Mythos
Von Jürgen RothJohannes, der Organist, Mesner und Schulbusfahrer, kann – wie ich – den Polt approximativ auswendig. Im »Seven Bistro« kommunizieren wir manchmal miteinander, indem wir in Wechselrede längere Passagen zum Beispiel aus »Die Hölle«, »Der Kaiser Nero« und »Der Weber Max« rezitieren.
Am Sonntag war ich gemäß Vereinbarung um zehn Uhr vormittags im Bums- und Rumslokal. Ich griff zu einem Trainingsbier, denn André, Johannes und ich hatten verabredet, zur Kirchweih in Heilsbronn zu brummen, zur letzten der Saison.
Gerade fragte ich mich: »Kimmt er, der Johannes, oder kimmt er nicht?«, da schneite André herein. »Wie eine Brezn war der do« (»Der Weber Max«), der André, und setzte mich stante pede darüber in Kenntnis, dass Johannes zwecks oder wegen Erkältung suspendiert sei. Aber der Große Malaka übernehme den Transportdienst.
Heilsbronn, sieben Kilometer entfernt, ist eine Stadt. Man nennt sie in unserer zurückgebliebenen Gemeinde bündig »Kloster« (oder »Glosta«). Das Münster des im 12. Jahrhundert gegründeten Klosters war jahrhundertelang die Grablege der fränkischen Hohenzollern, und der ehemalige Präsident des FCN und Immobiliengroßgauner Gerd Schmelzer stammt von dort – folglich ein würdiges Pflaster.
Wir rückten in einem Hinterhof in der malerischen Altstadt ins »Mythos« ein, in das Mutterhaus des »Seven Bistro«, das Forti und sein Vater seit vierunddreißig Jahren führen. Warum die Griechen, die die Wissenschaft der Wahrnehmung konstituiert und für das Kunstschöne bis heute gültige Theorien entwickelt haben, sobald sie in den Norden ausgewandert sind, jegliches Gespür für Geschmack in den Wind schießen, bleibt mir ein Rätsel.
Das »Mythos« lässt sich als räumliche Erscheinung nicht beschreiben. Es ist eine optische Klatsche, und vielleicht deshalb kauerte in einem dunklen Eck unter einer Dartscheibe ein trauriger Grieche und stierte in die grottenähnliche Umgebung.
Biertische und -bänke waren in der Mitte wie in einem Konferenzsaal angeordnet. Am Tresen hingen über etliche Dezennien hinweg stramm durchalkoholisierte Gestalten. Die Sangesbrüder und -schwestern trugen oberbayerische Trachten, Krachlederne und Dirndl – ein narrisches Crossover, ein intersektionelles Durcheinander, das, wurde mir gesteckt, die Stammgäste seit einiger Zeit selber vom Zaun brechen.
Ich bin in bestimmten Hinsichten ein Kulturkonservativer wie Adorno. Andererseits vermag ich in gewissen Gemütslagen die stillose Postmoderne zu goutieren – etwa wenn der angeheuerte Akkordeonspieler ununterbrochen frankenfremdes Liedgut wie »O du schöner Westerwald«, »Am Strande von Rio«, »Wir lagen vor Madagaskar« und sonstige Seemannssongs anstimmt, bei denen dann alle, ausgestattet mit Textheften, mordsmäßig mitsingen, um schließlich schonungslos zu schunkeln: »Links, rechts, vor, zurück, das macht Spaß!« Da kommt der Ethnograph auf seine Kosten.
Es war weiß Gott »kulturell die Hölle los« (»Der Weber Max«). Die kakophonischen Saufchoräle dröhnten, eine Maß nach der anderen wurde in entfesselte Körper hineingestopft, begleitet von Auf-ex!-Geschrei, und ab zwölf – ab zwölf! – kredenzte man mit scharfem Senf – mit scharfem! – Weißwürste, die einstens das Zwölf-Uhr-Läuten nicht hören durften und für alle Zeiten süßen Senf verlangen.
Nichts passte, gar nichts. Seelischen Halt verlieh mir jedoch die Bedienung Anna, die sich mit einer engen schwarzen Lederhose geschmückt hatte, und draußen vor der Tür knurrte ein im Aufbrechen befindlicher Gast: »Heilsbronn is’ a weng kurios ’wor’n.«
Damit sei zur Klästerer Kerwa genug gesagt.
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