»Familien werden regelrecht zerrissen«
Interview: Thomas Berger, MelbourneIn Melbourne, Sydney, Adelaide, Perth und Brisbane gehen Geflüchtete seit vielen Tagen auf die Straße und protestieren. Was steckt dahinter?
Mitte vergangener Woche waren es 100 Tage dauerhafter Protest. Es geht ihnen um ein sicheres Bleiberecht für die, die seit zwölf Jahren bei uns leben, aber immer noch kein unbefristetes Visum haben. Sie sind zwischen August 2012 und Jahresende 2013 hier angekommen. Die damalige konservative Abbott-Regierung mit Minister Scott Morrison hatte ab 2014 das sogenannte Fast-Track-Verfahren eingeführt. Dieses System war generell dazu konzipiert, Asylanträge scheitern zu lassen, hat viele Probleme gebracht, war extrem unfair und entsprach nicht den internationalen Verpflichtungen. Die jetzige Labor-Regierung hat es inzwischen abgeschafft. Allerdings gab es anfangs 31.000 Menschen, die noch vorab in der genannten Zeitspanne gekommen waren. Etwa 19.500 davon wurden inzwischen als schutzbedürftig anerkannt. Aktuell gibt es noch etwa 8.500, die seit zwölf Jahren in einem unwürdigen, grausamen Schwebezustand ausharren. Sie müssen ihre Duldung immer wieder erneuern lassen – manche alle sechs, andere alle drei Monate. Und dann ist da die ständige Angst, dass es das nächste Mal keine Verlängerung geben könnte.
Dazu ist auch Ihre Organisation weiter aktiv …
Am 8. Oktober waren wir mit einer Delegation in Canberra zum Gespräch mit Abgeordneten. Drei Betroffene waren dabei: Eine ist eine führende Krebsforscherin aus Afghanistan, die sogar mit einem australischen Staatsbürger verheiratet ist. Ihr droht im schlimmsten Fall die Abschiebung. Dann ist da ein Iraner, Lkw-Mechaniker bei einer großen Abschleppfirma. Dieser Sektor ist durch Fachkräftemangel gekennzeichnet. Er bildet als Spezialist andere Leute aus, hat aber kein Dauervisum. Das gilt auch für die 19jährige aus Sri Lanka, die als Kind kam. Sie hatte sogar schon ein Stipendium für ihr Psychologiestudium. Das und der Studienplatz sind weg, da sie keine feste Anerkennung hat. Familien werden regelrecht zerrissen: Teilweise sind die Kinder längst eingebürgert, die Eltern fürchten hingegen weiter eine Abschiebung. Am 22. Oktober haben 75 Organisationen – Menschenrechtsvereine, kirchliche Gruppen, Gewerkschaften – einen gemeinsamen Appell an die Regierung gesandt. Es gibt Betroffene, die haben jede Hoffnung verloren, sind gar in ihre Heimatländer zurückgegangen. Ein Iraner etwa wurde kurz danach verhaftet und gilt als vermisst.
Zur Asylpolitik gehört die sogenannte Offshore Detention. Mit dem Boot Ankommende werden konsequent nach Papua-Neuguinea oder Nauru gebracht. Wie ist deren Situation aktuell?
Aus Papua-Neuguinea wissen wir, dass dort noch 43 Personen sind – inzwischen seit elf Jahren. Fast alle haben einen anerkannten Flüchtlingsstatus, trotzdem wird keiner davon bei uns ins Land gelassen. Papua-Neuguinea ist einer der unsichersten Orte weltweit, und diese Menschen sind auch dort nicht willkommen. Wir haben gerade einen Gesundheitsbericht über die Gruppe erstellt. Alle haben psychische Probleme, manche einen Suizidversuch hinter sich. 20 Prozent gelten als gefährdet. In Nauru geht es um 94 Menschen. Kürzlich wurden sie in die lokale Gemeinschaft, genauer: auf einer kleinen Insel, entlassen. Dort gibt es so gut wie keine Gesundheitsversorgung für sie. Auch das monatliche Geld, 230 Australische Dollar, reicht nicht. Unter ihnen ist ein Zehntel suizidgefährdet, andere haben Herzerkrankungen und andere chronische Leiden.
Sehen Sie unter der Labor-Regierung Fortschritte?
In wenigen kleinen Punkten. In der Offshore-Politik unterscheiden sich Labor und Konservative nicht wirklich. Und mit der Intransparenz ist es teils noch schlimmer geworden. Generell ist das, was hier abläuft, für eine sich progressiv bezeichnende Regierung eine Schande.
Ogy Simic, als Kind mit seiner Familie aus Bosnien geflüchtet, ist Abteilungsleiter beim Asylum Seeker Resource Centre (ASRC) in Melbourne, der größten Hilfsorganisation für Geflüchtete in Australien
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 06.06.2024
Ärger um Panguna
- 18.10.2019
»Regierung will sich nicht die Hände schmutzig machen«
- 27.10.2017
Kleiner Erfolg für Flüchtlinge
Regio:
Mehr aus: Ausland
-
Stoppt die extreme Rechte
vom 28.10.2024 -
»Georgischer Traum« gewinnt
vom 28.10.2024 -
Enttäuschung über Lula
vom 28.10.2024 -
Folterlager bleibt bestehen
vom 28.10.2024 -
Entführte Ärzte
vom 28.10.2024 -
Wut über Rassismus
vom 28.10.2024