Eine Million Männer gesucht
Von Reinhard LauterbachDie Ukraine hat die Einberufungskriterien zur Armee nochmals verschärft. Das Kabinett beschloss, alle bisherigen Zurückstellungen bis zum 15. November auszusetzen und keine weiteren mehr zu genehmigen. In der Zwischenzeit sollen alle Fälle als »unabkömmlich« überprüft werden. Ziel ist es, zwei Drittel der derzeit rund 1,5 Millionen vom unmittelbaren Wehrdienst freigestellten Männer den Mobilisierungsbehörden zur Verfügung zu stellen. Als »unabkömmlich« wegen des »strategischen Charakters« ihrer Arbeit im Hinterland gelten nicht nur Beschäftigte der Rüstungsindustrie, sondern auch Beamte der Staatsanwaltschaften und des staatlichen Fernsehens.
Ob die Order, eine Million Mann einzuberufen, erfolgreich ist, bleibt abzuwarten. Ukrainische Medien schreiben, die Anordnung werde wahrscheinlich eher einen neuen Schwung Geld in die Schmiergeldwirtschaft der Einberufungsbehörden bringen. Und dies sowohl von seiten der Betroffenen als auch der Betriebe, die mit immer schärferem Arbeitskräftemangel konfrontiert sind. Manchmal jedoch wird die Gier einigen Erfassungsbeamten zum Verhängnis. So im westukrainischen Ternopil, wo der Leiter eines Kreiswehrersatzamtes von einem bereits rechtskräftig zurückgestellten Agrarunternehmer für eine Verlängerung der Freistellung Gutscheine über 1.000 Liter Diesel verlangt hatte und aufflog.
In dieser Situation werden auch die politischen Statements von Politikern zur Mobilisierungsfrage immer irrer. So verlangte der Chef der Rechtspartei »Bratstwo« (Bruderschaft), Dmitro Kortschinskij, im ukrainischen Fernsehen, das Einberufungsalter auf 14 Jahre zu senken. Halbwüchsige seien durchaus in der Lage, ein Sturmgewehr zu bedienen. Dabei zitierte der Politiker das Beispiel »fortschrittlicher afrikanischer Staaten«, wo Kinder ab zwölf Jahren rekrutiert würden – als Kanonenfutter für die dortigen Bürgerkriege.
In einer weiteren Frage – ob demnächst Soldaten aus Nordkorea auf russischer Seite in die Kämpfe eingreifen – macht die Ukraine weiter Stimmung. Kirilo Budanow, Chef des Militärgeheimdienstes GUR, teilte mit, er rechne noch Mitte dieser Woche damit, dass die ersten Nordkoreaner im Kursker Gebiet an der Front eintreffen würden. Belege konnte er bisher nicht vorlegen. Auch NATO-Generalsekretär Mark Rutte hatte behauptet, das Bündnis habe Beweise dafür, dass nordkoreanische Soldaten sich in Russland aufhielten, es wisse aber noch nicht, wie viele und zu welchem Zweck. Ähnlich äußerte sich US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am Mittwoch anlässlich eines Besuches bei Papst Franziskus im Vatikan.
An der Front verschlechtert sich die Lage für die ukrainischen Truppen im Donbass und im Bezirk Charkiw. Nach Berichten auch ukrainischer Quellen sind russische Kämpfer dabei, die Stadt Selidowe südöstlich von Pokrowsk zu erobern. Ukrainische Militärblogger sprachen von »unglaublichen Mengen feindlicher Infanterie«, die »wie die Kakerlaken« in die von ukrainischen Truppen besetzten Plattenbauten im Stadtzentrum eindrängen. Russland berichtete von weiteren Geländegewinnen südlich der Stadt am Frontbogen westlich von Donezk sowie im Osten des Charkiwer Bezirks. Dort sind russische Truppen offenbar durch die Eroberung des Dorfes Krugljakiwka ans Ostufer des Flusses Oskil vorgedrungen und haben damit die Front der ukrainischen Seite gespalten. »Prorussische Partisanen« im Gebiet Mikolajiw rühmten sich, die Bahnlinie von dort nach Cherson gesprengt zu haben. Die Reparatur dauerte allerdings nur wenige Stunden. Als nächstes Ziel wollen die »Partisanen« einen Zug zum Entgleisen bringen.
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