75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 21. November 2024, Nr. 272
Die junge Welt wird von 2993 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Aus: Ausgabe vom 22.10.2024, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Klimawandel

Irreversible Schäden

Nature-Studie nimmt Stellung zum Überschreiten der 1,5-Grad-Schwelle. Langfristiges Sinken reicht nicht aus
Von Wolfgang Pomrehn
15.JPG
North Carolina versinkt. Hurrikans bilden sich über warmen Gewässern

Wenige Wochen vor der diesjährigen UN-Klimakonferenz ist klar, dass die Menschheit auf einem gefährlichen Weg ist. Der September lag im globalen Mittel 1,54 Grad Celsius über dem vorindustriellen Mittel und war bereits der 14. Monat in Folge, an dem diese Schwelle überschritten wurde. Das geht aus den Auswertungen von Milliarden Wetterdaten hervor, die regelmäßig bei Copernicus unternommen werden, einer Organisation, die sich im Auftrag der EU mit Erdbeobachtung beschäftigt und dabei auch das Klima in den Blick nimmt.

Auch wenn die globale Temperatur in den nächsten Monaten jahreszeitbedingt sinken wird, ist mittlerweile überdeutlich, dass sich der Planet mehr und mehr erhitzt und dass der längerfristige Durchschnitt schon bald jene 1,5-Grad-Latte reißen wird, die die Pariser Klimaübereinkunft als rote Linie ausgegeben hat. Was das bedeuten würde, hatte der sogenannte Weltklimarat, der International Panel on Climate Change (IPCC), bereits 2017 in einem Sonderbericht ausführlich erklärt. Verschiedene Subsysteme des Klimas könnten umkippen beziehungsweise zusammenbrechen, die tropischen Korallenriffe absterben, die nordatlantische Umwälzzirkulation abreißen, große Eismassen auf Grönland oder in der Antarktis in einen unaufhaltsamen und sich selbst verstärkenden Zerfallsprozess eintreten.

Die Hoffnung ist allerdings – und so spiegelt es sich auch in verschiedenen Emissionsszenarien wider, die den Projektionen der Klimamodelle zugrundeliegen –, dass sich das ganze noch irgendwie reparieren lässt, dass CO2 künftig im großen Maßstab der Atmosphäre wieder entzogen werden kann. Doch das könnte sich als eine allzu optimistische Sicht erweisen, besonders genährt von interessierter Seite wie der europäischen Autoindustrie oder den mit der Ölindustrie reich gewordenen aserbaidschanischen Gastgebern der Klimakonferenz in Baku. So sehen es jedenfalls die Autorinnen und Autoren einer Anfang Oktober im Fachmagazin Nature vorgestellten Studie.

Das internationale Team hat sich verschiedene Pfade genauer angeschaut, die von Klimamodellen auf der Grundlage dieser standardisierten Emissionsszenarien beschrieben werden. Viele von denen kommen zu dem Ergebnis, dass die Erde sich zunächst über den anvisierten Zielwert hinaus erwärmt und danach aber durch Eingriffe des Menschen wieder abgekühlt werden kann. Die niedrigeren Pfade gehen von 0,1 bis 0,3 Grad Celsius Überschuss aus. Das sind allerdings nur Durchschnittswerte, denn Klimamodelle können keine exakten Aussagen machen. Es gibt immer eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es nicht ganz so schlimm wird. Oder aber schlimmer kommt. Das wäre nicht gerade belanglos, denn wir wissen heute aus zahlreichen Untersuchungen, dass auch dann, wenn die Erwärmung nur für einige wenige Jahrzehnte anhalten sollte, jedes Zehntelgrad Überschuss ein Erreichen gefährlicher Kippunkte bedeutet. Sind diese Kippunkte einmal erreicht, setzen sich irreversible Prozesse in Gang, die selbst durch eine nachfolgende Abkühlung nicht wieder rückgängig gemacht werden können.

Der Amazonasregenwald zum Beispiel, der dieses Jahr erneut eine schwere Dürre erlebt hat, und zwar die dramatischste seit Menschengedenken, scheint kurz vor einem solchen Kippunkt zu stehen. Vielleicht könnte er schon bald beginnen, sich in eine Savanne zu verwandeln. Im Augenblick sorgt er noch als wichtiger Motor der sogenannten fliegenden Flüsse dafür, dass das Innere Südamerikas bis in den Norden Argentiniens mit reichlich Wasser versorgt wird. Der über Paraguay oder dem Südwesten Brasiliens niedergehende Regen stammt aus Wolken, die über der üppigen, wie ein gigantischer Wasserschwamm arbeitenden Vegetation des Amazonasbeckens entstanden sind. Stirbt diese ab, hätte das verheerende Folgen für die Wasserversorgung einer großen Region.

Eine solche Entwicklung wird sich, wie auch manch anderer Prozess, nicht einfach umkehren lassen, sollte es tatsächlich gelingen, der Atmosphäre große Mengen des Treibhausgases CO2 wieder zu entziehen. Die Autorinnen und Autoren der erwähnten Nature-Studie kommen also zu dem Schluss, dass es ein geradezu gefährliches Vertrauen in diese Technik gibt, die bislang noch nicht einmal ausgereift und erprobt ist. Nach ihrer Abschätzung gibt es ohnehin nur begrenzte Kapazitäten für die Speicherung von CO2 im Untergrund, und diese sollten anders genutzt werden. Zum einen wird es einen kleinen Rest an Treibhausgasemissionen geben, der sich kaum vermeiden lässt und der kompensiert werden müsste.

Zum anderen bräuchte die Menschheit einen Notfallplan, wenn sich herausstellt, dass sich die Erhitzung eher auf die Worst-Case-Prognosen der Klimamodelle zubewegt. Außerdem argumentieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass es bei einem Worst-Case-Szenario auf jeden Fall zu großen Schäden durch die Erwärmung kommen wird, selbst wenn diese nur vorübergehend sein sollte. Die jüngsten Hurrikane an der US-Küste oder die Taifune in Südostasien, die sich über viel zu warmen Meeren bilden, wären dafür ein Beispiel. Unter den Folgen hätten besonders die ärmeren Teile der Bevölkerung zu leiden. Nach Angaben der Nachrichtenagentur AP können im Falle des Hurrikans »Helene«, der im September in den USA einen Schaden von über 50 Milliarden US-Dollar angerichtet hat, nur fünf Prozent der Geschädigten auf Zahlungen der Versicherungen hoffen. Für die Ärmeren unter den restlichen 95 Prozent dürfte das den Ruin bedeuten. Diese ethische Dimension, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, müsse Eingang in die Diskussion der Szenarien und Risikoabschätzungen finden.

Das Dumme ist nur, dass die am meisten Betroffenen und am stärksten Gefährdeten am wenigsten Einfluss haben. Weder auf die Klimapolitik ihrer Regierungen noch auf die in der Atmosphäre angereicherte Menge an Treibhausgasen, zu der sie kaum etwas beitragen. Man könnte auch sagen, dass Klimaschutz mehr und mehr zu einer Frage des Klassenkampfes der Habenichtse gegen die Macht der fossilen Energiewirtschaft und der in ihrem Sinne agierenden Politiker wird.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gerdt P. aus 18146 Rostock (22. Oktober 2024 um 19:44 Uhr)
    Meiner Kenntnis nach stammt der Sonderreport 1.5 des IPCC aus dem Jahr 2018, nicht 2017. Gerdt Puchta
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (21. Oktober 2024 um 23:18 Uhr)
    Seit ziemlich vielen Jahren verfolge ich Veröffentlichungen zum Klimawandel. Das häufigste Wort darin ist regelmäßig »höher«, gefolgt von »als erwartet«, »als gedacht«, »als vorhergesehen«. Das legt nahe, dass die pessimistischen Szenarien die wahrscheinlichen sind. Ein einfacher Blick auf die Entwicklung der Konzentration der wichtigsten Treibhausgase genügt (https://www.umweltbundesamt.de/daten/klima/atmosphaerische-treibhausgas-konzentrationen): Die Konzentrationen steigen! Es gibt kein Plateau, geschweige denn ein Absinken. Ich frage mich, wie »die Menschheit einen Notfallplan« aufstellen und dann auch noch durchführen soll. Die vom fossilistischen Energieregime getriebene Produktionsweise ist nicht am Ende, aber sie führt das Ende herbei. Wie dieses aussehen wird, kann man in der Gegend des heute nicht mehr Plästina genannten Gebiets anschaulich nachvollziehen: »Das Dumme ist nur, dass die am meisten Betroffenen und am stärksten Gefährdeten am wenigsten Einfluss haben.« Übrigens: Ein CCS-Projekt nach dem anderen crasht: https://herald-review.com/news/state-regional/government-politics/adm-pauses-carbon-injections-after-potential-fluid-seepage-discovered-in-second-well/article_86b66b84-8025-11ef-8541-b75dcfa16ad0.html, 1.10.2024. Zitat: »A Carbon injection project in the US has been halted after two leaks were reported – showing risks with carbon sequestration. It seems no drinking water was impacted this time, but this is how it happens. These leaks happened about five miles outside an aquifer, which supplies water for more than 800,000 people. The company didn't tell city staff about the leaks. ADM pauses carbon injections after potential fluid seepage discovered in second well DECATUR — Archer Daniels Midland Co. has temporarily paused carbon dioxide injections below its North American headquarters in Decatur after tests revealed a seepage of fluids from a second monitoring well.«

Mehr aus: Natur & Wissenschaft