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Aus: Ausgabe vom 28.10.2024, Seite 12 / Thema
Poetologie

Revolution der Dichtkunst

Vor 400 Jahren erschien Opitz’ »Buch von der Deutschen Poeterey«, das als Gründungsurkunde der modernen deutschsprachigen Literatur gilt
Von Arnd Beise
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Titelseite einer Ausgabe poetischer Werke von Opitz (1891)

Um 1600 galt deutschsprachige Dichtung sogar bei deutschen Gelehrten als minderwertig, wenigstens im Vergleich mit solchen aus den vermeintlich fortgeschritteneren Nachbarländern Italien, Frankreich, England und den Niederlanden. Francesco Petrarca habe im 14. Jahrhundert bereits durch seine Lieder in toskanischer Mundart höchstes »Lob erjaget«. In Frankreich habe der berühmte Pierre de Ronsard im 16. Jahrhundert »durch seine Poesie die Gemüther wie fast verzaubert«. Ebenfalls im 16. Jahrhundert publizierte Philip Sidney den Schäferroman »Arcadia«, der »die Engellender« mit großen »Stoltz« erfülle. Und wie »hoch der Niderländische Apollo, Daniel Heinsius gestiegen sey«, könne er, Martin Opitz, mit »seinen nidrigen sinnen nit ergründen«. Und die deutschsprachige Literatur? Fehlanzeige. Die »Teutschen« seien »vndanckbar« gegenüber dem Vaterland sowie der Muttersprache und hätten noch keine »angenehme Poesie« zustande gebracht. »Dan was ins gemein von jetzigen Versen herumb getragen wirdt / weiß ich warlich nicht / ob es mehr vnserer Sprache zu Ehren, als schanden angezogen werden könne.« Es sei also an der Zeit, »vnserer Sprachen Würde vnd Lob wider auffzubawen«; und dessen habe er sich »vnderfangen«.

So steht es in der Vorrede »An den Leser«, die den »Teutschen Poemata« des Martin Opitz, im Frühling 1624 bei Eberhard Zetzner in Straßburg erschienen, vorangestellt ist. »Nie wieder hat ein deutscher Schriftsteller so geschickt seine eigene Stellung im Gang der Literaturgeschichte dargestellt«, meinte der Kieler Germanist Erich Trunz 355 Jahre später. Die »Teutschen Poemata« hat ein Studienfreund von Opitz, Julius Wilhelm Zincgref (1591–1635), zum Druck befördert. Der Dichter hatte während der Studienzeit in Heidelberg – am 17. Juni 1619 trug er sich als »Martinus Opitius Boleslaviensis Silesius« in die Universitätsmatrikel ein – seine Gedichte zusammengestellt und das Manuskript im Oktober 1620 Zincgref zur Publikation anvertraut. Die politischen Ereignisse zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs, in dem der zu Heidelberg residierende Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz (1596–1632) eine unglückliche Rolle auf protestantischer Seite spielte, sowie materielle Schwierigkeiten des Herausgebers verzögerten die Publikation erheblich. Als Zincgref 1623 den Posten eines Dolmetschers bei einem französischen Diplomaten in Straßburg annahm, konnte der Druck von Opitz’ Gedichten endlich in die Wege geleitet werden. Der Herausgeber vermehrte das erhaltene Manuskript durch ein älteres lateinisches Werk mit dem Titel »Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae«, durch zwischenzeitlich verstreut erschienene Gedichte sowie einige Jugendgedichte von Opitz, in deren Besitz er zufällig gelangt war.

Opitz war diese Ausgabe höchst unangenehm. Den »Aristarchus« hielt er für überholt, die Jugendgedichte für fehlerhaft, manches politisches Gedicht nicht mehr für opportun, manches Liebesgedicht für zu frivol. Einer zweiten Auflage widersetzte er sich vehement. Statt dessen setzte er sich in aller Eile an die Niederschrift seiner literaturtheoretischen Ansichten und bereitete eine eigene, verbesserte Sammlung seiner Gedichte vor. Das literaturtheoretische Werk trägt den Titel »Buch von der Deutschen Poeterey«, erschien im Herbst 1624 bei David Müller in Breslau und wurde zu einer der erfolgreichsten und folgenreichsten Poetiken im deutschen Sprachraum. Angeblich habe er das Buch in nur »fünff tagen« verfasst. Auf der Grundlage seiner Studien älterer Werke von Aristoteles (384–322 v. u. Z.) und Horaz (65–8 v. u. Z.) über Marcus Girolamo Vida (1485–1566) und Julius Caesar Scaliger (1484–1558) bis hin zu Ronsard (1524–1585) und Heinsius (1580–1655) fasste Opitz zusammen, was es seiner Ansicht nach »von vnserer Deutschen Poeterey« und deren Grundlagen zu sagen gab. Anders als ein verbreitetes Vorurteil annimmt, wollte er mit seiner Poetik keine »regeln vnd gesetze« formulieren, deren Befolgung den Adepten »zu einem Poeten machen«. Denn das war ihm klar: »Es ist (…) die ­Poeterey eher getrieben worden / als man je von derselben art / ampte vnd zuegehör / geschrieben: vnd haben die Gelehrten / was sie in den Poeten (…) auffgemercket / nachmals durch richtige verfassungen zuesammen geschlossen / vnd aus vieler tugenden eine kunst gemacht.«

Charakter eines Manifests

Die Schrift ist eine Bestandsaufnahme. Aber auch ein literatur- und kulturpolitisches Traktat, und als solches enthält sie ein Programm und Vorschläge, von denen einige so bereitwillig aufgenommen wurden, dass man dem »Buch von der Deutschen Poeterey« bisweilen den Charakter eines grundlegenden Manifests zugesprochen hat. Wahrscheinlich aber waren es eher die geschickte Formulierung und die aktuell gut abgepasste Publikation von Gedanken, die gewissermaßen in der Luft lagen, weswegen das gerade einmal knapp siebzig heutige Reclam-Seiten umfassende Büchlein so ungeheueren Erfolg hatte. Viele befanden sich auf dem Weg, schrieb Erich Trunz, »Opitz aber war schneller und energischer«. Der »Weg«, von dem Trunz sprach, lag im Versuch, die deutsche Literatursprache zu reformieren und die Dichtung in Anlehnung an die der bewunderten Nachbarländer auf ein höheres, den antiken Literaturen Athens und Roms vergleichbares Niveau zu bringen.

Opitz hatte Weg und Ziel schon als Schüler vor Augen. Das anfänglich zitierte Vorwort schrieb er als zweiundzwanzigjähriger Student. Aber schon drei Jahre vorher hatte der am 23. Dezember 1597 im niederschlesischen Bunzlau geborene Gymnasiast mit dem »Aristarchus« (»Aristarch oder über die Verachtung der deutschen Sprache«), einer ebenfalls literaturpolitisch angelegten Schrift im Stil einer akademischen Rede, die indes nie gehalten, sondern 1617 in Beuthen bei Johannes Dörfer sogleich gedruckt wurde, »paradoxerweise« in lateinischer Sprache die Behauptung aufgestellt, dass das Lateinische abgewirtschaftet habe und die literarische Zukunft der deutschen Sprache gehöre (Gunter E. Grimm): Das Griechische sei »verderbt und entartet«, auch das Lateinische »erhielt sich kaum über das glückliche, redegewandte Zeitalter des Augustus hinaus«, »nichts« stehe »dem im Wege, daß auch unsere Sprache aus dem Dunkel auftauche und ans Licht gezogen werde (…). Bringt es dahin, daß ihr die Gewandtheit der Rede, die ihr von euren Eltern überkommen habt, euren Kindern hinterlaßt. Bringt es endlich dahin, daß ihr den übrigen Völkern, welche ihr an Tapferkeit und Treue übertrefft, auch an Trefflichkeit eurer Sprache nicht nachsteht« (Übersetzung von Georg Witkowski, 1888).

Im »Buch von der Deutschen Poeterey« entwickelte Opitz diese Ansätze weiter. Zunächst wird über das agonale Verhältnis der europäischen Nationalliteraturen gesprochen, dann Zweck, Funktion sowie Geschichte der Poesie erörtert und diese legitimiert, sodann unter Rückgriff auf den mittelalterlichen Minnesang die deutsche Tradition gefeiert, und im Anschluss daran skizziert Opitz eine rhetorische Poetik, die unter anderem die einflussreichsten Vorschläge zu einer Reform der Literatursprache enthält, nämlich die Formulierung einer etwas anderen Metrik. Zum Ende kommt er auf die Rolle der Literaturkritik zu sprechen und auf Zweck und Funktion der Poesie zurück, um auch Fragen der Übersetzung zu thematisieren.

Metrik und Prosodie

Wirkungsgeschichtlich am folgenreichsten war Opitz’ Vorschlag, die deutschsprachige Metrik und Prosodie aus dem Korsett lateinischer und romanischer Tradition zu lösen und 1) eine alternierende Versifikation verbindlich zu machen sowie 2) die Prosodie nach der Betonung der Silben einzurichten und nicht nach deren Zahl oder Maß. Die erste Forderung erlaubte nur jambische und trochäische Versfüße, eine Vorschrift, die zunächst begeistert aufgenommen, aber schon nach anderthalb Jahrzehnten zugunsten weiterer Versfüße (Spondëus, Daktylus, Anapäst) gelockert wurde. Die zweite Forderung hat die deutschsprachige Dichtung tatsächlich grundlegend und nachhaltig verändert. Seit 400 Jahren gilt nunmehr der Grundsatz, dass deutschsprachige Poetinnen und Poeten nicht mehr wie die »griechen vnnd lateiner eine gewisse grösse der sylben« (das heißt ihre Kürze oder Länge) in Betracht ziehen und auch nicht mehr wie die »Frantzosen« und »Italiener« die Zahl der Silben im Vers für entscheidend halten, »sondern das wir aus den accenten vnnd dem thone erkennen / welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden«, mit anderen Worten: dass die Betonung der Silben und ihre Verteilung im Vers entscheidend ist – genauso wie die von Opitz eher beiläufig geforderte Übereinstimmung von Vers- und Wortbetonung.

Was das konkret für die deutschsprachige Literatur bedeutete, lässt sich an einem Gedicht von Georg-Rodolf Weckherlin (1584–1653) erkennen. Auch dieser aus Stuttgart stammende und zunächst dort wirkende, zwischenzeitlich aber auch in »Franckreich, Italien, Hispanien vnd andern Landen« tätige und zuletzt in »Engelland« beheimatete Politiker und Dichter versuchte, vor und neben Opitz »die Muster- und Meisterstücke der romanischen Dichtung einzuholen«, um damit die deutschsprachige Poesie auf ein international konkurrenzfähiges Niveau zu heben, so dass sich von Weckherlin ebenfalls sagen lässte: »Mit ihm beginnt die Geschichte der neuen deutschen Poesie« (Christian Wagenknecht).

Doch bediente Weckherlin sich dabei des »Welschverses«, das heißt eines durch Silbenzahl und Reim definierten Verses, dessen Betonungen relativ frei (»vngezwungen«) sind. Im zweiten Band von Weckherlins »Oden und Gesäng« aus dem Jahr 1619 befindet sich eine Ode »Von des Menschlichen Lebens, und von dem blinden menschlichen Übermuht wenig erkanten Ellend«, die so beginnt (Str. 1–2):

»Du wenig koht, du wenig staub,

Hochmühtig durch ein wenig leben,

Welches leben dich wie ein laub

Macht ein weil in dem luft umbschweben:

Du graß, du hay, in einer stund

Bald frisch-grünend und bald verdorben;

Mensch der du, eh dein gänger mund

Dich sterblich bekennet, gestorben.«

Alle Verse enthalten sieben Silben und abwechselnd ein- oder zweisilbige Reime. Die Betonungen der Silben aber sind weder ganz gleichmäßig noch durchweg alternierend. Das macht sie für heutige Lesende auf Anhieb nicht leicht zu rezitieren, denn der Opitzsche Vorschlag von 1624 zur Reform der Prosodie bzw. Metrik des »deutschen Verses« wurde nicht nur zeitgenössisch sogleich angenommen, er hat sich seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts tief in die sprachliche Routine aller deutschsprachigen Leserinnen und Leser von Lyrik eingegraben.

Als Weckherlin 1647 die zweite Gesamtausgabe seiner Gedichte vorbereitete (erschienen 1648 bei Johann Jansson in Amsterdam), sah er sich gezwungen, die Gedichte der Opitzschen Poetik anzupassen, wenn er weiterhin als relevanter Dichter anerkannt werden wollte, obwohl er selbst eine andere und erst wieder in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vor allem durch das Beispiel Friedrich Gottlieb Klopstocks¹ gängig gewordene Freiheit der Versfüllung bevorzugte. Also lauten die ersten Strophen des zitierten Gedichts in der neuen Ausgabe so:

»Du wenig koht, du wenig staub,

Hochmühtig durch ein wenig leben,

Durch welches leben wie ein laub

Du kanst ein weil alhie umbschweben:

Du graß, du hay, in einer stund

Bald grünend-frisch und bald verdorben;

Mensch der du, eh dein gänger mund

Dich sterblich nennet, oft gestorben.«

Auch wenn Verse zwei und sieben heutige Leserinnen und Leser eventuell noch immer stutzen lassen: Diese Fassung ist auf Anhieb leichter zu rezitieren als die erste Fassung, denn sie gehorcht Opitz’ Vorschlag einer Prosodie, die uns, geprägt vom Lautstärkenakzent des Deutschen, quasi natürlich erscheint.

Befreiender Vorschlag

Der Vorschlag wurde seinerzeit, wie gesagt, sofort angenommen und umgesetzt, und Opitz selbst als »Vater, ein König, Fürst, Held, Meister und Urheber der wahren deutschen Dichtkunst« gefeiert, wie es sein Biograph Kaspar Gottlieb Lindner (1705–1769) formulierte. »Der Erfolg von Opitzens Versreform, die alsbald die romanisierende Metrik verdrängt und die antikisierende sich nicht weiter entwickeln ließ, hatte einen bedeutenden Vorteil«, begründete der Göttinger Germanist Christian Wagenknecht ihre ungeheure Wirkung: Nunmehr »brauchte sich die Aufmerksamkeit der Poeten nicht mehr auf die Grundfragen der Prosodie und Versifikation zu richten«, sondern »wurde frei für die thematische und motivische Arbeit am einzelnen Gedicht.«

Die praktischen Beispiele zu seiner Theorie lieferte Martin Opitz in der von ihm selbst herausgegebenen Ausgabe seiner »Deutschen Poemata«, die 1625 bei David Müller in Breslau erschien. Mit dieser Ausgabe festigte er seinen Ruf als bester Dichter Deutschlands, der es mit den Größen der Antike oder der Nachbarländer aufnehmen könne. Im Februar des Jahres 1625 war Opitz als Mitglied einer Delegation der schlesischen Stände nach Wien an den Kaiserhof gereist und wurde dort von Ferdinand II. (1578–1637) höchstselbst zum »poeta laureatus« gekrönt, als Meister der Poesie also anerkannt und geehrt. Nachdem 1629 ein zweiter Teil der »Deutschen Poemata« erschienen war, wurde Opitz unter dem vielsagenden Vereinsnamen »Der Gekrönte« in die »Fruchtbringende Gesellschaft«² aufgenommen, eine akademisch-aristokratische Sozietät, die sich die Pflege der Muttersprache und die Förderung der kulturellen Urbanität im deutschsprachigen Raum auf die Fahnen geschrieben hatte.

Als »Impresario allergrößten Stils« (Richard Alewyn), gewissermaßen als gesamtdeutscher »Literaturorganisator« also, arbeitete Opitz weiter an der Erneuerung der deutschsprachigen Literatur aus dem Geist eines gelehrten Renaissancehumanismus, indem er in allen möglichen Gattungen Mustertexte entweder selbst entwarf oder in Übersetzung zur Verfügung stellte. Schon 1625 legte er mit »L. Annaei Senecae Trojanerinnen deutsch« das Vorbild für deutsche Barocktragödien vor, das er 1636 durch »Sophoclis Antigone Deutsch gegeben« als Beispiel speziell für Märtyrertragödien ergänzte. 1626 erschien mit der Übersetzung von Ottavio Rinuccinis (1563–1621) »Dafne«, das Libretto zur ersten weltlichen deutschen Oper von Heinrich Schütz (1585–1672), die 1635 durch das Libretto »Judith« nach Andrea Salvadoris (1588–1634) »Giuditta« als Muster eines geistlichen Singspiels ergänzt wurde. Ebenfalls 1626 erschien die Übersetzung von John Barclays (1582–1621) »Argenis« als Beispiel eines heroischen oder politischen Staatsromans, dem 1631 »Der Argenis Anderer Theyl« folgte. 1630 folgte mit der »Schäfferey Von der Nimfen Hercinie« die erste bukolische Erzählung in deutscher Sprache, die Opitz 1638 durch die Herausgabe einer Übersetzung von Philip Sidneys (1554–1586) »­Arcadia« als Muster eines Schäferromans ergänzte. 1637 erschien mit »Die Psalmen Davids« eine vollständige Übersetzung des biblischen Psalters (sechs Auflagen bis 1685), der noch weitere Übersetzungen religiöser Werke an die Seite gesetzt werden könnten.

Literarischer Reformator

Als Martin Opitz am 20. August 1639 im Alter von nur 41 Jahren in Danzig an der Pest starb, wussten die gelehrten Schriftstellerinnen und Schriftsteller in den deutschen sowie den benachbarten Ländern, dass mit ihm »der Begründer und programmatische Kopf der jungen deutschen Kunstdichtung von ihnen gegangen war« (Klaus Garber). Er blieb im Gedächtnis als literarischer Reformator, durch dessen nicht zuletzt eigenen »scharfsinnigen Fleiß« die »Künste und Wissenschaften (…) in allen absonderlichen Theilen« wesentlich »gestiegen sind, und erweitert worden«, um es mit den Worten des Zürcher Aufklärers Johann Jakob Breitinger (1701–1776) zu sagen.

Die Neubegründung der deutschsprachigen Literatur vor 400 Jahren hatte allerdings ihre Kosten. Die reiche und weltliterarisch durchaus bedeutsame Tradition der deutschsprachigen Dichtung des 16. Jahrhunderts – »Fortunatus«, »Till Eulenspiegel«, »Die Schildbürger«, »Doktor Faust«, die Dramatik von Hans Sachs (1494–1576), jene von Jakob Ayrer (1544–1605) – wurde im literarischen Gedächtnis der Zeitgenossen beinahe völlig ausgelöscht respektive in die Kolportage verdrängt und musste zur Zeit der Romantik erst wieder mühselig neu entdeckt werden. Opitz’ eigene Dichtung war in den Jahren um 1800 allerdings selbst schon fast ganz aus dem literarischen Gedächtnis verschwunden. »Germanien vergaß, daß einst ein Opitz sang, / In edler Einfalt groß, und richtig, ohne Zwang«, reimte schon Mitte des 18. Jahrhunderts Justus Wilhelm Friedrich Zachariä (1726–1777).

Immerhin enthält »Des Knaben Wunderhorn«, eine Sammlung von echten und angeblichen »Volksliedern«, welche Achim von Arnim (1781–1831) und Clemens Brentano (1778–1842) in den Jahren 1805 bis 1808 zusammentrugen und publizierten, auch vier Gedichte von Martin Opitz, darunter den unvergesslichen, die Anakreontik des 18. Jahrhunderts bereits präludierenden »Ueberdruß der Gelahrtheit« (hier in der romantischen Orthographie):

»Ich empfinde fast ein Grauen, / Daß ich, ­Plato, für und für / Bin gesessen über dir; / Es ist Zeit hinaus zu schauen, / Und sich bey den frischen Quellen / In dem Grünen zu ergehn, / Wo die schönen Blumen stehn, / Und die Fischer Netze stellen.

Wozu dienet das Studieren? / Als zu lauter Ungemach? / Unterdessen läuft der Bach / Unsers Lebens, uns zu führen, / Ehe wir es inne werden, / Auf sein leztes Ende hin, / Dann kömmt ohne Geist und Sinn / Dieses alles in die Erden.

Hola, Junge geh und frage, / Wo der beßte Trunk mag seyn, / Nimm den Krug, und fülle Wein. / Alles Trauren, Leid und Klage / Wie wir Menschen täglich haben, / Eh’ der Strom uns fortgerafft, / Will ich in den süßen Saft / Den die Traube gibt, vergraben.

Kaufe gleichfalls auch Melonen, / Und vergiß des Zuckers nicht; / Schaue nur daß nichts gebricht. / Jener mag der Heller schonen, / Der bey seinem Gold und Schätzen / Tolle sich zu kränken pflegt, / Und nicht satt zu Bette legt: / Ich will, weil ich kann, mich letzen.

Bitte meine guten Brüder / Auf Musik und auf ein Glas: / Kein Ding schickt sich, dünkt mich, baß, / Als ein Trunk und gute Lieder. / Laß’ ich schon nicht viel zu erben, / Ey so hab ich edlen Wein, / Will mit andern lustig seyn, / Wann ich gleich allein muß sterben.«

Anmerkungen

1 Siehe Arnd Beise: Form und Gefühl, junge Welt, Ausgabe 77:151, 2. Juli 2024, S. 12–13

2 Siehe ders.: Produktive »Spracharbeit«, junge Welt, Ausgabe 70:197, 25. August 2017, S. 12–13

Arnd Beise schrieb an dieser Stelle zuletzt am 20. August 2024 über die Erfolgsautorin E. ­Marlitt.

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