Tod des Puppenspielers
Von Nick BraunsDer einflussreiche türkische Ordensführer Fethullah Gülen ist tot. Er starb nach Angaben seiner Website Herkul am Sonntag im Exil im US-Bundesstaat Pennsylvania. In der Türkei galt der Prediger als Staatsfeind Nummer eins.
Das US-Magazin Times hatte Gülen im Jahr 2013 auf seiner jährlichen Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten als »Botschafter der Toleranz« gewürdigt. Doch gleichzeitig attestierte das Magazin dem pensionierten Imam, ein »schattenhafter Puppenspieler« zu sein, der von ebenso vielen Menschen gefürchtet wie geliebt werde.
Der 1941 in der osttürkischen Provinz Erzurum geborene Gülen schloss sich als Jugendlicher dem islamischen Nurculuk-Orden des Predigers Said Nursî an. Als Mitbegründer des Vereins zur Bekämpfung des Kommunismus blieb er zeitlebens seiner antikommunistischen Überzeugung treu und unterhielt enge Beziehungen zum religiösen Flügel der faschistischen »Grauen Wölfe«.
Gülen vertrat eine konservative Islamauslegung, propagierte aber zugleich die Aneignung von Naturwissenschaft und Bildung im Allgemeinen. Nachhilfeinstitute und Privatschulen wurden zur wichtigsten Rekrutierungsstätte seiner Anhänger. Diese fand Gülen insbesondere unter den frommen Familienunternehmern Inneranatoliens, die vom kemalistischen Staat von kultureller und politischer Teilhabe ausgeschlossen wurden. Zu seiner Blütezeit umfasste das Gülen-Netzwerk mehr als 1.000 Schulen, Studentenwohnheime, Krankenhäuser, Medien und Wirtschaftsunternehmen in über 140 Ländern.
Bereits seit den 1970er Jahren hatten Gülens Anhänger mit einem Marsch durch die staatlichen Institutionen begonnen. »Die Anwesenheit unserer Schüler in der Justizverwaltung und dem übrigen Staatsapparat ist der Garant unserer Zukunft«, appellierte er in einem 1999 an die Öffentlichkeit gelangten Video an seine Jünger. »Ihr müsst, ohne aufzufallen und ohne auf euch aufmerksam zu machen, an die Schaltstellen der Macht gelangen.«
Als ein Ermittlungsverfahren gegen Gülen eingeleitet wurde, setzte er sich in die USA ab. Zur Hilfe kamen ihm dabei seine CIA-Kontakte: Der US-Geheimdienst hatte dessen Schulen in Zentralasien als Stützpunkte genutzt. Nachdem die AKP 2002 als erste religiöse Partei eine Alleinregierung bilden konnte, kam es zum Bündnis zwischen Gülen und dem aus der islamistischen Millî-Görüş-Tradition kommenden heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.
Die »Armee des Imam« – so der damals selbst inhaftierte linke Journalist Ahmet Şık über die von Gülenisten geführte Polizei – nahm nun zu Tausenden Gegner der regierenden Islamisten, vom Viersternegeneral bis zum kurdischen Bürgermeister, fest, die in Massenprozessen mit gefälschten Beweisen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.
Nach Ausschaltung ihrer gemeinsamen Gegner zerbrach die Zweckallianz der beiden Fraktionen des »grünen Kapitals« 2013 im Streit um Posten und Pfründe. Als gülennahe Staatsanwälte Korruptionsermittlungen gegen Erdoğans engstes Umfeld einleiteten, erklärte dieser dem gülenistischen »Parallelstaat« den Krieg. Mit einem Militärputsch im Juli 2016 hofften die Gülenisten, ihrer drohenden völligen Entmachtung zuvorzukommen. Doch die isolierte Revolte, über deren Vorbereitung die AKP-Führung wohl vorab informiert war, scheiterte und diente Erdoğan als willkommener Anlass zur Zerschlagung der Gülen-Bewegung. Unter dem Ausnahmezustand erfolgten 150.000 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst und der Armee, 77.000 Inhaftierungen, die Enteignung der Unternehmen und das Verbot von Medien der Bewegung.
Deutschland und die USA gelten als neue Zentren der weiterhin über zahlreiche Bildungseinrichtungen verfügenden Bewegung, die derzeit weniger politische als geschäftliche Ambitionen erkennen lässt. Nach dem Tod ihres Gurus dürfte das Rennen um den Zugriff auf ihr Millionenvermögen beginnen. In der Türkei steht eine Aussöhnung der verfeindeten Brüder des politischen Islam derweil nicht auf der Agenda. Gülens Tod werde »uns nicht in Selbstzufriedenheit stürzen«, erklärte Außenminister Hakan Fidan am Montag. Der Kampf zur Auslöschung des Gülen-Netzwerks werde mit aller Kraft fortgesetzt.
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