Kritik contra Verblendung
Von Jürgen HeiserKamala Harris hat sich für den Wahlkampf in eine Ikone verwandelt. Des vielgepriesenen »American Dream« nämlich. Jahrelang war sie als Stellvertreterin des amtierenden US-Präsidenten Joseph Bidens nahezu unsichtbar geblieben. Noch viel weniger schien sie als die »Vize an seiner Seite«, die schweigende Frau hinter ihm, wenn er seine Ansprachen vom Teleprompter ablas. So hatte man sie abschätzig als stets lächelndes Beiwerk des Mannes im Weißen Haus angesehen. Erst nachdem Bidens halsstarriges Festhalten an der Kandidatur für die zweite Amtszeit zum peinlichen Debakel für die Demokratische Partei geworden war und der parteiinterne Druck ihn am 21. Juli zum Rückzug gezwungen hatte, gab er den gnädigen Staatsmann und verlautbarte beim Sender CBS, »zur Aufrechterhaltung der Demokratie« seinen »Pflichten gegenüber dem Land« Rechnung zu tragen, alles zu tun also (oder nicht vielmehr zu tun) für »das Wichtigste: Wir müssen, müssen, müssen Trump besiegen«. Um die längst zirkulierenden Spekulationen, seine Nachfolge betreffend, zu stoppen, schlug er am selben Tag seine Vize Harris vor: »Sie kann eine verdammt gute Präsidentin werden«, sagte Biden laut dpa.
Das war das Signal, den Hebel umzulegen. Über Nacht wurde Harris, flankiert von einer orchestrierten weltweiten Medienkampagne, zur Thronfolgerin ausgerufen, obgleich nicht wenige in der Partei bezweifelt hatten, dass Harris Trump schlagen könne. Bidens Empfehlung veränderte diese Dynamik sofort. Eine vier Wochen nach der Bekanntgabe und wenige Tage vor dem Demokratischen Nationalkonvent (DNC) veröffentlichte Umfrage des Ipsos-Instituts ergab, dass Harris landesweit mit 42 zu 37 Prozent klar vor Trump liege, der vor Bidens Verzicht noch geführt hatte.
Bidens schlechte Werte
Die Frage, was außer Bidens Altersproblemen für seine schlechten Umfragewerte gesorgt haben könnte, spielte weder in den USA noch in Europa eine Rolle. Anders im Nahen Osten. Alan Fisher, Washington-Korrespondent von Al-Dschasira, berichtete am 16. August, einer der Hauptgründe für Bidens drohendes Scheitern bei der Wiederwahl sei »seine Unterstützung für Israels Krieg gegen den Gazastreifen – wo fast 40.000 Palästinenser getötet wurden – und seine Unfähigkeit, einen Waffenstillstand zu erreichen«. Biden habe ihm, Fisher, dazu erklärt, er werde »mehr Mitglieder seines Teams nach Israel schicken, um das Abkommen zustande zu bringen«.
War das die Wahrheit? Am 9. Oktober meldete junge Welt online mit Bezug auf eine Pressemitteilung des Weißen Hauses, Biden und Harris hätten an diesem Tag »nach fast zwei Monaten erstmals wieder mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu telefoniert«. Zwei Monate Funkstille also in der drängenden Frage eines Waffenstillstands, während Tausende Menschen in Gaza, dem Westjordanland und nun auch in Libanon und Syrien starben.
Harris ließ sich in dieser Zeit als aufstrebender Stern am Washingtoner Himmel bejubeln. »Wir schreiten voran« und »Kamala Harris ist für das Volk, Donald Trump für sich selbst« waren die neuen Parteislogans der Demokraten. In ihren Reden sprach Harris nur selten über das Massentöten des israelischen Militärs in Gaza. Anlässlich ihrer Dankesrede für die Nominierung als Präsidentschaftskandidatin auf dem DNC am 19. August 2024 in Chicagos United Center warb Harris mit ihren vorgeblich guten Absichten: »Präsident Biden und ich arbeiten rund um die Uhr, denn jetzt ist es an der Zeit, ein Geiselabkommen und einen Waffenstillstand zu erreichen.« (Truthout, 28. August 2024) Daraufhin gab sie ein »eisernes Versprechen« der ewigen Unterstützung Israels: »Lassen Sie mich das deutlich sagen: Ich werde immer für das Recht Israels eintreten, sich selbst zu verteidigen, und ich werde immer sicherstellen, dass Israel auch die Fähigkeit hat, sich selbst zu verteidigen.«
Zur selben Zeit erklärte ein Sprecher des Außenministeriums, dass die USA Israel weitere 3,5 Milliarden US-Dollar für Waffen aus US-Schmieden und militärische Ausrüstung zur Verfügung stellen werden. Womit die Militärhilfe für die israelischen Streitkräfte laut dem von der Brown University in Rhode Island herausgegebenen Bericht »Costs of War« seit dem 7. Oktober 2023 auf einen Rekordbetrag von 17,9 Milliarden Dollar anstieg, was den »höchsten Betrag an Militärhilfe« ausmacht, »der in einem Jahr an Israel gezahlt wurde, seit die USA 1959 mit dieser Praxis begonnen haben«. Insgesamt gaben die USA seit 2023, Operationen im Zusammenhang des Gazakriegs und Operationen gegen die »Huthis« (Ansarollah) in Jemen eingeschlossen, mindestens 22,7 Milliarden Dollar aus, so der Bericht.¹
Auf dem Parteikonvent bekamen zwar Eltern einer Geisel, die sich seit dem 7. Oktober 2023 in der Gefangenschaft der Hamas befindet, Gelegenheit zu sprechen. Aber nicht einer der zahlreichen Delegierten palästinensischer Herkunft durfte ans Mikrofon. Vor dem Kongresszentrum protestierten derweil Tausende Demonstranten der Pro-Palästina-Bewegung, um Harris und ihre Partei unter Druck zu setzen, die Unterstützung der USA für Israels Krieg gegen Gaza einzustellen. Ohne auf die Waffenlieferungen einzugehen, sprach auf dem DNC auch die als linksgerichtet geltende New Yorker Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez. Unter Beifall wiederholte sie in ihrer Rede die Behauptung, Harris arbeite »unermüdlich daran, einen Waffenstillstand in Gaza zu erreichen und die Geiseln nach Hause zu bringen«. Deshalb sollten »progressive Wähler« Harris unbedingt unterstützen, wie der DNC-Ticker von Politico-Washington sie zitierte.
»Wow! Was für eine Woche!« triumphierte »J Street«-Präsident Jeremy Ben-Ami in einer E-Mail an Unterstützer seiner Organisation, nachdem Harris in ihrer Dankesrede Israel volle Unterstützung zugesagt hatte. Das 2007 gegründete politische Aktionskomitee versteht sich als »politische Heimat der proisraelischen, friedens- und demokratiebewegten Amerikaner«. Ben-Ami weiter: »Die ›J Street‹-Mitglieder verlassen den Nationalkonvent der Demokraten voller Tatendrang! Es ist nun klar, dass wir größeren Einfluss haben als je zuvor!« Er fügte hinzu, dass »die Äußerungen der Vizepräsidentin zu Israel/Palästina vielleicht die deutlichste Artikulation der Werte von ›J Street‹ waren«.
Wertegemeinschaft
Was genau sind diese Werte? »J Street« sagt über sich: »›J Street‹ organisiert proisraelische und profriedensorientierte Amerikaner, um eine Politik zu fördern, die unsere tief verwurzelten jüdischen und demokratischen Werte verkörpert und dazu beiträgt, den Staat Israel als demokratisches Heimatland für das jüdische Volk zu sichern.« Entscheidend an den von Harris in ihrer Dankesrede zu Israel und Gaza formulierten »Werten« war, dass sie zur Verantwortung der USA und Israels für das Gemetzel schwieg und nur ihr »Bedauern über die Opfer« ausdrückte. Als seien die »Nakba« von 1948, das Besatzungsregime seit 1967 und der seit einem Jahr ungehemmter militärischer Gewalt tobende Krieg in Gaza Naturkatastrophen. Alle Welt weiß, dass erst Washingtons Komplizenschaft mit Tel Aviv das Abschlachten palästinensisch-arabischer Zivilisten möglich macht.
Die Begeisterung des Präsidenten von »J Street«, der laut Counterpunch »vielleicht führenden liberalen zionistischen Organisation der USA«, macht eines deutlich: Die aktuelle US-Politik stützt finanziell, militärisch und propagandistisch vortrefflich das Ziel der Organisation, »den Staat Israel (…) für das jüdische Volk zu sichern«. Zufrieden schrieb Ben-Ami auf X: »Könnte nicht stolzer auf Vizepräsidentin Harris für ihre Äußerungen zu Israel/Palästina sein – und auf die Reaktion der Demokraten insgesamt« (Counterpunch, 28. August).
Im Jubel über Harris’ Nominierung spielte das alles keine Rolle. Auch nicht, dass ihre von den Eliten aus Partei, Big Business und Medien vollzogene Kür vorbei an allen bestimmenden Gremien und Auswahlmethoden der Partei handstreichartig »geschah«. Harris sei halt spät ins Rennen eingestiegen, hieß es. Chivona Newsome, Mitbegründerin von »Black Lives Matter« in New York, kritisierte jedoch, damit sei verhindert worden, die Vizepräsidentin zu einer klareren Haltung zu notwendigen Reformen von Polizei und Strafjustiz zu bewegen. »Im Jahr 2020 haben Biden und Harris das Ruder herumgerissen, weil ›Black Lives Matter‹ in aller Munde war«, so Newsome. »Aber nachdem sie das Amt gewonnen hatten, änderten sie nichts!« Weder wurde die Rechenschaftspflicht von Polizisten durchgesetzt noch generell etwas gegen die fortgesetzte »Ermordung schwarzer und hispanischer Minderjähriger getan«, so die Aktivistin. Harris habe bislang nicht gezeigt, dass es ihr mit der Polizeireform ernst sei. Die landesweite Organisation von »Black Lives Matter« entschied deshalb, Harris nicht im Wahlkampf zu unterstützen.
Derweil wächst der Zuspruch für Harris aus schwarzen Gemeinden, von Frauen, traditionellen Bürgerrechtsorganisationen und vom Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO. Vor allem auf die Frauen richtete Harris’ Wahlkampfleitung deshalb ihre Kampagne aus. Nach unentwegten Lobeshymnen auf Biden schien es für die Demokraten plötzlich das größte Ideal zu sein, mit Harris nicht nur die erste Frau überhaupt, sondern sogar die erste »schwarze Präsidentin« ins Weiße Haus zu bringen. Sie ist die beste Waffe gegen den immer noch befürchteten Sieg des alten weißen Mannes Donald Trump, so hofft man in der Washingtoner Parteizentrale.
Der aufkeimende Siegestaumel in der »Harris for President«-Kampagne erfasste nicht nur Mitglieder und die traditionelle Wählerschaft, sondern auch Gruppierungen und progressive Kräfte außerhalb und teilweise deutlich links von der Partei. Dass vor allem der kleine linksliberale Parteiflügel die Vizepräsidentin stützen will, obwohl Harris nicht immer ein gutes Verhältnis zu ihm hatte, wird intern als Zeichen für eine neue Phase der Einheit der Partei gewertet. Wo Biden zuvor verunsicherte und irritierte, soll Harris nun wieder Orientierung auf ein Ziel bieten.
Chance für Linksliberale
Viele Linksliberale sehen Harris’ Kandidatur als neue Chance, einen »linkeren Kurs« einzuschlagen und diesen mit ihr im Weißen Haus zu etablieren. Harris habe »eine einzigartige Beziehung zur progressiven Bewegung«, behauptete William Walter, exekutiver Geschäftsführer von »Our Wisconsin Revolution« (OWR), gegenüber Al-Dschasira (16. August). Die Bürgerbewegung OWR tritt dafür ein, »Wisconsin zu einer echten Demokratie zu machen – mit einer Regierung und einer Wirtschaft, die von den Bürgern kommt und für sie da ist«. Walter räumte jedoch ein, Harris sei »keine progressive Traumkandidatin«. Sie tue sich schwer, »die gleiche Authentizität und Klarheit der Botschaft zu vermitteln« wie progressive Ikonen vom Schlage eines Bernard Sanders, dem Senator aus Vermont und kurzzeitigen Präsidentschaftskandidaten von 2020. Wisconsin, einer der sieben »Swing States«, galt einst als sichere Hochburg der Demokraten im »Rust Belt«. Doch seit Trump dort 2016 einen knappen Sieg errang, ist der Bundesstaat zu einem wichtigen Schlachtfeld um die Wählergunst geworden. 2020 obsiegte Biden dort knapp vor Trump, weswegen Harris am 23. Juli, einen Tag, nachdem sie sich die Unterstützung der Mehrheit der Parteidelegierten gesichert hatte, in Wisconsin ihre erste Wahlkundgebung abhielt.
Für Walter von OWR ein Ansporn, denn für ihn »steht die Demokratie in diesem November buchstäblich auf dem Spiel«. Trumps Wahl müsse verhindert werden, dann erst beginne die eigentliche Arbeit. Dann müsse der Druck auf die Partei gesteigert werden, »damit sie sich zu der auf die Arbeiterklasse orientierten Partei entfaltet, die wir in der Vergangenheit waren«. Mit Harris im Weißen Haus für die arbeitende Klasse wirken, obwohl sie nicht seine »progressive Traumkandidatin« ist? Reiche denn dafür schon der »populistische Ansatz«, den Harris in ihrer ersten Wahlkampfrede erkennen ließ, fragte Al-Dschasira. »Wir sind eine Kampagne, die von den Menschen getragen wird«, hatte sie dem begeisterten Publikum zugerufen, »daher wissen Sie alle, dass wir eine Präsidentschaft mit dem Motto ›der Mensch zuerst‹ sein werden«. Sie werde das durch ihre »fortschrittlichen Prioritäten« umsetzen.
Kritik gegen Illusion
Ins Zentrum der Kritik an der Unterstützung Harris’ durch linke Kräfte geriet Ende September auch die Bürgerrechtlerin Angela Davis. Auf der Onlineplattform Black Agenda Report (BAR) ergriff Chefkolumnistin Margaret Kimberley am 27. September das Wort. Unter dem Titel »Die mahnende Geschichte von Angela Davis« ging sie auf deren Rede auf dem an drei Tagen von einer halben Million Menschen besuchten Pressefest der Zeitung L’Humanité der Französischen Kommunistischen Partei in Paris ein. Dort hatte Davis am 14. September vor Tausenden über die Dynamik gesprochen, die ähnlich wie zur Zeit Barack Obamas nun durch Kamala Harris im Kampf ums Weiße Haus ausgelöst worden sei. »Wenn wir uns in der Wahlpolitik engagieren, kann es nicht nur darum gehen, dass eine bestimmte Person für ein Amt kandidiert«, so Davis. Es gehe vielmehr darum, »das Terrain des Massenkampfes zu erweitern, einen Raum zu garantieren, in dem die Gewerkschaftsbewegung, die Frauenbewegung, People of Color sowie arbeitende und in Armut lebende Menschen Siege erringen können« (Peoples World, 17. September). Davisʼ Worte erinnerten daran, so Kimberley, »wie wir den Wahlprozess sehen und mit ihm umgehen müssen«. Doch leider habe Davis dieser Aussage »höchst fragwürdige Behauptungen« folgen lassen, »die all das in Frage stellen, was sie nach eigenen Angaben erreichen« wolle. Zwar habe sie gesagt, die Wähler sollten sich nicht allein von ethnischen oder geschlechtsspezifischen Erwägungen leiten lassen, dann aber die historische Bedeutung von Harris als Kandidatin der Demokraten herausgestellt. Johanna Fernandez, Professorin für Geschichte in New York City und Unterstützerin von Mumia Abu-Jamal, stand mit Davis auf der Bühne und stimmte ihr zu. »Schwarze Frauen werden in der Gesellschaft so sehr an den Rand gedrängt, dass Kamalas Kandidatur für schwarze Frauen eine spirituelle Bedeutung« gewinne. Wer die Ebene der Nominierung von einer der beiden großen US-Parteien erreiche, werde jedoch »zum Gesicht des Kapitalismus, des Militarismus und des Neokolonialismus«, so Fernandez. Sie warnte: »Harris hat uns angekündigt, dass sie dieses Gesicht sein wird, dass sie den tödlichsten Militärapparat aller Zeiten aufbauen wird.« So gefährlich das auch wäre, fuhr die Historikerin fort, es sei noch zu bedenken, dass »Harris keine Faschistin ist. Die andere Person aber, die für das Präsidentenamt kandidiert«, sei einer. Deshalb, so ergänzte Davis die Ausführungen von Fernandez, stehe »außer Frage, wen progressive Menschen und Menschen, die radikale Veränderungen wollen, wählen werden«.
Donald Trump, den auch Davis nicht beim Namen nannte, müsse besiegt werden, doch »Harris ins Amt zu bringen ist nicht das Ende des Weges«. Es gehe um mehr, als sie zu wählen, wiederholte Davis, nämlich darum, Räume zu schaffen »für diejenigen von uns, die radikaler sind als Kamala Harris, um antikapitalistische und antirassistische Programme voranzubringen und den Druck für Veränderungen zu erhöhen, vor allem, wenn es um den Völkermord geht, der dem Volk von Palästina zugefügt wird«, so Davis. Diese Äußerungen grenzten »an völlige Verblendung«, kritisierte Kimberley. Harris prahle mit der Unterstützung durch Republikaner und verspreche, einen Republikaner in ihr Kabinett aufzunehmen, »sagt aber nichts über die Aufnahme progressiverer Demokraten«. Wie sollten dann antikapitalistische und antirassistische Programme unter einer solchen Regierung vorangebracht werden, fragte die BAR-Kolumnistin.
Bereits 2016 hatte die weltweit geachtete Bürgerrechtlerin Angela Davis durch ihre Bekundung, die damalige Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton zu wählen, heftige Kontroversen ausgelöst. Bei mehreren öffentlichen Reden hatte sie erklärt, sie habe zwar »ernsthafte Probleme« mit Clinton, sei jedoch »nicht so narzisstisch«, sich »nicht dahin bringen zu können, sie trotzdem zu wählen«. Zunächst müsse Trumps Wahlsieg verhindert werden, »um danach wieder eine unabhängige Politik zu entwickeln«. Kritik kam auch damals vor allem von oppositionellen Schwarzen, die nicht verstanden, warum gerade Davis so argumentierte, die immer für eine linke Politik der Unabhängigkeit vom Zweiparteiensystem der USA stand (junge Welt, 10. Oktober 2016).
Rückblickend argumentierte Kimberley, Davis habe schon 2016 nicht begriffen, dass ihre Wahlentscheidung für Außenministerin Clinton bedeutete, »für die Kriegsverbrecherin zu stimmen, die verantwortlich war für die Zerstörung Libyens«. Und auch 2012 habe sie sich »in einige schwerwiegende Widersprüche verstrickt«, den für die Wiederwahl kandidierenden Barack Obama »in den höchsten Tönen gelobt« und gesagt, sein Aufstieg zur Präsidentschaft stehe in Verbindung mit der radikalen schwarzen Tradition. »Diese falsche Behauptung war ziemlich alarmierend, da Davis das Offensichtliche ignorierte, nämlich dass die Obama-Kampagne eine Kreation der neoliberalen und imperialistischen Eliten war, die in einem Moment der Krise ein attraktiveres Gesicht brauchten.«
Der Black Agenda Report hatte in der Vergangenheit mehrfach kritisiert, Harris sei »die jüngste Mittelmäßigkeit auf dem politischen Parkett, die von reichen Spendern in der Hoffnung auf einen neuen Obama-Effekt aufgestellt wurde«. Mit ihrem »mittelmäßigen Liberalismus« habe sie sich der Politik des rechten Flügels der Demokraten und deren Themen gebeugt, »die für Millionen von Menschen klare rote Linien darstellen«. Davis sei schon 2020 »seltsam begeistert gewesen von Harrisʼ Wahl als Vizekandidatin von Biden«. Sie habe Biden und Harris gegen Trump unterstützt, obwohl sie die beiden als »problematisch« bezeichnete. Allerdings gebe es keine Hinweise, »dass Angela Davis irgend etwas unternommen hat, um Biden oder Harris in irgendeiner Frage unter Druck zu setzen«. Diese Art des Versagens politischer Vorstellungskraft betreffe den »Gelegenheitswähler ebenso wie einstige radikale Ikonen«, die immer wieder in Wahljahren auftauchten, »um ihre Kapitulation vor den Kräften zu erklären, die sie sonst zu bekämpfen vorgeben«. Niemand sei »über alle Vorwürfe erhaben, unabhängig von seiner Geschichte«, schrieb Kimberley.
»Free, free Palestine!« und »Viva, viva Palestina!« skandierte das multiethnische Publikum am Abend des 30. August, dem Beginn der viertägigen US-Konferenz »Socialism 2024«, und eröffnete damit die Podiumsdiskussion »Alle Augen auf Palästina: Solidarität, Befreiung, Intifada«.² Die Konferenz in Chicago war geprägt vom Geist der weltweiten Solidarität mit Palästina. Der Krieg gegen die Bevölkerung von Gaza hat auch in den USA Millionen Menschen radikalisiert. »Gaza hat eine ganze Reihe politischer Fragen neu zum Leben erweckt, vom Wesen des Zionismus, des US-Imperialismus, der palästinensischen Befreiung, Israels und der US-Politik bis hin zu praktischen Fragen der Organisierung und Solidarität«, schrieb Gewerkschafter Joe Allen am 6. September in seinem Bericht für das US-Magazin Counterpunch (6. September). Es gab an den vier Tagen über 130 geplante Treffen, Begegnungen und Diskussionsrunden zum Thema. »Palästina war auf der Konferenz einfach allgegenwärtig und hat generell den Horizont radikaler Organisatoren in den Vereinigten Staaten an vielen Fronten erweitert, was noch vor wenigen Jahren unmöglich schien«, so Allen. Massenhafte Demonstrationen im ganzen Land sowie Protestveranstaltungen und Sit-ins wie gegen den Nationalkonvent der Demokraten haben den antikolonialen Befreiungskampf der palästinensischen Bevölkerung ins Zentrum internationalistischer Solidarität in den USA gerückt.
Diese Entwicklung hat auch neue Koalitionen hervorgebracht, wie die Podiumsdiskussion »Vom Fluss bis ans Meer: Die Gewerkschaft der Automobilarbeiter UAW für Palästina« zeigte. Mitglieder vom landesweiten Labor for Palestine National Network diskutierten über propalästinensische Gewerkschaftsaktionen. Die Position, den Wahlkampf für Harris, Trump und alle anderen Genozidunterstützer zu sabotieren, fand auf dem Abschlussplenum unter dem Motto »Standhafte Bewegung zur Befreiung« breite Zustimmung. Unabhängig vom Wahlsieg am 5. November und wer ab dem 20. Januar 2025 das Weiße Haus für vier Jahre besetzt, streben die Bewegungen an, »zu einer eigenen Kraft heranzuwachsen«, wie Reporter Allen es formulierte.
Zuvor war im Workshop »Völkermord als Konsequenz des ›kleineren Übels‹: Die US-Wahlen und die Strategie der Linken« der Unterstützung des »kleineren Übels« eine Absage erteilt worden. »Präsidentschaftswahlen, insbesondere die der Demokraten, haben die Angewohnheit, jeder oppositionellen Bewegung das Leben auszusaugen«, warnte Kristen Godfrey vom antiimperialistischen Tempest-Kollektiv. »Wir sind nicht die ersten, die versuchen, aus der Sackgasse des Zweiparteiensystems herauszukommen«, erklärte Godfreys Genossin Natalia Tylim. Es gebe nur die Wahl zwischen zwei Übeln. Das erfordere »zu erklären, dass das Fortbestehen des unfassbaren Übels, das sich derzeit ausbreitet, nur durch die Überwindung der Herrschaft des Kapitalismus und des Imperialismus zu beenden ist«. Völkermord und der erschreckende Aufstieg der autoritären Rechten seien nicht durch moralische Empörung zu bekämpfen. »Die Demokraten haben in den letzten 329 Tagen mit allen taktischen Manövern unmissverständlich gezeigt, dass sie gegen moralische Empörung völlig immun sind.« Es sei eine strategische Frage, »wie wir unsere Forderungen und Ziele als Sozialisten vorantreiben«, so Tylim.
Bei allen Diskussionen stand das alle bedrängende Thema wie der Elefant im Raum. »Wir sind hier, fast ein Jahr nach Beginn der totalen Ausweidung, Zerstörung und dem Völkermord in Gaza durch den israelischen Staat«, sagte die in New York lebende palästinensische Schriftstellerin Sumaya Awad. »Unsere Regierung hat die Macht, dies zu stoppen. Aber sie tut es nicht!« Am Ende hing die für viele klare Erkenntnis wie ein Transparent über der Konferenz, die ein kanadischer Aktivist dem Verfasser übermittelte: »Es gibt derzeit im internationalen Klassenkampf wichtigere Aufgaben, als eine neue Clique ins Weiße Haus zu wählen.«
Anmerkungen
1 Fakten aus Truthout, 7. Oktober 2024
2 Das gefilmte Programm ist online abrufbar: https://socialismconference.org/
Jürgen Heiser schrieb an dieser Stelle zuletzt am 8. September 2023 über Polizeigewalt gegen schwarze Frauen in den USA.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (25. Oktober 2024 um 19:34 Uhr)Ehrlich gesagt bin ich nach dem Lesen dieses Beitrags nicht viel klüger als vorher. Die Frage, welche Entwicklung das Verhältnis linker US-Amerikaner zu den Wahlen durchmacht, bleibt – bis auf den Schlusssatz vielleicht – weitgehend unbeantwortet. Und welche positive Rolle die Kritik an Angela Davis dabei spielen soll, bleibt mir ebenfalls schleierhaft.
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