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Aus: Ausgabe vom 24.10.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kulturpolitik

»Honorarkräfte haben Angst«

Über handfeste Sorgen von Musiklehrern und die Wertschätzung musikalischer Bildung in Berlin. Ein Gespräch mit Natsumi Foljanty
Von Mawuena Martens
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Musikschulen sichern für alle: Kundgebung vor dem Berliner Abgeordnetenhaus (24.6.2024)

In den vergangenen Wochen haben Musikschullehrer unter dem Motto »Musikschuldrama geht weiter – Musikschule sichern für alle« demonstriert. Was hat es damit auf sich?

Viele Honorarkräfte an Musikschulen, aber auch Musikschulleiter, machen sich derzeit große Sorgen. Hintergrund ist ein Urteil des Bundessozialgerichts vom Juli 2022, das sogenannte Herrenberg-Urteil. Geklagt hatte eine Musiklehrerin, die über Jahre hinweg als Honorarkraft an einer Musikschule beschäftigt war. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Beschäftigung der Lehrkraft auf Honorarbasis nicht den Merkmalen einer »selbständigen Tätigkeit« entspricht, sie statt dessen als sozialversicherungspflichtig beschäftigt gilt. Daraufhin änderte die Rentenversicherung ihre Kriterien. Alle Honorarkräfte müssen nun fürchten, als Scheinselbstständige eingestuft zu werden.

Was hat das für Folgen?

Gravierende. In Berlin befinden sich zum Beispiel nur rund 25 Prozent der Musiklehrer in einer Festanstellung. Zwar haben die Musikschulen die Verträge mit Honorarkräften wie jedes Jahr in Form von Neubeauftragungen verlängert, in Treptow-Köpenick allerdings vorläufig nur bis zum 31. Dezember 2024. Außerdem werden teilweise keine neuen Honorarkräfte eingestellt. Wenn die eine Lehrkraft geht, kann sie nicht durch eine neue ersetzt werden. Je länger dieser Zustand anhält, desto stärker schrumpfen die Musikschulen. Und die Wartelisten der Schüler werden noch länger. Schon jetzt zeichnet sich eine Abwanderung von Lehrkräften ab, es gibt Probleme bei der Aufrechterhaltung des normalen Lehrbetriebs. Einige Musikschulen haben für das neue Schuljahr einen Schüleraufnahmestopp verhängt. Für ausländische Kollegen kommt erschwerend hinzu, dass Ausländerbehörden ihnen aufgrund der unklaren Beschäftigungssituation eventuell keinen Aufenthaltstitel mehr ausstellen.

Ist das auch an Ihrer Musikschule, der Leo-Borchard-Musikschule im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf, passiert?

Der jährliche Unterrichtsauftrag für Honorarkräfte kam in diesem Schuljahr nicht von der Musikschule, sondern vom Bezirk. In dem Schreiben stand: »Dieser Sammelauftrag steht unter dem Vorbehalt eines Prüfergebnisses über das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung.« Das ist einerseits gut, die kommunalen Musikschulen bzw. Musikschulleiter gehen damit kein Risiko ein. Doch das ist nicht in allen Bezirken so – da gibt es einen großen Flickenteppich an Möglichkeiten von Handhabungen.

Bis Mitte Oktober galt ein Stillhaltemoratorium der Deutschen Rentenversicherung. Prüfverfahren zur Selbständigkeit wurden bis dahin ausgesetzt. Was passiert jetzt?

Das war lange unklar. Es herrscht eine große Verunsicherung, denn der Berliner Senat hat noch keine endgültige Lösung vorgestellt. Mittlerweile hat die Deutsche Rentenversicherung jedoch angekündigt, bis – mindestens – zum Jahresende in kritischen Fällen nichts zu unternehmen und auf einen vom Arbeitsministerium vorgeschlagenen neuen rechtlichen Rahmen zu warten.

Hat nicht auch die Berliner Regierungskoalition aus CDU und SPD Anfang September einen Stufenplan zur Festanstellung an kommunalen Musikschulen vorgelegt?

Ja, der Plan sieht eine schrittweise Festanstellung bis 2027 bzw. 2028 vor – beginnend in diesem Jahr mit zehn bis 15 Prozent der Musikschullehrkräfte. Während die CDU auch weiterhin an diesem Plan festhält, hat sich die SPD nach Gesprächen mit uns mittlerweile einsichtig gezeigt.

Wieso sind Sie gegen den Plan?

Eine Umsetzung würde bedeuten, dass immer, wenn ein kleines bisschen Geld da ist, ein paar Honorarkräfte festangestellt werden. Aber was ist mit den »restlichen« 60 Prozent in all diesen Jahren? Und wer entscheidet, wer fest eingestellt wird und wer nicht? Es wäre außerdem ein teurer und langwieriger Prozess, wenn man alle Stellen extra ausschreibt. Nicht zuletzt würden Honorarkräfte mit jahrelanger Berufserfahrung bei einer solchen Neueinstellung eventuell mit einer niedrigen Erfahrungsstufe beginnen müssen.

Was fordern Sie statt dessen?

Wir haben eigentlich keine andere Forderung als die, dass die bestehenden Gesetze eingehalten werden. Das heißt, Honorarkräfte müssen nach dem »Herrenberg-Urteil« eine Festanstellung erhalten. Sie ist alternativlos, es sei denn, man will sich gänzlich von den Musik­schulen und ihrem Unterrichtsangebot verabschieden. Aber das ist, denke ich, zum Glück nicht Konsens. Außerdem ist die musikalische Bildung im Schulgesetz verankert und somit eine Pflichtaufgabe des Landes Berlin. Gelder für weitere Stellen könnten also, statt aus dem Kulturhaushalt, auch aus dem Nachtragshaushalt kommen.

Wie ist die Situation an privaten Musikschulen?

Sie sind von der Problematik der Scheinselbstständigkeit gleichermaßen betroffen. Vor allem: Es geht nicht nur um Musikschulen. Der Paradigmenwechsel der Rentenversicherungen trifft neben anderen Bildungs- und Kultureinrichtungen wie Tanzschulen oder Volkshochschulen auch Kunst- und Musikhochschulen, Physiotherapeuten oder Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten.

Gibt es Bemühungen, breite Bündnisse zu schließen?

Ehrlich gesagt, nein. Wir haben wenige Kontakte.

Und die Situation in anderen Bundesländern – wie ist die?

In Süddeutschland war die Situation immer schon besser. Dort waren Beschäftigte an Musikschulen bereits vorwiegend festangestellt. Auch Kommunen in Brandenburg wie zum Beispiel Potsdam, Fürstenwalde, Frankfurt (Oder) haben das Urteil des Bundessozialgerichts zum Anlass genommen, alle Honorarkräfte in Festanstellung zu übernehmen. Ganz anders in Berlin. Wir starten sogar aus der prekären Situation heraus, bundesweites Schlusslicht bei den Festanstellungen zu sein.

Das sagt ja auch etwas über die Wertschätzung von musikalischer Bildung aus.

Ich habe schon das Gefühl, dass Berlin Musik und die Arbeit der Musikschulen weniger schätzt, als es anderswo der Fall ist. Das Thema ist auf der Prioritätenliste offensichtlich sehr weit unten angesiedelt. Dabei spielen Musikschulen an anderen Orten, besonders in Kleinstädten, eine zentrale Rolle. Sie sind Kern der Jugendarbeit, des kulturellen Lebens. Sie leisten einen wichtigen Beitrag – das könnten sie hier auch.

Natsumi Foljanty unterrichtet als Honorarkraft Klavier an der Leo-Borchard-Musikschule im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf. Außerdem ist sie Teil des Vorstandes der Landeslehrervertretung der Berliner Musikschulen e. V.

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