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Aus: Ausgabe vom 13.11.2024, Seite 12 / Thema
Literaturgeschichte

Ein Zeitalter wird gesichtet

Vor 100 Jahren erschien Thomas Manns »Der Zauberberg«. Der Roman behandelt die bürgerliche Welt im Untergang
Von Felix Bartels
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Davos: »Ewigkeitsuppe«, »stehendes Jetzt«, »ausdehnungslose Gegenwart«

In Brechts Visier mochte man nicht geraten. Insonders, wenn man Mann hieß. Es kann schon vorkommen, dass zwei Gipfel derart hoch ragen, dass sie keinen Blick mehr für einander haben. Manns Ekel war episch, Brechts Zorn dramatisch. Beim »Zauberberg« kam ihm die Galle hoch. Acht Jahre, nachdem das Werk in die Welt getreten, 1932 also, indessen die Nazifinsternis bereits in die Zeit hinein dämmerte, schoss der um 22 Winter Jüngere scharf: »Der Dichter gibt uns seinen Zauberberg zu lesen. / Was er (für Geld) da spricht, ist gut gesprochen! / Was er (umsonst) verschweigt: die Wahrheit wär’s gewesen. / Ich sag: Der Mann ist blind und nicht bestochen.« Da war er wieder, der wahre Pfad, der eine. Geht es um die tausend Fahrwege der Kunst, werden Revolutionäre seltsam kurzsichtig.

Das Gedicht, in dem die Zeilen sich finden, heißt »Ballade von der Billigung der Welt«. Brecht also missdeutet den »Zauberberg« als Affirmation, obgleich das Werk sich einer Linie beiordnet, die seit den »Buddenbrooks« (1901) erkennbar war: die klinisch genaue Beschreibung des im Zerfall befindlichen Bürgertums. Vielleicht war es zu viel verlangt, sich ganz auf den fein strukturierten Kosmos eines Thomas Mann einzulassen. »Der Zauberberg« besticht nicht durch Sendbotschaft, er ist groß durch Entfaltung. Es geht um mehr als das Durchziehen einer Richtung, um die Kollision der Richtungen nämlich.

Innerer Realismus

Gewiss konnte das Setting provozieren. Während Millionen auf den Schlachtfeldern verenden, führt der Autor seinen Helden in ein Refugium, weit ab von den Dingen jener blutigen Welt. Der Vorwurf mangelnden Bezugs zur Wirklichkeit war da schnell bei der Hand, mochten die Vorgänge der Welt sich noch so deutlich als geistige Reflexe in den Figuren zu erkennen geben. Ein plattes Verständnis von Realismus reduziert Kunst auf die Darstellung von Klassenkämpfen und Mechanismen der Politik, es ist aber auch ein innerer Realismus gestaltbar, in dem sich Entwicklung und Krise des Subjekts zeigen, möglichst stimmig, authentisch, exemplarisch. Das Verfahren scheint bei etwas historischem Abstand eher respektiert zu werden. Goethes »Faust« verkörpert diesen inneren Realismus geradezu idealtypisch. Niemand, Ludwig Börne vielleicht ausgenommen, käme auf die Idee, diesem Werk seine Substanz abzusprechen, gleich, wie gern er es gelesen hat.

Den historischen Boden, auf dem der magische Berg steht, hat Mann selbst weidlich beleuchtet. Der Roman beschreibt das Ende des Fin de Siècle, wuchtig beschlossen durch den Beginn des Ersten Weltkriegs. Im Frühjahr 1924, als Mann die letzten Striche am »Zauberberg« tat, erschien sein Aufsatz »Über die Lehren Spenglers«. Darin: »Wir sind ein aufgewühltes Volk; die Katastrophen, die über uns hingegangen, der Krieg, der nie für möglich gehaltene Umsturz eines Staatssystems, das aere perennius schien, ferner wirtschaftlich-gesellschaftliche Umschichtungen radikalster Art, kurzum das stürmischste Erleben, haben den nationalen Geist in einen Zustand der Anstrengung versetzt, wie er ihm lange nicht mehr bekannt gewesen.« Hinzu komme die Revolution in den Naturwissenschaften, »denen um die Jahrhundertwende scheinbar nichts zu tun übrig blieb, als das Errungene zu sichern und auszubauen«. Es waren die Jahrzehnte der Relativitätstheorie und Quantenmechanik, in denen auch die Biologie große Sprünge machte. In einer Krise dagegen befinde sich die Kunst, »die zuweilen zum Tod zu führen droht, zuweilen die Möglichkeiten neuer Formgeburten ahnen lässt«. Alle diese Dinge »fließen ineinander«, Politik ästhetisiere sich, Kunst werde politischer. Mann beschreibt das Szenario hinter dem Szenario, die Substanz, die »Der Zauberberg« durch die Subjektivität seiner Figuren hindurch ausdrückt.

Bereits 1901 hatte er ein ähnliches Setting. »Tristan« erzählt die Begegnung des erfolglosen Literaten Detlev Spinell und der Kaufmannsgattin Gabriele Klöterjahn in einem gebirgig gelegenen Sanatorium. Höhepunkt dieser satirisch angelegten Novelle ist das Aufeinandertreffen des groben Herrn Klöterjahn und des sensiblen Spinell. Der Zerfall des Bürgerlichen in einen praktischen, doch geistlosen, und einen geistvollen, doch unfähigen Teil wird hier veranschaulicht, mit dem Unterschied zum späteren »Zauberberg«, dass er dort ernster genommen scheint.

Den Anlass zum Entwurf des »Zauberberg« gab indes ein Aufenthalt des Dichters im Waldsana­torium Dr. Jessen nahe Davos, der vom 15. Mai bis 12. Juni 1912 dauerte. Thomas besuchte dort seine Frau Katia, ganz wie sein Held, der noch gesunde Hans Castorp, seinen kranken Vetter Joachim Ziemßen. Eine nicht genauer als zwischen Herbst 1912 und Sommer 1913 zu datierende Notiz bezeugt den Plan zum »Zauberberg«: »Novellen, die zu machen: Goethe in Marienbad« (daraus wurde »Tod in Venedig«), »Ein Elender. Der verzauberte Berg«. Tatsächlich war der Roman zunächst als Novelle gedacht, und tatsächlich als burleskes Geschwist des gerade entstehenden »Tod in Venedig«. Im Sommer 1913 beginnt Mann das Schreiben, ein Brief an Ernst Bertram vom 24. Juli dokumentiert die Beschäftigung. Vom Beginn des Ersten Weltkriegs, Sommer 1914, sieht der Dichter sich gezwungen, die Arbeit zu unterbrechen, er publiziert mehrere Essays, in denen er den Feldzug des Deutschen Reichs verteidigt. Höhepunkt dieser Phase sind die »Betrachtungen eines Unpolitischen«, an denen Mann, zwischenzeitig zum »Zauberberg« zurückgekehrt, ab Herbst 1915 sitzt. Erscheinen sollte der breite Essay im März 1918. Erst dann wendet Mann sich wieder dem »Zauberberg« zu, der durch die »Betrachtungen« gewissermaßen entlastet wurde, da dort manche Frage ausgeführt werden konnte, die mehr für den Autor denn für den Roman nötig gewesen sein dürfte.

Die »Betrachtungen« lassen sich, davon ab, als Auswurf sehen, als Sache, die man in die Welt setzen muss, um sie loszuwerden. Nach ihrem Abschluss beginnt die Zeit, in der Mann sich langsam von seinen Positionen löst, seiner Verklärung des deutschen Wesens, seiner Rationalisierung des imperialistischen Kriegs, seinen Vorbehalten gegen die Demokratie und seiner Illusion, all das sei Ausdruck des Unpolitischen. Diese Entwicklung wird erst 1933 vollendet sein, »Der Zauberberg« lag da längst vor. Was sich in ihm noch findet, das sind die im Essay vorgezeichneten Linien, die konstituierenden Widersprüche des Erzählwerks, deren Wert auch dann erhalten bleibt, wenn der Dichter sich nicht mehr allzu entschieden in ihnen verortet. Im November 1924 erscheint »Der Zauberberg«, elf Jahre nach dem ersten Strich. S. Fischer druckt eine Auflage von 20.000, vier Jahre später werden es 100.000 sein.

Nicht leicht zu erklären, warum dieses Buch auf Anhieb so erfolgreich war. Schwer vorstellbar auch, dass es ohne die Reputation des Verfassers derart hätte reüssieren können. Gewisse Dinge darf man sich erst erlauben, wenn man bewiesen hat, dass man anders kann. »Der Zauberberg« ist wirklich unfassbar langweilig. Wie Fontanes »Stechlin« gehört er in die Reihe der Erzählwerke, die Handlungsarmut zur Tugend machen. Alles ist Konversation oder Begegnung, am Ende sind ein paar Leute gestorben. Aber diese Wendung in Gedanken und Affekte, dieser innere Realismus eben, fesselt auf seine Weise. Gerade weil das Innerliche hier trägt, indem es nicht eitel ist durch Einseitigkeit und so beziehungsreich entfaltet, Lesern sehr verschiedener Prägung Zugang zu ermöglichen. Und weil die Ideen- und Affektstrukturen in einer poetischen Welt verdinglicht sind, die schon der Titel programmatisch andeutet: Zauberberg, der magische Ort. Die große Metapher lockt, und bis man festgestellt hat, dass sie bloß Versprechen war, hat man all die in ihr enthaltenen Metaphern längst verdaut. Die Langeweile des »Zauberberg« ist eine sublime Langeweile.

Das Ideal der Krankheit

Die Handlung ohne Handlung ereignet sich an einem schon damals berühmten Kurort in den Schweizer Alpen. Davos, da wos heute kaum noch schön ist. Der junge Ingenieur Hans Castorp, bürgerlichen Hintergrunds und – natürlich – norddeutscher Herkunft, besucht seinen Vetter Joachim Ziemßen, der sich des längeren schon im Sanatorium Berghof aufhält. Sofort taucht Castorp in die bizarre Welt, macht Bekanntschaft mit den physiologisch-psychoanalytischen Ideen der leitenden Ärzte Behrens und Krokowski, begegnet auf einem Spaziergang einer Patientin, die an einem Pneumothorax leidet und daher aus der Lunge pfeifen kann, beim Abendessen sieht er sich der geschwätzigen Frau Stöhr ausgesetzt. Kurzum, was die meisten dazu brächte, unvermittelt das Weite zu suchen, scheint Castorp gerade anzuziehen. Der Zustand des Krankseins gilt ihm erstrebenswert (worin ein Grundthema des Mannschen Werks anklingt). Irritiert wird Castorp von Clawdia Chauchat, einer jungen Russin, die stets zu spät zum Essen erscheint und die Tür in mehr als schicklicher Lautstärke zuschlägt. Die Irritation setzt sich bald um in Libido, was er sich nicht erklären kann, da Madame Chauchat ein seltsames Äußeres hat (langen Halses, »schlaff, wurmstichig und kirgisenäugig«). Eine Zeit lang bleibt sie verschlossen, was sein Begehren weiter steigert, später ruft ein von Chauchat überreichter Bleistift eine Erinnerung an die Augen seiner Jugendliebe Přibislav Hippe auf. Am Tag vor ihrer Abreise gesteht er ihr seine Liebe, das Gespräch ist (vielleicht als Referenz auf Tolstois »Krieg und Frieden«) teils in französischer Sprache gehalten.

Bald nach der Ankunft hatte Castorp einen älteren Herrn kennengelernt, mit dem er beinahe täglich in lange Gespräche tritt: Lodovico Settembrini, ein humanistisch gesinnter und weithin gebildeter Literat, wird ihm zum Mentor. Der weltanschauliche Gehalt des »Zauberberg« kann durch Settembrini ausgebreitet werden, versetzt mit dessen Haltungen und Positionen, die nicht unbedingt denen des Autors entsprechen. Später im Buch werden Settembrinis Themen von seinen Thesen befreit, indem ein intellektueller Gegenspieler auf der Szene erscheint. Der zum Katholizismus konvertierte Jude Naphta beeindruckt Castorp, indem er der humanistischen Breite Settembrinis mit gestochenen Pointen begegnet. Er scheint jeder bekannten Art Radikalismus anzuhängen, ein konsistentes Weltbild benötigt er dazu nicht. Mehr noch, gerade diese ungebundenen Nadelstiche ermöglichen ihm, Settembrini partiell zu entzaubern. Die beiden scheinen, bei aller Verschiedenheit, einander ebenbürtig, so dass Castorp Naphta und Settembrini als widerstreitende Mentoren annimmt.

Im ewig gleichen Tagesablauf des Sanatoriums und der Armut an äußerlichen Ereignissen verliert der junge Mann sein Zeitgefühl. Immer wieder findet er Gründe gegen die Abreise, im Kontrast zu seinem Vetter, der aufgrund seiner Erkrankung nicht abreisen darf, das aber am liebsten täte. Gesunden Körpers, doch das Ideal der Krankheit im Kopf, nimmt Castorp an den Kuren und Therapien der Klinik teil. Eines kalten Tages entdeckt Behrens einen feuchten Fleck in Castorps Lunge, als habe die Heilung, der der Nichtkranke sich unterzog, die Krankheit hervorgerufen. Castorp hat nun auch einen physischen Grund, auf dem Zauberberg zu bleiben. Ziemßen hingegen hält es dort nicht länger. Gegen den Willen der Ärzte verlässt er den Berghof, um seinen Militärdienst fortzusetzen. Da sich sein Zustand draußen schnell verschlimmert, muss er bald zurückkehren. Sein Tod folgt kurze Zeit später.

Herr der Gegensätze

Weniges zuvor hatte sich Bedeutend-Folgenloses ereignet. Während eines Skiausflugs durch heftige Schneewehen festgesetzt, fällt Castorp in Schlaf, worin ihm von zwei Hexen träumt, die ein Kind fressen. Er erkennt in dem Kind sich selbst und in den Hexen die streitenden Extreme, Settembrini und Naphta, aber auch die Oppositionen krank-gesund und tot-lebendig, die genau besehen Derivate jenes elementaren weltanschaulichen Widerspruchs im Denken Thomas Manns sind: Kultur gegen Zivilisation. »In der Mitte ist des Homo Dei Stand – inmitten Durchgängerei und Vernunft – wie auch sein Staat ist zwischen mystischer Gemeinschaft und windigem Einzeltum … er allein ist vornehm, und nicht die Gegensätze. Der Mensch ist Herr der Gegensätze, sie sind durch ihn, und also ist er vornehmer als sie.« Es scheint, als habe der Autor sich den Mund seines Helden geliehen und spreche direkt zum Publikum. Der nämlich fällt bei seiner Rückkehr in alte Muster.

Zwei Jahre nach ihrer Abreise kehrt Clawdia zurück, begleitet von Mynheer Peeperkorn, einem holländischen Unternehmer, mit dem sie ein Verhältnis hat. Peeperkorns lächerlich unprätentiöses Auftreten, sein überbordendes Wesen, die regelrecht antiintellektuelle Attitüde, in der geistiger Mangel zur Tugend gemacht ist, bringen die Verhältnisse unter den Bewohnern durcheinander. Vermöge von etwas, das der Erzähler »Persönlichkeit« nennt, wird Peeperkorn zum Taktgeber der Gruppe. Castorp unterwirft sich ihm in einem regelrecht ödipalen Akt: Weil er um Clawdia nicht konkurrieren kann, identifiziert er sich mit ihm. Mit Peeperkorn ändert sich das Maßsystem der Anwesenden. Geist wird vom Leben verdrängt, Entwürfe werden verkörpert, nicht formuliert. Entsprechend sehen Settembrini und Naphta sich desavouiert. (Übrigens war 1922, zwei Jahre vor Abschluss des »Zauberberg«, Max Webers »Wirtschaft und Gesellschaft« erschienen, worin der Begriff der charismatischen Herrschaft auftaucht, als deren Verkörperung Peeperkorn, intendiert oder nicht, gelten darf.) Erkennbar vorläufig aber bleibt auch dieser Entwurf. Peeperkorn, nach einer Therapie den Verlust seiner Libido ahnend, begeht Suizid. Chauchat reist ab.

Der Rest ist Wahnsinn. Settembrini und Naphta treiben ihren Streit auf die Spitze, beim verabredeten Pistolenduell schießt Settembrini in die Luft, Naphta, gekränkt von dieser Geste, lebt, wie er es immer propagiert hat, und erschießt sich selbst. Zurück bleibt mentorenlos der Schüler, es werden am Ende sieben Jahre gewesen sein, die er auf dem Zauberberg verbracht hat. Der Erste Weltkrieg lässt die Berghofblase platzen. Castorp muss in den Krieg. Der Erzähler weiß noch zu berichten, dass er recht bald an der Front eingesetzt wurde. »Und so, im Getümmel, in dem Regen, der Dämmerung, kommt er uns aus den Augen.« Das Buch endet mit der Frage, ob aus dem »Weltfest des Todes« einmal die Liebe steigen werde. Genaue 100 Jahre später lässt sich wohl mit einiger Sicherheit antworten: nein.

Kein Ausweg

Es sind im Laufe der Nacherzählung des Romans und seiner Entstehung einige Andeutungen über historischen Kontext und zugrunde liegende Ideen gemacht worden, die dem Gedankenfluss zuliebe kurz bleiben mussten. Worin also sah Thomas Mann den großen Bruch, den der Erste Weltkrieg markierte? Worin bestand der schleichende Prozess, der ihm vorausging? Was ist der Sinn hinter den erwähnten Oppositionen Krankheit-Gesundheit, Tod-Leben, Kultur-Zivilisation? Und was hat das alles mit dem bizarren Thema Zeit zu tun, um das die Gespräche im Buch beständig kreisen?

»Was fehlt uns denn?« pflegten Ärzte früher zu sagen. Und die Antwort bei Castorp liegt nahe: nichts. Körperlich wenigstens. Als er den Berghof betritt, fehlt ihm dafür jedes Thema, jeder Antrieb, jeder Lebenszweck. So sieht man einen jungen Mann von fast geometrischer Durchschnittlichkeit seine innere Leere in dieser Welt der Innerlichkeit auffüllen. Entsprechend greift der Autor, der seinem Helden in personaler Perspektive folgt (keine Szene ohne ihn), immer wieder zum Kommentar, adressiert den Leser direkt und steht über den Dingen. Ein auktorialer Erzähler in personaler Bewegung also, was dem Anliegen des Romans entspricht, der Forderung, über sich hinaus zu wachsen. Der Name der Hauptfigur lässt an die Dioskuren denken, Behrens spricht das direkt aus: Castorp als Kastor, Ziemßen als Pollux. Im Mythos allerdings besucht umgekehrt Pollux Kastor im Hades, dennoch ist die Beziehung Zauberberg–Hades vor dem Hintergrund des Todesmotivs im Roman gewiss beabsichtigt.

Mann liebte sprechende Namen, teils bis zur Albernheit. Naphta bedeutet im Hebräischen so viel wie Kampf oder Zerstörung (2. Mose, 30,8), sein Vorname Leo mag auf den damals noch recht umtriebigen Trotzki zu weisen, zumal zwischen Trotz und Kampf auch kein allzu weiter Weg liegt. Clawdia (deutsch: Claudia) ist die Klaue (englisch: claw), die den jungen Mann am Ort festhält. Auch der feurig-scharfe Dionysiker Peeperkorn, die ewig störende Frau Stöhr und der pflichtbewusste Ziemßen, der sich verhält, wie es sich ziemt, haben sprechende Namen. Dies Nebeneinander von Läppischem und Bedeutungsvollem mag beabsichtigt sein, Moment der Ironisierung, die besorgen soll, dass der Leser auf die behauptete Faszination des Ortes nicht so ganz hereinfällt. Gewiss ist »Der Zauberberg« eine Antwort auf die Krise, aber der Roman sagt auch: Was hier passiert, kann kein Ausweg sein.

Tod und Krankheit sind Leitmotive bei Mann: »Der Tod«, »Buddenbrooks«, »Tristan«, »Tod in Venedig«, »Doktor Faustus«, »Die Betrogene«, you name it. Es ist behauptet worden, dass im biologischen Gegensatz krank-gesund ein geistiger abgebildet ist, der von Kultur und Zivilisation. Er taucht an einer Schlüsselstelle der »Betrachtungen« auf: »Geist ist nicht Politik«, dieser Unterschied enthalte »den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur«. Mit »Kultur« meint Mann den abgesonderten Geist, unter »Zivilisation« versteht er das Politische, mithin den Geist, der politisiert. Scharf setzt er das poetische Genie gegen von Engagement verunreinigte Schriftstellerei, die er im »Zivilisationsliteraten« der westeuropäischen Tradition figuriert. Die Krankheit wird vor dem Hintergrund dieses Schemas zur Metapher der Absonderung, sie ist Rückzug vom Leben, der Tod dann die Vollendung dieses Wegs. Wenn Castorp auf den ersten Seiten die Krankheit als veredelnd beschreibt und findet, dass Dummheit und Krankheit nicht recht zueinander passen, ist das so ziemlich die Haltung der »Betrachtungen«. Allerdings ist »Der Zauberberg«, wie Mann selbst es formuliert hat (Tagebücher, 15. Juni 1921), ein Bildungsroman. Zumindest phasenweise, etwa in der Schneeszene, kann der junge Mann sich von der Strenge des Schemas lösen: »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.«

Die Entwicklung der Figur im Roman widerspiegelt die Entwicklung des Autors während dessen Abfassung. Maßgeblich für den »Zauberberg« ist das Schema der »Betrachtungen«, nicht die Bewertung dort. So hat auch Mann, der im »Tod von Venedig« (1912) noch ganz im alten Sinn schreibt, die eskapistische Position im Lauf der zwanziger Jahre entschärft, seine Kritik an der vordergründig politisierten Literatur aber beibehalten. Die Forderung nach Vermittlung wird zum Credo. Kunst muss, wenn sie denn politisch wirken soll, von diesem Zweck zunächst absehen, erst mal Kunst sein, um mehr sein zu können. Andernfalls degeneriert sie zum Zeitdokument. So hat sie mehr aufzunehmen als die Neigungen ihres Urhebers. »Der Zauberberg« ist groß, weil er Mann über den Kopf gewachsen ist, doch auch der Dichter war an seinem Werk gewachsen.

Ungelöste Widersprüche

Abhängig davon scheint das Thema Zeit. In der Blase des Berghof scheint sie still zu stehen, während sie außerhalb in gewöhnlichem Tempo fortgeht. Castorps Erleben der Zeit will aber Tieferes bedeuten als bloß Erleben, es erhält metaphysische Bedeutung, grundiert zunächst durch physische. Wie erwähnt waren die Jahre des Romans auch die Jahre der modernen Physik mit ihrem veränderten Zeitverständnis. Im Zusammenhang relativistischer Auffassung verliert Zeit jenen Charakter einer Naturkonstante aus der newtonschen Physik, sie wird verständlich als Messgröße, dass etwas passiert. So wie ein gänzlich leeres Universum keinen Raum hätte, hätte es auch keine Zeit, da nichts in ihm geschehen und Zeit sich nur darstellen kann an Ereignissen. Entsprechend lässt die Ereignisarmut auf dem Zauberberg die Zeit nicht ganz verschwinden, doch sie verlangsamt sie. Metaphysisch wird das nun aufgeladen mit der Idee des nunc stans (des stehenden Jetzt), die Mann – wie anders? – durch Schopenhauer vermittelt wurde. Allerdings scheint für die Erzählung kaum nötig, dessen wirre Willensmystik mit einzupreisen, im Kern ist nunc stans ein platonisches Konzept, das den Widerspruch von Wesen und Erscheinung zu lösen sucht. Zeit gehört in die Sphäre der Erscheinungen, sie kann immer nur ein Moment der Sache markieren, sie nur so zeigen, wie sie eben gerade ist, und wie sie war und sein wird, das sind auch bloß Momente. Das Wesen fasst das Übergreifende der Sache, das nicht fassbar ist am Moment und auch nicht an der Reihung von Momenten. Auf diese dialektische Komplexität reagiert das platonische Denken, indem es das Wesen als Besonderes gegen die Vielzahl seiner besonderen Erscheinungsversionen festhält. Hinter der realen Welt liegt eine wahre Welt, in der die Dinge zeitlos ganz bei sich sind.

Der Zauberberg als Metapher soll etwas derart sein, und die Idee des sich aus dem Leben zurückziehenden Geistes, der damit zeitlos werde, ist die Verbindung des Motivs der Zeit mit dem Komplex Krankheit-Geist-Kultur. Da Mann aber wie gesagt im »Zauberberg« schon weiter ist, muss der Zauberberg ironisiert werden – die Blase platzt am Ende, indem gerade ein Ereignis der Zeit, der Weltkrieg, sie machtvoll zerstört. Wie Castorps Entwicklung unvollständig bleibt, seine Initiation von regressiven Momenten durchkreuzt wird, ist das Ende des Romans aporetisch, weil Mann gegenüber seinem Zeitalter in Aporien blieb. In weiterem Sinne aber als nur dem des Endes der Belle epoque, die so belle dann auch nicht war.

Das Schwinden der unschuldigen Décadence, das 1914 aufplatzende »Weltfest des Todes«, das Raumgreifen westlicher Demokratie (Inbegriff dessen, was Mann, wie auch Spengler, »Zivilisation« nennt), die Erschütterung der vermeintlich abgeschlossenen Naturwissenschaften, die Krise der großen Kunstgattungen, all das griff für Mann im zweiten Dezennium des 20. Jahrhunderts ineinander. Mit hinein gehört hier der Zerfall des Bürgertums. Die »Buddenbrooks« führen ihn als »Verfall« im Untertitel, das »Dominus providebit« (»Der Herr wird vorsorgen«) über dem Eingang des Familienhauses wird Seite für Seite dekonstruiert. »Der Zauberberg« dagegen setzt beim bereits zerfallenen Bürgertum an.

Zerfall der Epoche

In Peeperkorn (dem Aussehen Gerhart Hauptmanns nachgebildet) und Ziemßen spalten sich dionysischer Hedonismus und apollinische Pflicht voneinander ab, verzehrende Bourgeoisie und arbeitende Puritanerei. In Settembrini (dem Zivilisationsliteraten, der in den »Betrachtungen« noch auf Manns Bruder Heinrich abzielt, hier aber schon deutlich mehr zu seinem Recht kommt) geht ein engagierter, aber einzelgängerischer Humanismus auf, der durch die Radikalität Naphtas konterkariert wird. Naphta (in den Gesichtszügen Georg Lukács nachgebildet, der sonst aber wenig mit ihm gemein hat) vereinigt nihilistische, faschistische, kommunistische, anarchistische und romantisch-rousseauistische Elemente, die Mann gewiss nicht gleichgesetzt wissen wollte, in dieser Figur aber verbindbar fand. Es geht um die Haltung. Indem Naphta Settembrini zusetzt, konfrontiert Mann den hyperhumanistischen Zivilisationsliteraten, der politisiert, ohne sich die Finger schmutzig machen zu wollen, mit der Folge seines Politisierens. Settembrini, das ist Theoretisieren als Politik ohne Politik, Naphta ist das blank Politische ohne tragende Idee. Peeperkorn und Ziemßen gehen an ihrer Einseitigkeit körperlich zugrunde, Naphta und Settembrini siechen geistig.

Tatsächlich wird der Roman nach hinten raus immer läppischer. Der trampelhafte Dummkopf Peeperkorn, der eine Persönlichkeit sein soll, der brave Ziemßen, der in einer obskuren Séance wieder erscheinen muss, der strenge Naphta, den die Gnade des Duellanten daran erinnert, dass er kein angemessen großer Feind ist, und der sich dann, von der eigenen Bedeutungslosigkeit gekränkt, selbst richtet. Der als Schwätzer entlarvte Settembrini, dem Castorp noch jovial konzediert, dass er es wenigsten gut meine, und dessen baldiger Tod von der Erzählung längst angekündigt war. Dies Läppische ist hier kein ästhetischer Makel, es trägt Bedeutung. »Der Zauberberg« zerfällt wie die Epoche, die er beschreibt.

Felix Bartels schrieb an dieser Stelle zuletzt am 7. September 2024 über das Motiv der Metamorphose in Mythos, Dichtung und Film.

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