auch vom Widerstand in unseren Niederlanden gegen die spanische Herrschaft. Von Adeligen, die sich nach Autonomie sehnen, bis hin zu Gastwirten, Landstreichern und mittellosen Bauern. »Ce ne sont que des gueux«, sie sind nichts als Bettler, soll die spanische Gouvernante Margarete von Parma abschätzig gesagt haben. Schnell verbreitete sich der Name »Geuzen« als Ehrentitel unter all jenen, die sich vom spanischen Joch befreien wollten. »Dann sind wir alle Geuzen«, lacht Belkys.

Meuterei

Seitdem kennen wir in unserer Sprache das Wort »Geuzennaam«. Das ist eine abfällige oder spöttische Bezeichnung, die als Ehrentitel getragen wird. Vielleicht sollten wir dasselbe mit dem Wort »Meuterei« anfangen. Ich habe den Begriff von Fiona Hill gehört, der ehemaligen Mitarbeiterin des Nationalen Sicherheitsrates in den USA. Sie spricht entsetzt von einer »Meuterei« der Länder des globalen Südens, die den Wünschen Washingtons nicht mehr folgen. »Meuterei« als Slogan, aber auch als Metapher, als impliziter Vergleich, als Bild für den Ungehorsam gegenüber der herrschenden Ordnung.

Ob das Reich von Kaiser Karl V. oder die alten Seidenstraßen, unsere Welt war immer eng miteinander verbunden. In dieser Geschichte spielt das Meer eine Rolle. Die Landratten unter uns, und das sind fast alle, gehen unbewusst davon aus, dass Geschichte nur an Land gemacht wird. Als ob die Ozeane Antiräume wären, leere Räume zwischen den Ländern. Das war noch nie der Fall. Was wären die Reiche der Perser und Griechen, der Römer und Osmanen, der Venezianer und Chinesen, der Niederländer und Briten ohne das Meer gewesen? Ohne die Ozeane, die unseren Planeten blau färben, wäre der Transport von Reichtum, Kolonialtruppen und versklavten Menschen nicht möglich gewesen. Das Wasser war der Handelsweg. Und auf diesem Wasser blieb es nicht ruhig, ganz im Gegenteil.

Die Seeflotten des 18. Jahrhunderts waren eindrucksvolle Schauplätze der sozialen Hierarchie und der Ausbeutung von Arbeitskräften. Hunderte Matrosen, manchmal fast tausend, mussten dort 24 Stunden am Tag unter gefährlichen Bedingungen arbeiten, in großer ethnischer und nationaler Vielfalt und unter der fast unbegrenzten Autorität der Schiffsoffiziere. Wer nicht spurte, musste mit grausamen Strafen rechnen, von der Geißelung bis zur Hinrichtung. Marineschiffe waren die Fabriken des Meeres, und Widerstand war eher die Regel als die Ausnahme. Auf einem von zehn Sklavenschiffen kam es zur Meuterei. In der Kolonialzeit des 18. Jahrhunderts war sogar jedes dritte Handelsschiff betroffen.

Historiker, die sich in jüngster Zeit mit der bewegten Geschichte des maritimen Widerstands befasst haben, weisen darauf hin, dass »Meuterei« ein weitgefasster Begriff ist, der alle Formen des kollektiven Widerstands umfasst. Vom gemeinsamen Singen unter Deck über Petitionen und Arbeitsverweigerung bis hin zu Sabotage und der Übernahme des Schiffes. Ich hatte zum Beispiel noch nie etwas von »Round Robin« gehört, einem üblichen Protestmittel von Seeleuten, die ihren Unmut kundtun wollten. Sie zeichneten einen Kreis und schrieben ihre Forderungen hinein. Um den Kreis herum schrieben sie dann ihre Namen, um zu verbergen, wer die Petition gestartet hatte, und um individuelle Schläge zu vermeiden. Je mehr Namen, desto mehr Macht zeigte der wachsende Kreis. »One and all« war in diesem Zusammenhang der beliebteste Slogan, sozusagen »gemeinsam stark«.

Die Schiffe transportierten nicht nur Waren, sondern auch Krieg und versklavte Menschen. Sie transportierten auch Ideen, unter und über Deck. Nachrichten, Gerüchte, Informationen und Erkenntnisse strömten über den Atlantik entlang der schwellenden Handelswege, die Nantes und Bordeaux mit Cap-Haïtien, Port-au-Prince, Havanna und Kingston verbanden. Diese Handelsrouten brachten unzählige Schiffe und Seeleute in alle möglichen Häfen, aber auch Flüchtlinge und Kriegsveteranen.

Auf diesen Reisen über den Ozean und durch die Karibik gewannen die Rebellen von Jamaika und Santo Domingo neue Erkenntnisse über die politischen Entwicklungen in London und Paris. In der Welt des Handels und der Sklavenplantagen war das Meer das Netz der Kommunikation, nicht das Land. Durch dieses globale Wassernetz, das Internet von damals, gelangten die Ideen des Kollektivismus und des Egalitarismus vom revolutionären Frankreich nach Santo Domingo und dann nach Jamaika, Kuba und wieder zurück. Die Visionen der jakobinischen Republik in Frankreich spornten die Aufstände in Haiti und Santo Domingo an, aber auch umgekehrt.

Die Meuterei ist eine Metapher für den großen Wunsch nach Freiheit, der von Anfang an die Ozeane durchquerte und so ins Unermessliche wuchs. All diese Jahre, von Kaiser Karl V. bis heute, haben gezeigt, wie eng die Meutereien des Nordens und des Südens fünf Jahrhunderte lang miteinander verflochten waren. Heute ist es nicht anders, wie viele Mauern wir auch errichten, in unseren Köpfen und zwischen den Kontinenten.

Sie nennen es Meuterei, dass sich Arbeiter zusammenschließen, um für menschenwürdige Löhne und Arbeitsbedingungen einzutreten, oder wenn die Gesellschaft für demokratische Rechte oder für das Klima aufsteht. Sie nennen es Meuterei, dass Länder und Völker über ihre eigenen Ressourcen, sei es Lithium oder Kobalt, entscheiden wollen und das Recht auf die Verarbeitung ihrer eigenen Ressourcen einfordern. Sie nennen es Meuterei, dass Länder und Völker sich weigern, in einem Handelskrieg und einem neuen kalten Krieg, der ihnen von Washington aufgezwungen wird, mitzumachen. Sie nennen es Meuterei, dass die unipolare Ära der USA langsam zu Ende geht.

Lasst uns also diese Meuterei begrüßen, denn sie treibt auf der richtigen Welle der Geschichte. In Indien, so erzählt Harsev, erlebten wir die größte soziale Bewegung in der Geschichte der Menschheit, als sich Bauern und Arbeiter verbündeten. In Lateinamerika führten große Volksbewegungen von Bolivien bis Chile zu den ersten demokratischen Reformen. Dies sind Zeichen der Hoffnung. Auch im Norden kommt es zu einer Meuterei. Der Klassenkampf geht auf und ab wie die Wellen des Meeres. Aber er ist da, und er richtet sich gegen die gleiche globale Ordnung, die gleichen Monopole, das gleiche Ausbeutungssystem.

Summer of strikes

Im März 2023 gingen in Frankreich mehr als drei Millionen Menschen für angemessene Renten und die Beibehaltung des Rentenalters von 62 Jahren auf die Straße. Die Bewegung erstreckte sich über die gesamte erste Jahreshälfte und umfasste vierzehn landesweite Aktionstage. Auffallend viele junge Leute, Studenten und Schüler nahmen daran teil. Seit 1968 sind in Frankreich nicht mehr so viele Menschen auf die Straße gegangen. Das Engagement ist enorm groß. 2022 gab es in Großbritannien mehr soziale Bewegung als in den turbulenten 1970er Jahren. In Spanien und Belgien haben Aktionen und Demonstrationen für Lohnerhöhungen und Renten seit dem Ende der Pandemie nicht aufgehört. Auch in Deutschland folgt eine Tarifauseinandersetzung nach der anderen: bei Müllmännern, Metallarbeitern, bei der Lufthansa, im Gesundheitswesen.

In den USA wächst eine neue Generation von Aktivisten heran. »Jung und gewerkschaftsfreundlich«, so beschreiben es die Zeitungen. Dann gibt es noch die junge Nabretta Hardin, die eine Gewerkschaft bei Starbucks gegründet hat, und den charismatischen Chris Smalls, der dasselbe bei Amazon getan hat. Im Sommer 2023 haben Drehbuchautoren und Schauspieler in Hollywood ihre Arbeit niedergelegt. Während ich diese Zeilen schreibe, streiken 150.000 Beschäftigte von Ford, General Motors und Stellantis in Detroit für Lohnerhöhungen und die Wiederherstellung der ausgehöhlten Rentensysteme. Amerikanische Medien sprechen darüber als »Summer of strikes«, und es ist der dritte Streiksommer in Folge. Über 70 Prozent der Amerikaner sprachen sich im Jahr 2022 für Gewerkschaften aus, der höchste Wert seit 1965.

Ich weiß, dass der Kampf zerbrechlich ist und auf und ab geht. Aber so zu tun, als ob es im Norden unseres Planeten weder kollektives Handeln noch Widerstand gäbe, ist Unsinn. Wenn wir die Meutereien des Nordens dazu bringen können, den Meutereien des Südens die Hand zu reichen, und umgekehrt, dann können wir die Welt in die demokratische, soziale und ökologische Richtung lenken, die dieser Planet braucht.

Peter Mertens ist Präsident der Partij van de Arbeid und seit 2019 Mitglied der belgischen ­Abgeordnetenkammer.

Peter Mertens: Meuterei. Wie unsere Weltordnung ins Wanken gerät. Brumaire-Verlag, Berlin 2024, 284 Seiten, 19 Uhr

Buchvorstellung mit dem Autor am 25. Oktober 2024, Aquarium am Südblock (Skalitzer Str. 6, 10999 Berlin), 20.30 Uhr, Eintritt: kostenlos

Peter Mertens wird Gast der 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar 2025 sein.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gerdt P. aus 18146 Rostock (22. Oktober 2024 um 19:53 Uhr)
    Unter »Wir sind alle Geusen«: Waren es nicht die »Sieben Provinzen« Holland, Zeeland, Groningen, Utrecht, Friesland, Geldern und Overijssel anstatt 17 Provinzen der Burgunder?
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (22. Oktober 2024 um 19:48 Uhr)
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