Die Zeit drängt
Von Nico Popp, Halle (Saale)Der Bundesparteitag von Die Linke hat am Samstag in Halle seine Arbeit fortgesetzt. Zum Auftakt des zweiten Verhandlungstages sprachen die beiden Vorsitzenden der Bundestagsgruppe, Heidi Reichinnek und Sören Pellmann. 2022 hatten sie sich gegen Janine Wissler und Martin Schirdewan um den Parteivorsitz beworben. Ihre Redebeiträge waren vor allem als Signal zu verstehen, dass sie hinter der neuen Parteispitze stehen, die am Nachmittag und Abend gewählt wurde. Zumindest in Hinsicht auf die Frage der Zusammensetzung der Parteiführung sind in Halle alle relevanten Akteure sichtlich bestrebt, Einigkeit zu demonstrieren; eine mit Personalvorschlägen verbundene Auseinandersetzung über die strategische Ausrichtung der schwer angeschlagenen Partei findet bei diesem Parteitag, der zuvor zur »letzten Chance« erklärt worden war, um die Linke aus der Krise zu führen, nicht statt.
Keine Trauergesänge
»Hören wir auf, uns mit uns selbst beschäftigen«, rief Reichinnek den Delegierten in ihrer Rede zu. Linke Politik sei keine »Politik für Linke«, sondern ein »Kampf für Leute, denen es scheiße geht«. Pellmann stellte den Wahlkampf des Leipziger Kandidaten Nam Duy Nguyen heraus, der nach einem engagierten Haustürwahlkampf bei der Landtagswahl am 1. September ein Direktmandat errungen hat. »Da geht doch was«, sagte Pellmann. Es sei nicht die Zeit für Trauergesänge und »absolut möglich, in einem Jahr wieder voll da zu sein«, versicherte er mit Blick auf die Bundestagswahl 2025. Der scheidende Kovorsitzende Martin Schirdewan nutzte seine Abschiedsrede, um vor einer »Flucht in die Orthodoxie« zu warnen. Auch »als BSW-light-Kopie« habe die Partei keine Zukunft. Dies wäre »das Ende«.
In der anschließenden Debatte über den Leitantrag, der mit großer Mehrheit beschlossen wurde, folgten die Delegierten in der Hauptsache den Abstimmungsempfehlungen des Parteivorstands. Angenommen wurden einige mehr oder weniger politkosmetische Änderungsanträge, abgeschmettert dagegen Anträge, die darauf abzielten, dem Leitantrag nach links zu konturieren. Angenommen wurde allerdings ein Änderungsantrag, der darauf zielte, einen von vielen Delegierten als grotesk empfundenen Satz im Leitantrag – »Es wird für Deutschland und die EU entscheidend sein, nicht Teil einer globalen Auseinandersetzung zwischen West und Ost zu werden« – zu entfernen. Deutschland und die EU, hieß es zur Begründung des Änderungsantrages, seien offensichtlich längst Teil einer solchen Auseinandersetzung.
Abgelehnt wurde ein rechter Antrag aus Bremen, in dem unter anderem dieser Satz stand: »Der Globale Westen ist einerseits Realität, dient andererseits aber häufig als Projektionsfläche, mit denen andere Staaten und Kräfte die eigene autoritäre Politik und das eigene Dominanzstreben, bis hin zu militärischer Aggression und Vernichtungswünschen, als ›postkoloniale‹ Emanzipation zu legitimieren versuchen.« Der Antrag sprach sich auch dafür aus, die Rüstungsindustrie zu »verstaatlichen«.
Nahost-Debatte eingehegt
Das betonte Streben nach Einigkeit bestimmte am Freitag abend die Diskussion über die Anträge mit Nahost-Bezug, die nach dem »Eklat« beim Berliner Landesparteitag, bei dem die Parteirechte mit einem Antrag zum Thema aufgelaufen war, eine besondere Sprengkraft zu entwickeln drohte. Das Thema hatte zuvor bereits in der Generaldebatte eine sichtbare Rolle gespielt. Kritisiert wurde dabei ausdrücklich auch, dass in den Tagen nach dem Berliner Landesparteitag Genossen, »die leider auch hier sind«, die Gegner des rechten Antrages via Tagesspiegel und Spiegel attackiert hatten.
Nun lagen mehrere Anträge vor, in denen etwa der israelische Krieg im Gazastreifen als Genozid bezeichnet wurde. Ein anderer Antrag forderte die Partei auf, sich von der Indienstnahme der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance für die Denunziation von Kritik an der israelischen Kriegs- und Besatzungspolitik als antisemitisch abzusetzen.
Um eine Eskalation auf offener Bühne zu verhindern, legte die Parteiführung am Freitag einen »Kompromissantrag« vor, der darauf abzielte, insbesondere die Anträge »Deeskalation und Abrüstung für Frieden in Nahost - Für eine friedenspolitische Wende im Krieg Israels gegen Palästina« und »Zeit für Haltung: Gegen den Genozid in Gaza« aus dem Spiel zu nehmen. Im Vorfeld hatten im Hintergrund Aussprachen mit allen Antragstellern stattgefunden, die in der Debatte am Abend von mehreren Rednern als konstruktiv gelobt wurden. Der Kompromissantrag wurde anschließend mit großer Mehrheit beschlossen. Der Antrag zur Antisemitismus-Definition wurde an den Vorstand überwiesen. Jan van Aken, der sich am Sonnabend um den Parteivorsitz bewirbt, riet davon ab, über »wissenschaftliche Fragen« auf Parteitagen zu entscheiden. »Wir haben damit nicht den Nahost-Konflikt gelöst, aber wir sind damit als Partei ein gutes Stück weitergekommen«, lobte er den Kompromissantrag des Vorstandes.
In dem mit Mehrheit beschlossenen Antrag wird die israelische Kriegführung in Gaza als völkerrechtswidrig bezeichnet und ein sofortiger Waffenstillstand gefordert. Konstatiert werden »schwere Kriegsverbrechen auf beiden Seiten«. Hingewiesen wird darauf, dass der Internationale Gerichtshof deutlich gemacht hat, dass die Gefahr genozidaler Handlungen in Gaza bestehe. Außerdem heißt es: »Das Unrecht der Besatzung der palästinensischen Gebiete ist niemals eine Rechtfertigung für den menschenverachtenden Terror der Hamas – und genauso rechtfertigt der 7. Oktober nicht die Völkerrechtsverbrechen der israelischen Armee in Gaza oder im Libanon.«
Die Bundesregierung wird in dem Antrag aufgefordert, Palästina als eigenen Staat in den Grenzen von 1967 anzuerkennen. »Für Antisemitismus und Rassismus ist kein Platz in der Linken«, wird weiter betont. »Wer in Nahost oder hierzulande antisemitische Ressentiments befeuert, wer das Existenzrecht Israels in Frage stellt, wer gegen jüdische Menschen hetzt oder den Terror der Hamas relativiert«, könne kein Bündnispartner sein. Das gelte auch für diejenigen, die »rassistische, anti-muslimische oder antipalästinensische Angriffe und Propaganda gutheißen oder betreiben«. Um die palästinasolidarische Strömung in der Partei weiter zu befrieden, wurde außerdem ein Antrag beschlossen, in dem eine Unterstützung der von verschiedenen NGOs initiierten Petition »Für einen gerechten Frieden in Gaza. Waffenexporte stoppen und Hilfsblockade beenden!« gefordert wird.
Keine Zeit für Demonstranten
Kurz vor der Mittagspause am Sonnabend wies ein Delegierter am Saalmikrofon darauf hin, dass vor der Halle palästinasolidarische Gruppen »gegen den Parteitag« demonstrieren. Er forderte die Delegierten auf, im Lichte des Beschlusses vom Vorabend, den man so gleich in der Praxis erproben könne, mit diesen Menschen zu sprechen, denn diese Konstellation sei »schwer erträglich«. Nach der Pause stellte eine Delegierte den Geschäftsordnungsantrag, drei der Demonstranten zum Parteitag sprechen zu lassen. Es sei eine »Schande«, dass kaum jemand draußen gewesen sei. Dagegen sprach die Bundestagsabgeordnete Kathrin Vogler. Sie verwies auf den Zeitplan; man warte darauf, einen neuen Parteivorstand zu bekommen. Der Geschäftsordnungsantrag wurde mit 235 gegen 174 Stimmen abgelehnt.
Neue Parteiführung gewählt
Am Samstag nachmittag wählten die Delegierten die Publizistin Ines Schwerdtner und den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Jan van Aken, die zuletzt beide bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung tätig waren, an die Spitze der Bundespartei. Schwerdtner trat auf der Liste zur Sicherung der Mindestquotierung ohne Konkurrenz an und erhielt 434 Stimmen. 70 Delegierte stimmten gegen sie, 40 enthielten sich. Für van Aken stimmten 477 Delegierte. Ein den meisten Delegierten unbekannter, noch dazu krankheitsbedingt abwesender Kandidat, Emanuel Schaaf, erhielt 19 Stimmen.
Ohne Konkurrenz wurden auch die Posten des Bundesgeschäftsführers und des Bundesschatzmeisters vergeben – an zwei Mitglieder des bisherigen Parteivorstandes. Janis Ehling, 2022 in Erfurt als Wunschkandidat von Janine Wissler und Martin Schirdewan noch gescheitert, ist nun Bundesgeschäftsführer. 366 Delegierte stimmten für, 92 gegen ihn. Der bisherige Landesgeschäftsführer Sebastian Koch wurde bei 54 Gegenstimmen von 353 Delegierten gewählt.
Auch die vier stellvertretenden Parteivorsitzenden stehen durchweg für die Linie des bisherigen Parteivorstandes. Ates Gürpinar, der im Januar kommissarisch die Bundesgeschäftsführung übernommen hatte, schnitt mit 403 Stimmen hier am besten ab. Der Berliner Landesvorsitzende Maximilian Schirmer erzielte ein deutlich schlechteres Ergebnis und kam mit 297 Simmen nur auf eine Zustimmung von 56 Prozent. Auch die beiden einzigen Kandidatinnen, die auf der quotierten Liste antraten – die Hamburger Kolandesvorsitzende Sabine Ritter und die sächsische Landtagsabgeordnete Luise Neuhaus-Wartenberg –, erhielten zahlreiche Gegenstimmen: Ritter 113, Neuhaus-Wartenberg 139. Die Gegenstimmen bei diesen Wahlen sind freilich auch schon die sichtbarste Manifestation einer gegen ein »Weiter so« gerichteten Stimmung unter den Delegierten – und diese Stimmung ist ersichtlich nicht die einer Mehrheit.
Unter den Mitgliedern des am späten Abend neu gewählten Parteivorstandes sind allerdings einige, die ihre Vorstellungsreden für kritische Anmerkungen über Kurs und Zustand der Partei genutzt haben. Dazu zählen Margit Glasow, Ulrike Eifler, Thies Gleiss und die erstmals gewählte Naisan Raji. Der Vorsitzende eines der angepasstesten Landesverbände der Partei, Christoph Spehr (Bremen), fiel mit seiner Bewerbung für den Parteivorstand durch.
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