»Solidarität mit Erwerbslosen gibt es nicht mehr«
Interview: Annuschka EckhardtSie klagen in einem Musterstreitverfahren gemeinsam mit dem Sozialverband VdK gegen die Erhöhung des Regelsatzes des Bürgergeldes. Warum?
Es geht in diesem Verfahren nicht darum, ob ich nur trocken Brot esse oder armutsbedingt faste, sondern es geht um die symbolische Regelsatzerhöhung in den Jahren 2022 und 2023. Im Jahr 2022 ist der Regelsatz um 0,76 Prozent gestiegen. Das sind ungefähr drei Euro im Monat mehr gewesen. Die Preise allerdings sind in jenem Jahr explodiert, das konnte diese Erhöhung nicht mal im Ansatz ausgleichen. Das Geld reicht vorne und hinten nicht mehr, um zu überleben. Deshalb klage ich mit dem VdK gegen die zu niedrige Erhöhung der Regelsätze im Jahr 2022.
Das Verfahren wird am 25. November in Düsseldorf stattfinden. Sie sind mit Ihrer Familie gemeinsam geladen. Weshalb betrifft der Rechtsstreit auch Ihre Angehörigen?
Weil wir alle davon betroffen sind, jeder einzelne in der Bedarfsgemeinschaft, dass das Geld vorne und hinten nicht reicht. Aber nur meine Frau und ich sind zu dem Verfahren geladen – unsere gemeinsamen Kinder nicht.
Welche konkreten Auswirkungen merken Sie im Alltag durch die Teuerung?
Die Inflation ist explodiert. Toastbrot hat 0,99 Euro gekostet und kostete dann plötzlich 1,49 Euro. Brühwürstchen konnte man für 1,29 Euro kaufen, dann kosteten sie 2,29 Euro. Diese Preissprünge konnte ich mit dem Bürgergeld nicht mehr auffangen, und ich war zehn Tage vor Ende des Monats schon pleite, der Kühlschrank war dann leer. Wir hatten ganz einfach nichts mehr zu essen: Das sind die Auswirkungen der sogenannten Sozialpolitik der Ampelregierung.
Können Sie das Verfahren bis zum jetzigen Zeitpunkt beschreiben?
Wir haben 2022 mit dem VdK begonnen, beim Sozialgericht Düsseldorf Klage einzureichen, jetzt wird darüber verhandelt. In der Zwischenzeit sind Gutachten ausgetauscht worden mit Musterberechnungen vom Paritätischen Wohlfahrtsverband und Experten, die wissenschaftlich belegen, dass die Erhöhung der Regelsätze in diesem Zeitraum zu niedrig war.
Finanzminister Christian Lindner, FDP, verkündete diese Woche, dass er es für gut befinde, die Wohnkostenpauschale statt an die Vermieter direkt an die Mieter zu zahlen. Diese könnten dann überlegen, ob sie heizen oder in eine kleinere Wohnung ziehen.
Brutaler kann man Menschen, die von Bürgergeld leben, gar nicht angreifen. Sie leben nicht in viel zu großen Wohnungen, sondern in der Regel in sehr kleinen. Die jetzige Regelung sieht schon vor, dass die Wohnungsgröße und auch die Kosten vorgegeben sind. Was er hier vorhat, ist, die Lebensbedingungen von Erwerbslosen noch schlechter zu machen und das als Reform zu verkaufen. Wenn ich mir die Sozialpolitik dieser Regierung anschaue, bewegt die sich nicht in die Zukunft, sondern zurück ins 19. Jahrhundert. Jeden Monat macht diese Regierung unser Leben schlechter, indem sie irgendwelche »Reformen« auf den Tisch legt.
Auf dem Weg zur »Kriegstüchtigkeit« sollen die Bürger den Gürtel enger schnallen. Wie nehmen Sie die Stimmungsmache gegen Bezieher von Bürgergeld wahr?
Die Spaltungsbemühungen der Ampel tragen Früchte: Es stört niemanden, wenn mich jemand in der Öffentlichkeit oder im Internet »Schmarotzer«, »Zecke« oder »Parasit« nennt. Rassismus wird begünstigt, Leute sagen ganz offen, dass Geflüchtete »herumsitzen und vom Bürgergeld leben würden, den Deutschen die Plätze wegnehmen«, dass »die Bimbos im Bus sitzen würden und dass die Deutschen sich da nicht mehr hinsetzen könnten«. Ich lebe mit meiner nicht weißen Frau und mit drei meiner leiblichen Kinder, die auch nicht weiß sind, hier. Der Rassismus wird unerträglich. Leute aus der sogenannten Mittelschicht, die mich wegen meiner Öffentlichkeitsarbeit kennen, geben mir ungefragt Einkaufstips im Supermarkt. Sie sagen, ich solle den Joghurt doch weglegen, wenn ich am Ende des Monats noch etwas auf dem Teller haben möchte. Das Zusammenleben von Bürgergeldbeziehenden mit Menschen, die arbeiten, ist fast nicht mehr möglich. Solidarität mit Erwerbslosen gibt es nicht mehr. Während meiner ehrenamtlichen Tätigkeit für die Mönchengladbacher »Suppentanten«, einer Suppenküche, sehe ich wöchentlich die Schlangen der Hungernden länger werden – deshalb klage ich!
Thomas Wasilewski ist VdK-Musterkläger in Sachen Bürgergeld und Armut
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