Dialektik fürs Kapitalozän
Von Martin KüpperNachdem die gröbsten Trümmer des Zweiten Weltkriegs beseitigt waren und Stalin 1953 gestorben war, setzte die Sowjetunion in der Systemauseinandersetzung stärker auf die Wirtschaft als auf das Militär. Damit einher ging eine Aufwertung der wissenschaftlichen Disziplinen im geistigen Haushalt des sozialistischen Lagers. Auf komplizierten Wegen setzten sich Konzepte durch, die der Philosophie einerseits weiterhin weltanschauliche Aufgaben zuwiesen, andererseits mehr wissenschaftliche Eigenständigkeit forderten. Die Philosophie sollte sich auf den Sozialismus ausrichten und ihre geistigen Mittel für die Gestaltung dieser Gesellschaft einsetzen. Dazu mussten in engem Kontakt mit den anderen Wissenschaften Instrumente entwickelt werden, die alsbald »unter die Leute« gebracht werden sollten.
Die Generation, die diesen Spagat zu bewältigen hatte, wurde in den 1920er und 1930er Jahren geboren, hatte Krieg und Zerstörung noch am eigenen Leib erfahren und daraus die Konsequenz gezogen, sich für den Sozialismus einzusetzen. Ihr Schaffen erreichte in den 1960er und 1970er Jahren seinen Höhepunkt. Die Philosophie wirkte als Produktivkraft, gab Impulse, knüpfte Netzwerke und verbreitete Ideen. In der DDR war die Neuformierung der Philosophie eng mit Wissenschaftstheorie, Naturwissenschaft und Logik verbunden. Politische Leitplanken waren das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung, die sozialistische Kulturrevolution und die Hochschulreformen.
Vor diesem Hintergrund konnte der am 20. Oktober 2024 verstorbene Peter Ruben seine bis heute hochinteressanten und umstrittenen Thesen entwickeln. Er wurde 1933 in Berlin geboren, legte 1952 das Abitur ab und leistete bis 1955 Dienst bei der Kasernierten Volkspolizei. Im selben Jahr trat er in die SED ein und begann ein Studium der Philosophie mit Nebenfach Physik an der Humboldt-Universität Berlin. 1958 musste er sein Studium abbrechen. Ruben wurde von der Universität verwiesen und musste aus der SED austreten, weil er wiederholt die Partei- und Kulturpolitik sowie die offizielle Interpretation der Ereignisse von 1956 in Polen und Ungarn in Frage gestellt hatte. Ruben verdingte sich als Hilfsarbeiter beim Bau des Flughafens Schönefeld. Statt in die Bundesrepublik überzusiedeln, entschied er sich für eine Rückkehr zur Philosophie. Ruben konnte 1961 sein Studium fortsetzen und wurde 1964 wieder in die SED aufgenommen. 1969 wurde er über das Verhältnis von Mechanik und Dialektik promoviert, 1976 folgte die Dissertation B »Widerspruch und Naturdialektik«. Eine Gastprofessur in Aarhus und der Wechsel an das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften führten dazu, dass sein Ansatz zunehmend Beachtung fand. 1981 wurde er erneut aus der SED ausgeschlossen und in seinen Wirkungsmöglichkeiten stark eingeschränkt, bevor er 1990 kurzzeitig Direktor des Zentralinstituts für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften wurde und dessen »Abwicklung« durchführen musste. Eine Karriere in der Bundesrepublik blieb ihm verwehrt.
In den 1960er und 1970er Jahren schrieb Ruben eine Reihe von Aufsätzen, in denen er seinen Ansatz ausarbeitete. Wie interdisziplinär Ruben dabei vorging, indem er immer wieder Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Physik, Mathematik, Logik und Dialektik herausarbeitete, lässt sich in den verdienstvollen vier Bänden der »Gesammelten philosophischen Schriften« nachvollziehen. Diese Ausgabe hat nach ihrem Erscheinen ein breites Echo in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft gefunden, was für einen Philosophen aus der DDR ungewöhnlich ist. Das Interesse an seinem Werk ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass er fast zum Dissidenten wurde und damit innerhalb der ideologisch aufgeladenen Klammer von Dogma und Opposition eingeordnet werden könnte. Es zeigt auch, dass die von ihm vertretenen Thesen nichts von ihrer Aktualität verloren haben, weil er Probleme benennt, die weder praktisch noch theoretisch gelöst sind, etwa der Riss zwischen Kapital und Natur.
In dem Aufsatz »Problem und Begriff der Naturdialektik« von 1969, der es nicht in die große Ausgabe geschafft hat, macht Ruben deutlich, dass »mit der Frage, ob die Natur eine Geschichte hat, der Sinn einer Dialektik der Natur steht und fällt«. Die meisten der heute dominierenden Marxismen westlich der Elbe haben diese Frage aus Ignoranz gegenüber den Naturwissenschaften leichtfertig verworfen, weshalb auch der Ökomarxismus bis heute ein Schattendasein fristet. Ruben hingegen sah in der Dialektik der Natur »wesentlich die Theorie des Menschen als Naturwesen«. Damit ist nicht gemeint, dass man bedenkenlos zur Natur zurückkehren könne, wie es einige grassierende Verzichtsideologen angesichts drohender ökologischer Katastrophen predigen. Vielmehr lehrt die Dialektik der Natur, dass die Aneignung der Natur durch die privat-exklusiven Produktionsverhältnisse unserer Zeit ein »unmenschliches Verhältnis« darstellt und menschliches Dasein nur unter der Voraussetzung des gesellschaftlichen Eigentums möglich ist. »Die Aneignung der Natur als gesellschaftliches Eigentum ist«, so Ruben, »der Inhalt der sozialistischen Revolution«.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (30. Oktober 2024 um 11:17 Uhr)Im Aufsatz »Die DDR und ihre Philosophen« von Peter Ruben findet man Interessantes zur Denkweise des Philosophen: »Die vermeinte revolutionäre Lösung der sozialen Frage, die von den kommunistischen Parteien überall, wo sie mit der Übernahme der Staatsgewalt im politischen Kampf siegreich gewesen sind, durch Enteignung und Ausschluss des inneren Markts versucht worden ist, hat zu einem Wirtschaftssystem geführt, das in Stagnation und volkswirtschaftlichen Substanzzerfall geendet ist. (…) Die progressive Wirtschaftsentwicklung, realisiert in gesteigerter Produktivität und durch Ausbildung neuer Produktivkräfte, hat in nichtkommunistisch verfassten Wirtschaftssystemen stattgefunden«. Dass die Sowjetunion in den 30er und 40er Jahren Zuwachsraten hatte, von denen die Kapitalisten nur träumen konnten, scheint Ruben unbekannt geblieben zu sein. Bei einer solchen Anbetung des Marktes kann es natürlich auch keine Ausbeutung geben. Deren Nennung wird als naive Anschauung und Volksvorurteil denunziert: »Überlegene Produktivkräfte erscheinen im Austausch vermittels wertvollerer Produkte und Dienste, führen folglich zu Extraprofiten, und diese scheinen der naiven Anschauung Resultate der Übervorteilung zu sein. Nimmt solche Anschauung die Gewalt eines Volksvorurteils an, so kann sich die Mobilisierung gegen den Austausch überhaupt richten und hat im Falle des Sieges keine andere Chance, als ihn durch die Distribution in der Gemeinschaft zu ersetzen. Damit lässt sich zwar der Gegensatz zwischen arm und reich vermindern, aber die innovative Potenz der Produzenten bleibt auf der Strecke«. Wem nützen solche Thesen, die da 1991 niedergeschrieben wurden? Welchen Wert hat eine solche »Philosophie«, die überall hinführt, nur nicht zum Sozialismus? Vier Jahre später versteigt sich Ruben in »Ist die Arbeitskraft eine Ware?« sogar zu der Aussage, dass »wesentliche Grundannahmen des Marxismus definitiv widerlegt« wurden.
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Leserbrief von H. Hammerbauer (30. Oktober 2024 um 21:17 Uhr)Ein Marxismusbekämpfer ist er trotzdem nicht geworden und wie ein »Marxologe« (Aktuelles Beispiel für Marxologisches: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/karl-marx-und-der-kommunismus-die-rolle-von-eigentum-fuer-soziale-gerechtigkeit) unter dem Diktat der bürgerlichen Ideologie agierte Ruben auch nicht. Das sog. Querdenkerische oder worüber man immer staunt, kann auch ihm nachgesehen werden und gegebenenfalls, bei Bedarf und hilfreich, widerlegt werden.
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Leserbrief von Lothar W. Pawliczak aus Berlin (29. Oktober 2024 um 09:33 Uhr)Der Aufsatz »Problem und Begriff der Naturdialektik« ist als PDF in der Internetpräsenz »Peter Ruben Philisophischen Schruften« veröffentlicht.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (27. Oktober 2024 um 22:27 Uhr)Vielen Dank für diesen Artikel! Als Wegweiser in und durch die Arbeit Peter Rubens für Leser, denen Peter Ruben und seine Arbeiten bisher unbekannt gewesen sind, wären eine ausführlichere Vorstellung und Einordnung von Rubens Ideen und seinen Schriften hilfreich und begrüßenswert. Vielleicht könnte die jW dazu noch einen weiteren Beitrag veröffentlichen.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin K. aus Berlin (30. Oktober 2024 um 05:45 Uhr)Ja, einen Übersichtsartikel gibt es bereits: www.jungewelt.de/artikel/448491.philosophie-als-strenge-wissenschaft.html
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (27. Oktober 2024 um 22:13 Uhr)Dialektik »fürs« oder »des« Kapitalozän? Ich fürchte, man muss sich mit Ruben auseinandersetzen. Ist das Sumpf-Blutauge Natur, oder ist es der Mensch, der es ausrottet, oder stimmt das oder nicht? Hier kann man sich zu Ruben informieren: https://www.peter-ruben.de/index.html . Die antiqarisch erhältlichen Ruben-Texte können sich nur Neureiche leisten. Die Natur hat eine Geschichte, die von der Kosmologie beschrieben wird. Die Kosmologie zeigt auf, wie schmal der Grat ist, auf dem habitable Zonen wandern und wie klein die Wahrscheinlichkeit dafür und für die Entwicklung von Materieansammlungen, die sich Mensch nennt, ist – gemessen am Kosmos. Diese Materieansammlung ist gerade dabei, ihre Zone inhabitabel zu machen. Nicht nur durch Klimawandel.
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Leserbrief von Lothar W. Pawliczak aus Berlin (28. Oktober 2024 um 17:30 Uhr)Die vier Bände der Ruben-Werkausgabe gibt es in wissenschaftlichen Bibliotheken und es gibt auch eine günstigere E-book-Ausgabe (4 Bände für 50 €) beim WeltTrends-Verlag. Viele Texte sind auch als PdF im Online-Archiv Peter Ruben veröffentlicht.
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