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Aus: Ausgabe vom 24.10.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Österreichs Außenpolitik

Auf dem Papier neutral

In Österreich wird über den Status des Landes diskutiert. Eine Aufweichung seiner Bündnisneutralität ist längst erfolgt
Von Dieter Reinisch, Wien
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Rüsten auf: Ministerin Klaudia Tanner und Bundeskanzler Karl Nehammer erfreut über neue Radpanzer (19.2.2024)

Kaum etwas war sinnstiftender für Österreichs Nationalbewusstsein nach 1945 als der Status als neutraler Staat im Kalten Krieg. Am 26. Oktober 1955 wurde das Gesetz zur Neutralität vom Parlament beschlossen, zehn Jahre später das Ereignis zum Nationalfeiertag erhoben. Österreich ist damit bis heute eines der wenigen verbliebenen neutralen Länder in Europa. Zuletzt hatten die skandinavischen Länder Schweden und Finnland ihren neutralen Status abgelegt und sich der NATO angeschlossen. Auch in Österreich werden die Stimmen lauter, die eine weitere Abkehr von der Neutralität wünschen.

In der Argumentation wird regelmäßig der Februar 2022 ins Spiel gebracht: Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine habe sich die Sicherheitslage verändert, weshalb eine Abkehr von der Neutralität notwendig sei. So lautet der Standpunkt einiger Politiker und transatlantischer Lobbyisten. Bundespräsident Alexander Van der Bellen (Die Grünen) forderte im Mai 2023 zwecks Minenräumung eine Entsendung österreichischer Soldaten in die Ukraine und behauptete, dass dies mit der Neutralität vereinbar sei. Offen gegen die Neutralität treten die liberalen Neos auf. Deren Spitzenkandidatin Beate Meinl-Reisinger machte in den TV-Debatten vor der Nationalratswahl im September deutlich, dass ihre Partei das Aufgehen des Bundesheers in einer neu zu schaffenden EU-Armee fordere.

Die Bevölkerung hält davon wenig: In einer Gallup-Umfrage vom März 2024 gaben 74 Prozent an, es sei besser, Österreich bleibe neutral. Nur 14 Prozent glauben, ein NATO-Beitritt würde Vorteile für das Land bringen. 51 Prozent sind aber der Meinung, dass die Neutralität Österreich vor einem Krieg schützen würde, wie wiederum aus einer Anfang Oktober veröffentlichten Umfrage von Unique Research hervorgeht. Die Bedrohung ist aus Sicht der Österreicher akut: 43 Prozent halten einen Krieg auf EU-Boden in den nächsten zehn Jahren für wahrscheinlich. 57 Prozent sind gegen militärischen Beistand im Falle eines Angriffs auf ein anderes EU-Land.

Gabriele Matzner, vor ihrer Pensionierung Botschafterin in Bratislava, Tunis und London, ist der Auffassung, dass eine aktive Neutralitätspolitik Österreich sehr wohl schützen könne, nämlich »eine aktive Politik, die im Vorfeld versucht, Krisen friedlich zu lösen«, wie die ausgebildete Völkerrechtlerin auf einer Veranstaltung zur Frage der Neutralität am vergangenen Dienstag in der Wiener Bildungsakademie erklärte. Österreich habe aber »die Nützlichkeit und Notwendigkeit« der Neutralität in den letzten Jahren vernachlässigt. Das Land sei nicht nur »pro forma völkerrechtlich neutral«, sondern es müsse »aus der Neutralität auch etwas gemacht werden«, forderte Matzner. Aktive Neutralitätspolitik sei das Bemühen, keine Situationen entstehen zu lassen, »in denen der Neutralitätsfall relevant wird«. Konfliktdämpfende Politik und humanitäre Außenpolitik nannte sie das: »So hat das Österreich jahrzehntelang gemacht«, erklärte sie und verwies dabei auf die Politik von Bundeskanzler Bruno Kreisky, in dessen Kabinett sie in den 1970er Jahren tätig war. Nur dadurch sei Wien Sitz Dutzender internationaler Organisationen wie UN und OSZE geworden: »Mich hat noch niemand davon überzeugt, dass die Aufgabe der immerwährenden Neutralität sinnvoll ist.«

Helfried Carl, von 2014 bis 2019 österreichischer Botschafter in der Slowakei, entgegnete, die geopolitische Lage habe sich seit dem Ende des Kalten Kriegs gewandelt. Durch den EU-Beitritt 1995 sei die Neutralität obsolet geworden. Er forderte eine Beistandspflicht »im Falle eines russischen Angriffs auf das Baltikum« und ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips der EU in Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). »Sonst würde man EU-Recht brechen, wie es Viktor Orbán macht«, behauptete Carl.

Dem widersprach der ehemalige Sozialminister Erwin Buchinger (SPÖ). Neutralität könne auch im Rahmen der GASP ausgeführt werden, denn die EU habe den Neutralitätsstatus akzeptiert, als Österreich beigetreten ist. Die »irische Klausel«, durch die neutrale EU-Länder die Beistandspflicht auslegen können, wie sie es für sinnvoll halten, garantiere dies. Gleichwohl habe Österreich die Teilnahme an Wirtschaftssanktionen akzeptiert, was zu einer Unterminierung der Neutralität geführt habe. In Militärfragen sei sie aber nicht aufgeweicht worden, sagte Buchinger. Und dennoch: Österreich habe an Ansehen verloren. Das Land »hat in der EU die Friedensfrage Orbán überlassen«. Buchinger erwog, ob Österreich nicht eine »Brückenfunktion zu den blockfreien Staaten und den BRICS« einnehmen und in der »drohenden Konfrontation hin zum Atomkrieg als neutrales Land eine positive Rolle spielen« könne.

Dass dies passieren wird, ist unwahrscheinlich. In der im August veröffentlichten neuen Verteidigungsstrategie skizziert die amtierende Regierung eine weitere NATO-Annäherung. Mit dem im Mai dieses Jahres erfolgten Beitritt zur European Sky Shield Initiative, einem geplanten, von Deutschland angestoßenen Projekt zum Aufbau eines europäischen Luftverteidigungssystems, hat Österreich ohnedies schon weite Teile seiner Luftraumabwehr unter die Kontrolle des transatlantischen Militärbündnisses gestellt.

In den kommenden Tagen werden die formellen Koalitionsgespräche zwischen ÖVP und SPÖ beginnen, bei denen die Neos in einer Dreierkoalition ins Boot geholt werden sollen. Letztere werden dabei eine weitere Aufweichung der Neutralitätspolitik fordern.

Hintergrund: Nationalfeiertag

Österreich begeht am Sonnabend seinen Nationalfeiertag. Seit 1965 ist der 26. Oktober der höchste staatliche Feiertag des Landes. Zehn Jahre zuvor hatte der Nationalrat das Gesetz zur österreichischen Neutralität beschlossen. Auch andere Tage standen damals zur Diskussion: etwa der 12. November, an dem 1918 die Republik ausgerufen und dadurch in Wien die jahrhundertealte Habsburgermonarchie infolge der Niederlage im Ersten Weltkrieg zu Grabe getragen wurde.

Auch der 27. April wurde in Betracht gezogen. An diesem Tag im Jahr 1945 unterzeichneten die Vorstände von SPÖ, ÖVP und KPÖ im Wiener Rathaus die Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs, mit der der »Anschluss Österreichs« an das Deutsche Reich für null und nichtig erklärt wurde. Auch der 15. Mai hätte Nationalfeiertag werden können. 1955 wurde an jenem Datum der Staatsvertrag unterzeichnet, mit dem der Abzug der alliierten Besatzungsmächte und die Wiederherstellung Österreichs als souveräner Staat besiegelt wurden.

Geworden ist es aber der 26. Oktober in Erinnerung an den Nationalratsbeschluss zur österreichischen Neutralität im Jahr 1955. Seit damals steht im Artikel 1 des Bundesverfassungsgesetzes, dass Österreich »zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes (…) aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität« erklärt.

Im Artikel 2 erklärt Österreich, »zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen« beizutreten. Auch werde es »die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete« nicht zulassen.

Die Neutralität Österreichs ging auf Initiative der Sowjetunion zurück, die 1954 diese Forderung auf der Berliner Außenministerkonferenz vorgetragen hatte. Eine österreichische Regierungsdelegation flog im Frühjahr 1955 zu Verhandlungen nach Moskau. Am 15. April 1955 wurde das Moskauer Memorandum unterzeichnet, in dem sich Österreich »aus freien Stücken für militärisch neutral« erklärte. (dr)

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