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Aus: Ausgabe vom 23.10.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Wirtschaftliche Lage der Ukraine

Streik gegen Fronteinsatz

Ukrainische Männer entziehen sich durch spontane Ausstände dem Einzug ins Militär. Massenhafter Fronteinsatz führt bereits zu Arbeitskräftemangel
Von Reinhard Lauterbach
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Es fehlt auch an Arbeitern, die die im Krieg beschädigte Infrastruktur reparieren könnten (Pokrowsk, 17.9.2024)

Im ostukrainischen Charkiw sollen immer mehr Männer nicht mehr an ihren Arbeitsplätzen erscheinen. Dies berichtete ein lokaler Blogger, und die kriegskritische Seite strana.news schrieb darüber. Betroffen sind demnach vor allem Kfz-Reparaturbetriebe der Stadt, deren Mechaniker wegen ihrer Fachkenntnisse von der Armee besonders begehrt sind. Wegen der offenbar seit Tagen andauernden Protestaktion gerate inzwischen auch die Reparatur beschädigter oder verschlissener Militärfahrzeuge ins Stocken, schrieb strana.news weiter. Das zeigt, wie stark das Militär inzwischen auch ursprünglich zivile Infrastruktur nutzt. Es wird dadurch immer schwerer, die Klage der Ukraine über die Beschädigung »ziviler Infrastruktur« zu vertreten.

In welchem Maße die Protestbewegung gegen die Mobilisierung organisiert ist, ist wegen der zensierten Berichterstattung schwer zu beurteilen. Bis zum Beweis des Gegenteils scheint es sich eher um spontane Verweigerungshandlungen zu handeln, zu denen die Leute jeweils aus eigenen Motiven greifen: vor allem dem, nicht gegen ihren Willen eingezogen zu werden.

Deutlich wird aber, dass inzwischen die Armee und die Aufrechterhaltung des Lebens im Hinterland immer stärker in Konkurrenz geraten. So wird aus Tschernigiw im Norden der Ukraine berichtet, es gebe dort inzwischen praktisch keine Busfahrer mehr. Die örtlichen Verkehrsbetriebe seien zudem mit einem dringenden Appell an die Frauen der Stadt herangetreten, den ÖPNV als Fahrerinnen aufrechtzuerhalten. Ähnliches wurde zuletzt auch aus Odessa gemeldet. In den Karpaten fiel ein Schulausflug aus, weil an einer Kontrollstelle die Polizei gleich beide Fahrer des Reisebusses zum Militär einzog.

Auch Spezialisten und Beschäftigte in der Rüstungsindustrie sind davor nicht geschützt; die Süddeutsche Zeitung rief am Montag einen Vorfall vor einigen Wochen in Erinnerung, als der Chefingenieur eines für die Armee tätigen Drohnenherstellers auf dem Weg zur Arbeit eingezogen wurde und das Projekt, an dem er arbeitete, nicht fertiggestellt worden sei. Viele ukrainische Unternehmen gehen ihrerseits dazu über, Personal mit dem Argument zu werben, die Arbeit bei ihnen führe zur Zurückstellung vom Wehrdienst. Das sieht die Regierung nicht gerne: Im Präsidialamt hieß es kürzlich, solche »Reklamierungen« würden missbraucht, um etwa eine halbe Million Männer ihrer militärischen »Verwendung« zu entziehen.

Wie scharf der Zielkonflikt zwischen Militär und Wirtschaft des Hinterlandes geworden ist, zeigt sich indirekt an einer als Fall von Korruption diskutierten Praxis: Beamte der Erfassungskommissionen sind demnach dazu übergegangen, nicht nur Einmalzahlungen für die Ausstellung von Untauglichkeitsbescheinigungen zu verlangen, sondern inzwischen auch monatliche »Honorare« von bis zu 1.000 US-Dollar – damit entsprechende Bescheinigungen nicht bei der nächsten Gelegenheit widerrufen werden.

Eine aktuelle Äußerung des 2023 entlassenen Armeebefehlshabers Walerij Saluschnij zeigt, dass es sich hierbei um den Ausdruck des strukturellen Problems handelt: Der Ukraine gehen die Ressourcen für den Krieg aus. Saluschnij, mittlerweile Botschafter der Ukraine in Großbritannien, sagte bei einem Vortrag im Royal United Services Institute, der Ukraine falle es immer schwerer, aus dem Zustand des »endlosen Krieges« herauszukommen.

Nicht nur komme sie schon kurzfristig nicht darum herum, das Einberufungsalter von nun 25 auf 18 oder 20 Jahre zu senken, wenn die betroffene Generation eigentlich für den Wiederaufbau von Gesellschaft und Bevölkerung nach dem Krieg dringend erforderlich sei und geschont zu werden verdiene. Dauere der Krieg noch zwei Jahre an, müsse die Regierung auch Frauen zum Wehrdienst einziehen. Wer dann kurzfristig im Hinterland die Busse fahren oder auf längere Sicht die nächste Generation ukrainischer Kinder zur Welt bringen soll, diskutierte Saluschnij nicht. Es war auch so klar.

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