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Aus: Ausgabe vom 22.10.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Krise der Linkspartei

Ausgleich mit Verfallsdatum

Die Linke nach dem Parteitag: Neue Führung setzt in der Krise auf Integration aller Strömungen. Mehrere Austritte am rechten Rand
Von Nico Popp
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Ines Schwerdtner und Jan van Aken vor ihrer Wahl beim Bundesparteitag am Sonnabend

Die Linke präsentiert sich mit und nach ihrem Bundesparteitag in Halle (Saale) als pazifizierte Partei. Die Spitzenämter wurden nahezu ohne Konkurrenz besetzt, der Leitantrag nach kleineren Modifikationen mit großer Mehrheit beschlossen, die nach dem »Eklat« beim Berliner Landesparteitag und der anschließenden Pressekampagne drohende Auseinandersetzung zum Thema Israel/Palästina mit einem kurzfristig vorgelegten Kompromissantrag abgebogen. Die kurze, scharfe Debatte über das sogenannte bedingungslose Grundeinkommen (BGE) am Sonntag und das anschließende Votum, mit dem sich der Parteitag über einen Mitgliederentscheid von 2022 hinwegsetzte (was er laut Satzung tun kann), werden die Partei nicht erschüttern: Die BGE-Befürworter sind zwar gut organisiert, aber in der Gesamtpartei eine Minderheit, und ihre Sprecher haben noch am Sonntag nach der Entscheidung gegen den BGE-Antrag signalisiert, dass sie das Gesprächsangebot der neuen Parteispitze annehmen wollen.

Alle an Bord

Die Botschaft, dass jetzt alle an einem Strang ziehen, hatte auch Gregor Gysi in seiner Rede vor den Delegierten am Sonnabend überbracht. Demnächst werde er sich mit dem scheidenden Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und Exfraktionschef Dietmar Bartsch zusammensetzen, um die Entwicklung der Partei zu überprüfen und dann zu entscheiden, ob jeder für sich bei der Bundestagswahl versuchen wird, eines der lebensrettenden Direktmandate zu erobern. Die angekündigte »Aktion Silberlocke« war nicht nur ein Lacher: Bartsch und Gysi, die keine Verbündeten des alten Parteivorstandes waren, sind wieder an Bord, sollte das heißen.

Die neue Parteiführung bemüht sich vorläufig, den Eindruck zu vermitteln, dass sie bemüht ist, alle Strömungen, Netzwerke und Flügel zu integrieren und Widersprüche auszugleichen. Das unterscheidet sie vom alten Vorstand, denn der hatte über Jahre einen offenen Kampf gegen einen Teil der Partei geführt, dessen Protagonisten – das haben inzwischen auch die verstanden, die jahrelang mit eiserner Miene behauptet haben, dass es Wagenknecht sei, die die Wähler von der Partei wegtreibe – bei ihrem Austritt die Mehrheit der noch verbliebenen Wählerbasis mitgenommen haben.

Der ausgleichende Ansatz wird freilich von der von niemandem mehr geleugneten Parteikrise erzwungen, hat also ein Verfallsdatum. Es gibt inhaltlich und personell keine Neuaufstellung an der Parteispitze: Die vier stellvertretenden Parteivorsitzenden (Ates Gürpinar, Maximilian Schirmer, Sabine Ritter und Luise Neuhaus-Wartenberg), der Bundesgeschäftsführer (Janis Ehling) und der Bundesschatzmeister (Sebastian Koch), die zusammen mit den beiden Kovorsitzenden den geschäftsführenden Parteivorstand bilden, stehen durchweg für den alten Kurs. Und zwar, schaut man genauer hin, mit einer merklichen Delle nach rechts.

Ungelöste Probleme

Der Parteitag hat mit seinen politischen und personellen Entscheidungen alte und neue Konflikte nicht ausgetragen, sondern mit Blick auf die Bundestagswahl 2025 ruhiggestellt oder vertagt. Hier ist auch eine starke Beimischung von »Augen zu und durch« im Spiel, denn weder ist eine Lösung für die ernsten organisationspolitischen Probleme – die weggebrochene Wählerbasis in der Arbeiterklasse bzw. im Osten, die zunehmende Konzentration der Mitgliedschaft in den größeren Städten – in Sicht, noch ist die politische Spannung zwischen denen, die die Partei durch eine Profilierung nach links wiederbeleben und zum Teil von realen Kämpfen machen wollen, und denen, die seit Jahren und Jahrzehnten auf ihre totale Integration und vollständige Parlamentarisierung hinarbeiten, verschwunden.

Die Spekulation ist allein die, dass diese Widersprüche durch eine Sicherstellung der stabilen parlamentarischen Existenz der Linkspartei, für die in der Tat die Ausschöpfung aller noch vorhandenen Ressourcen unabdingbar sein dürfte, wieder »aushaltbar« werden, weil die unterschiedlichen Akteure durch den Erfolg bei Wahlen auf einen politischen Aktionsraum hoffen können, der ihnen sonst verschlossen bliebe. Die Situation erinnert in dieser Hinsicht an die Anfangsjahre der PDS, als kein Mensch auf »Regierungsoptionen« schielte.

Sichtbar unzufrieden ist mit diesem Ansatz lediglich der liberale rechte Rand der Partei, der spätestens seit der Trennung vom Wagenknecht-Lager von einer »Modernisierung« des Parteiprogramms träumt und gerade erst nach einer unerwarteten Abstimmungsniederlage beim Berliner Landesparteitag eine Pressekampagne gegen Teile der Partei befeuert hatte. Das kam in Halle bei vielen Delegierten nicht gut an. Mehrere prominente Austritte – Udo Wolf und Sören Benn in Berlin, Henriette Quade in Sachsen-Anhalt – zeigen, dass die harte Rechte in der Partei sich aktuell in der Defensive sieht. Aus dieser Perspektive ergab sich zweifellos auch die seltsame Bemerkung des nunmehr ehemaligen Parteichefs Martin Schirdewan, der in Halle vor einer »Flucht in die Orthodoxie« warnte. Bei den Austritten fällt auf, dass es sich hier durchweg um Personen handelt, die ihre Laufbahn in der Partei mehr oder weniger hinter sich haben. Gut möglich also, dass hier einfach Druck aufgebaut werden soll.

Rechte entmutigt

Die Landtagsabgeordnete Quade trat am Montag aus der Partei aus und zeigte sich empört, dass in dem Antragskompromiss zu Israel/Palästina der »sogenannte Nahostkonflikt« allein auf »Besatzung und Siedlungsbau« zurückgeführt werde, aber mit »keinem einzigen Satz« auf den »mörderischen Antisemitismus, der seit dem ersten Tag des Bestehens des Staates Israel auf dessen Vernichtung drängt«. Diese Vernichtung könne »der Staat Israel nur durch militärische Gewalt abwenden«, schrieb Quade, die folglich mit der Forderung, »Israel keine Waffen zu liefern« nicht leben kann. Benn schrieb in seiner Austrittserklärung vom Sonntag, er verlasse die Partei »mit entmutigtem Blick auf den aktuellen Leitantrag« und andere Anträge, »von denen anzunehmen ist, dass sie die in der Partei vorherrschenden Sichtweisen auf Politik und Gesellschaft widerspiegeln«. Ihm missfiel, dass der Leitantrag zu »Fragen von liberaler Demokratie und Freiheit« und einer von ihm ausgemachten »historischen Mit- und Hauptverantwortung als SED für die Situation im Osten« geschwiegen habe. »Antiamerikanismus« machte er auch aus; der Leitantrag basiere auf einer »völligen Fehleinschätzung der geopolitischen Kräfteverhältnisse, Auseinandersetzungen, Motivationen und des Charakters der wesentlichen Akteure«.

Von solchen, die eifernde Parteinahme für »den Westen« kaum verbergende Positionen hat sich der Parteitag in der Tat abgesetzt. Ein Antrag aus Bremen, in dem darüber Klage geführt wurde, dass der »globale Westen« häufig »als Projektionsfläche« diene, mit der »andere Staaten und Kräfte die eigene autoritäre Politik und das eigene Dominanzstreben, bis hin zu militärischer Aggression und Vernichtungswünschen, als ›postkoloniale‹ Emanzipation zu legitimieren versuchen«, wurde abgelehnt. Der Bremer Landesvorsitzende Christoph Spehr, der in den Parteivorstand wollte, scheiterte mit dieser Kandidatur. Auch andere Kandidatinnen und Kandidaten, von denen die Delegierten wussten oder annehmen mussten, dass sie etwa Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten, kamen nicht durch.

Ein wesentliches Element des Integrationskurses ist aber selbstverständlich auch eine Abgrenzung nach links. Änderungsanträge zum Leitantrag, die darauf abzielten, den Vorstandsantrag nach links zu konturieren, wurden fast durchweg abgelehnt. Der prominenteste linke Antrag – »Schluss mit der Kanonen-statt-Butter-Politik« –, für den auch die Europaabgeordnete Özlem Demirel sprach, erhielt respektable 189 Stimmen – aber eben keine Mehrheit. Ganz zum Schluss des Parteitages, als viele Delegierte schon gegangen waren, wurde noch – erzwungen durch einen Geschäftsordnungsantrag – ein Dringlichkeitsantrag abgestimmt, der sich für die Unterstützung des »Berliner Appells« gegen die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen aussprach. Dieser Antrag fand trotz einer gegenläufigen Intervention des neuen Bundesgeschäftsführers eine Mehrheit.

Lässt man einmal die Ebene der Antragsschlachten beiseite, dann erscheint aus linker Sicht viel problematischer, dass es in Halle im Grunde keine strukturierte kritische Befassung mit der konkreten Praxis der Partei gab. Das Abstimmungsverhalten im EU-Parlament, das reale Resultat von Regierungsbeteiligungen, das Verhältnis der Partei zur Friedensbewegung – derlei wurde vereinzelt in der Generaldebatte, in Bewerbungsreden oder in Fragen an Kandidaten problematisiert, aber eben nicht systematisch.

Das verweist auf ein tieferliegendes Problem: Zwar lassen sich, wertet man die einzelnen Abstimmungen von Halle aus, etwas mehr als 100 der rund 570 Delegierten einer linken, gegen ein »Weiter so« gerichteten Opposition zuordnen. Aber das ist eben noch kein handlungsfähiger, auf und auch zwischen Parteitagen geschlossen vorgehender linker Flügel, den die Partei weiterhin nicht hat. Und das ist zweifellos eine der Ursachen ihres siechen Zustandes. Die Voraussetzungen für einen solchen Flügel sind aber vorhanden. Das muss übrigens keine Sache der alten Hasen sein: In Halle fielen die Beiträge aus der Parteijugend, die bei Parteitagen in den vergangenen Jahren vor allem durch Konformismus und identitätspolitische Obsessionen auf sich aufmerksam machte, diesmal vielfach erfreulich klar aus.

Hintergrund

Ines Schwerdtner und Jan van Aken sind die neuen Kovorsitzenden der Partei Die Linke. Schwerdtner, die erst seit 2023 Mitglied der Partei ist, trat am Sonnabend in Halle (Saale) auf der Liste zur Sicherung der Mindestquotierung ohne Konkurrenz an und erhielt 434 Stimmen. 70 Delegierte stimmten gegen sie. Für van Aken, der einen den meisten Delegierten unbekannten Mitbewerber hatte, stimmten 477 Delegierte.

Die 35 Jahre alte Schwerdtner, die im sächsischen Werdau geboren wurde und in Hamburg aufwuchs, ist zumindest dem lesenden linken Publikum als Chefredakteurin der deutschen Ausgabe des Magazins Jacobin bekannt. Außerhalb dieses überschaubaren Spektrums ist sie allerdings weithin unbekannt. Beim Augsburger Parteitag im November 2023 setzte sie sich in einer Kampfkandidatur um Listenplatz fünf bei der Europawahl gegen die vom Parteivorstand unterstützte Daphne Weber durch, zog aber wegen des katastrophalen Wahlergebnisses der Partei nicht in das Parlament ein. Zuletzt war sie bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung beschäftigt. Sie will bei der Bundestagswahl 2025 im Wahlkreis Lichtenberg kandidieren, wo Gesine Lötzsch bis 2021 mehrmals das Direktmandat geholt hatte.

Jan van Aken, 1961 in Reinbek bei Hamburg geboren, hat im Gegensatz zu Schwerdtner bereits ein gewisses öffentliches Profil. Der promovierte Biologe trat der Linkspartei kurz nach der Vereinigung von PDS und WASG bei und saß für die Partei von 2009 bis 2017, jeweils gewählt über die Hamburger Landesliste, im Bundestag. Vor der Bundestagswahl 2017 verkündete er, nicht mehr antreten zu wollen, weil er persönlich für eine Mandatszeitbegrenzung sei. Von 2016 bis 2022 war er Mitglied des Parteivorstandes von Die Linke. Zuletzt arbeitet er als Referent bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Schwerdtner und van Aken teilten bei ihrer ersten Pressekonferenz im Karl-Liebknecht-Haus am Montag mit, dass sie als Parteichefs auf rund die Hälfte ihres Gehalts verzichten werden. Sie wollen sich damit am Durchschnittsgehalt in Deutschland orientieren, das bei monatlich rund 2.850 Euro netto liege, sagte van Aken. Der Rest solle in einen Solidaritätsfonds fließen, aus dem Hilfe für Menschen in Not sowie Projekte zur Sozialberatung finanziert werden. Brutto erhalten die Vorsitzenden laut Parteisatzung jeweils 8162,50 Euro im Monat. Beide verfügen nach eigenen Angaben nicht über Nebeneinkünfte. »Wir sind der Überzeugung, dass abgehobene Gehälter auch zu einer abgehobenen Politik führen«, sagte van Aken. Man wolle »die Welt verändern, und da reicht ein durchschnittliches Gehalt vollkommen aus«. Schwerdtner kündigte an, persönlich Sozialsprechstunden in der Parteizentrale anzubieten: »Wir wollen die Türen des Karl-Liebknecht-Hauses öffnen für alle, die Hilfe brauchen.« (np)

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