Streik gegen Fronteinsatz
Von Reinhard LauterbachIm ostukrainischen Charkiw sollen immer mehr Männer nicht mehr an ihren Arbeitsplätzen erscheinen. Dies berichtete ein lokaler Blogger, und die kriegskritische Seite strana.news schrieb darüber. Betroffen sind demnach vor allem Kfz-Reparaturbetriebe der Stadt, deren Mechaniker wegen ihrer Fachkenntnisse von der Armee besonders begehrt sind. Wegen der offenbar seit Tagen andauernden Protestaktion gerate inzwischen auch die Reparatur beschädigter oder verschlissener Militärfahrzeuge ins Stocken, schrieb strana.news weiter. Das zeigt, wie stark das Militär inzwischen auch ursprünglich zivile Infrastruktur nutzt. Es wird dadurch immer schwerer, die Klage der Ukraine über die Beschädigung »ziviler Infrastruktur« zu vertreten.
In welchem Maße die Protestbewegung gegen die Mobilisierung organisiert ist, ist wegen der zensierten Berichterstattung schwer zu beurteilen. Bis zum Beweis des Gegenteils scheint es sich eher um spontane Verweigerungshandlungen zu handeln, zu denen die Leute jeweils aus eigenen Motiven greifen: vor allem dem, nicht gegen ihren Willen eingezogen zu werden.
Deutlich wird aber, dass inzwischen die Armee und die Aufrechterhaltung des Lebens im Hinterland immer stärker in Konkurrenz geraten. So wird aus Tschernigiw im Norden der Ukraine berichtet, es gebe dort inzwischen praktisch keine Busfahrer mehr. Die örtlichen Verkehrsbetriebe seien zudem mit einem dringenden Appell an die Frauen der Stadt herangetreten, den ÖPNV als Fahrerinnen aufrechtzuerhalten. Ähnliches wurde zuletzt auch aus Odessa gemeldet. In den Karpaten fiel ein Schulausflug aus, weil an einer Kontrollstelle die Polizei gleich beide Fahrer des Reisebusses zum Militär einzog.
Auch Spezialisten und Beschäftigte in der Rüstungsindustrie sind davor nicht geschützt; die Süddeutsche Zeitung rief am Montag einen Vorfall vor einigen Wochen in Erinnerung, als der Chefingenieur eines für die Armee tätigen Drohnenherstellers auf dem Weg zur Arbeit eingezogen wurde und das Projekt, an dem er arbeitete, nicht fertiggestellt worden sei. Viele ukrainische Unternehmen gehen ihrerseits dazu über, Personal mit dem Argument zu werben, die Arbeit bei ihnen führe zur Zurückstellung vom Wehrdienst. Das sieht die Regierung nicht gerne: Im Präsidialamt hieß es kürzlich, solche »Reklamierungen« würden missbraucht, um etwa eine halbe Million Männer ihrer militärischen »Verwendung« zu entziehen.
Wie scharf der Zielkonflikt zwischen Militär und Wirtschaft des Hinterlandes geworden ist, zeigt sich indirekt an einer als Fall von Korruption diskutierten Praxis: Beamte der Erfassungskommissionen sind demnach dazu übergegangen, nicht nur Einmalzahlungen für die Ausstellung von Untauglichkeitsbescheinigungen zu verlangen, sondern inzwischen auch monatliche »Honorare« von bis zu 1.000 US-Dollar – damit entsprechende Bescheinigungen nicht bei der nächsten Gelegenheit widerrufen werden.
Eine aktuelle Äußerung des 2023 entlassenen Armeebefehlshabers Walerij Saluschnij zeigt, dass es sich hierbei um den Ausdruck des strukturellen Problems handelt: Der Ukraine gehen die Ressourcen für den Krieg aus. Saluschnij, mittlerweile Botschafter der Ukraine in Großbritannien, sagte bei einem Vortrag im Royal United Services Institute, der Ukraine falle es immer schwerer, aus dem Zustand des »endlosen Krieges« herauszukommen.
Nicht nur komme sie schon kurzfristig nicht darum herum, das Einberufungsalter von nun 25 auf 18 oder 20 Jahre zu senken, wenn die betroffene Generation eigentlich für den Wiederaufbau von Gesellschaft und Bevölkerung nach dem Krieg dringend erforderlich sei und geschont zu werden verdiene. Dauere der Krieg noch zwei Jahre an, müsse die Regierung auch Frauen zum Wehrdienst einziehen. Wer dann kurzfristig im Hinterland die Busse fahren oder auf längere Sicht die nächste Generation ukrainischer Kinder zur Welt bringen soll, diskutierte Saluschnij nicht. Es war auch so klar.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
-
Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (23. Oktober 2024 um 10:09 Uhr)Zunächst einmal ist festzustellen: Im Kriegszustand gibt es kein Streikrecht! Die Priorität liegt daher in erster Linie bei der Frontlage, nicht bei der Konsumproduktion. In einem traditionell von Korruption geprägten Land wie der Ukraine gibt es zahlreiche Wege, den Kriegsdienst zu umgehen. Entweder setzt man sich ins Ausland ab oder zahlt Bestechungsgelder an lokale Behörden. Es ist offensichtlich, dass an der Front immer mehr Soldaten fehlen. Angesichts eines scheinbar aussichtslosen Kampfes gegen eine übermächtige Armee ist es kaum verwunderlich, dass niemand an der Front sterben will. Die Ukraine hat sich in den Dienst des »Wertewestens« gestellt und dadurch ihre Eigenständigkeit verloren. Das Land wird aufgeteilt: Ein Teil geht an Russland, der andere wird in die EU integriert – jedoch ohne die Fähigkeit, eigenständig zu bleiben. Die Ukraine wird weder in der Lage sein, ihre bisherigen Schulden zu begleichen, noch den Wiederaufbau aus eigener Kraft zu stemmen. Somit wurde die Selbstständigkeit des Landes sinnlos geopfert.
Ähnliche:
- 21.10.2024
Gespenster aus Ostasien
- 19.10.2024
»Dieser Faschismus war vom Nazismus inspiriert«
- 12.10.2024
Letzte Ölung
Regio:
Mehr aus: Kapital & Arbeit
-
Gewerkschaften fordern weniger
vom 23.10.2024