Grün bemäntelt
Von Hansgeorg HermannZu Beginn des Juni 2024 diktierte Charalambos Koukianakis, Bürgermeister der nordkretischen Großgemeinde Apokoronas im Regierungsbezirk Chaniá, seinen Leuten in der Schreibstube des Rathauses einen Brief an den griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis in Athen. Wie später im Gemeinderat erzählt wurde, sei es dem schnauzbärtigen, hochgewachsenen ehemaligen Polizeioffizier wirklich schwergefallen, die eine Seite lange, unterschriebene und abgestempelte Epistel anschließend auch abschicken zu lassen. Koukianakis ist der rechtsnationalen Partei Nea Dimokratia (»Neue Demokratie«, ND) seit ihrer Gründung im Oktober 1974 fest verbunden. Und Mitsotakis, der Adressat, ist, wie schon sein Vater Konstantinos in den Neunzigern, nicht nur Premierminister, sondern auch Anführer der ND, sein Parteichef also. Dennoch konnte der alte Polizist diesmal nichts anderes tun, als sich zu beschweren. Hinter Koukianakis’ Klage steht gegenwärtig eine überzeugte Mehrheit der rund 12.250 Einwohner in den 23 Dörfern des Apokoronas.
Es geht in dem Brief um drei Dinge. Erstens: die Errichtung von 269 im Durchschnitt 30 bis 40 Meter hohen Strommasten zwischen der Bezirkshauptstadt Chaniá und dem Dorf Damasta nahe der kretischen Nachbarstadt Rethymnon, an denen gewaltige Hochspannungsgleichstromübertragungsleitungen, sogenannte HGÜ-Technik, aufgehängt werden sollen. Zweitens: die zu befürchtende Erweiterung des HGÜ-Kabelprojekts um den Bau eines sogenannten Windparks – die Aufstellung von voraussichtlich 48 bis zu 180 Meter hohen Windrädern auf dem mehr als 2.000 Meter hohen Kamm der Weißen Berge, der Lefka Ori, an deren Nordseite die Menschen des Apokoronas seit Jahrhunderten vor allem von Viehzucht und Olivenanbau leben. Drittens: den Bau einer mindestens vier- bis sechsspurigen Autobahn von Chaniá Richtung Osten zur kretischen Hauptstadt Heraklion, mit der die alte, zweispurige Küstenmarginale weitgehend ersetzt werden soll. Diese drei Projekte sind nach Ansicht des Widerstands, der sich seit etwa einem Jahr verstärkt gegen sie formiert, nicht unabhängig voneinander zu sehen. Sie würden, sagen die Gegner, schon durch schiere materielle Größe Dörfer, Natur und soziales Leben der Menschen in der Region stetig und unwiderruflich verändern, am Ende wohl zerstören.
»Batterie Europas«
Einfach ausgedrückt: Die Leute der Region wollen weder die Strommasten noch die Kabel und schon gar nicht die Windräder. Es geht um viel. Der Apokoronas ist eine der fruchtbarsten Landschaften Kretas. Im Nordwesten der großen Insel gelegen, verdankt die Region dem Hochgebirge Lefka Ori mit seinem alpinen Charakter und den 40 hohen Gipfeln im Winter reichlich Regen für Olivenhaine, Orangenplantagen und Viehweiden. Im Zentrum des Massivs, auf den Hochalmen, auf denen einige tausend Schafe den in leuchtendem Gelb blühenden endemischen Bergtee Malotira abgrasen, erzeugen die kretischen Schäfer den wohl schmackhaftesten Hartkäse des Landes. In der Vorgebirgslandschaft am Fuß der Lefka Ori würden die nun geplanten Masten, enorme Türme aus Stahl, mit ihren Kabeln den Strom durch 14 Dörfer tragen, über die Dächer zahlreicher traditioneller Steinhäuser hinweg, durch Schutzgebiete des EU-Umweltprojekts »Natura 2000« ebenso wie durch die schattigen Schluchten voller seltener Pflanzen. Wohin? Wer profitiert?
Der Widerstand gegen das Projekt richte sich nicht gegen Energie aus erneuerbaren Trägern und daher auch nicht grundsätzlich gegen Windräder und Solaranlagen – das zu betonen ist der Aktivistin Eleni Ravani besonders wichtig. Die studierte Philosophin und Lehrerin, die sich mit Kundgebungen und Informationsschriften einen Namen gemacht hat, ist eine der Frauen, die sich vor rund acht Monaten an die Spitze der Bewegung setzten. Es gehe vielmehr um die Frage, äußert Ravani gegenüber den Bauern und Schafzüchtern, wer in dem Milliardenspiel die Karten mischt und am Ende den Gewinn einstreicht. »Wir brauchen erneuerbare Energie«, schreiben die Organisatoren der »Bürgerintitiative Apokoronas« auf Flugblättern, »aber wir werden weder Land noch Luft noch Wasser« verkaufen, um Fabriken in Mittel- und Westeuropa oder anderswo mit Energie zu versorgen. Das HGÜ-Interkonnektorgroßprojekt »Great Sea Interconnector«, das die (supra-)staatlichen Geschäftspartner Europäische Union, Israel und Zypern zusammen mit Griechenland seit dem Wahlsieg von Mitsotakis im Juli 2019 vorantreiben, ist für Ravani und ihre Mitstreiterin Theano Eleftheraki nicht weniger als »die Fortsetzung einer seit Jahrhunderten praktizierten Ausbeutung des europäischen Südens«.
Das sehen der in seinem neoliberalen Gesellschaftsmodell verfangene Regierungschef und die entscheidenden Hintermänner in den Chefetagen der Banken und multinationalen Großunternehmen natürlich anders. Unter dem Beifall und in freudiger Erwartung der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sowie der Siemens-Bosse, um nur einige der auf Vollzug drängenden Akteure zu nennen, hatte Mitsotakis bereits im Januar 2019 verkündet, er werde in seinem Land endlich die »ökologische Transition« durchziehen, rasch und gegen alle womöglich vorgetragenen Bedenken. Sechs Monate später, Mitsotakis hatte im Juli die Parlamentswahlen gegen den als ökologischen Bremser verspotteten linken Regierungschef Alexis Tsipras gewonnen, wiederholte er als Ministerpräsident sein Versprechen an die Wirtschaft und die auf Nachricht wartenden »Finanzdienstleister«, besser bekannt unter der Bezeichnung »Hedgefonds«: Er werde Griechenland vom Agrarland zur »Batterie Europas« umformen: Umwandlung nichtelektrischer Energie in elektrische Energie, Verkauf, Transport.
Profit und Korruption
Als Baumeister des neuen, »modernen«, »energiegeladenen« Hellas trat unter anderen auf: der schon genannte Multi Siemens, der seit den 1990er Jahren allerdings wegen krummer Geschäfte mit der damaligen staatlichen Telekommunikationsgesellschaft OTE an der Ägäis schon lange nicht mehr als ein Symbol für »deutsche Kreativität, Zuverlässigkeit und ehrliches Unternehmertum« gilt, sondern vielmehr zum Synonym für Korruption, Bestechung und Schmiergeldzahlungen an hilfreiche Staatsfunktionäre und Minister abstieg. Vergangenheit? »Offenbar vergessen«, sagen Ravani und ihre Mitstreiterinnen. Zufrieden gab der Konzern in einer am 10. Juni 2020 veröffentlichten Pressemitteilung bekannt, dass seine Energy-Division die Führung eines Konsortiums zum Bau zweier Konverterstationen für den 350 Kilometer langen Attika-Kreta-Interkonnektor zwischen Kreta und dem griechischen Festland übernehmen werde. Der Auftragswert betrage 370 Millionen Euro, und kooperieren werde die Firma »in einem Konsortium« – ohne Blick zurück in vergangene, sündige Tage – »mit einem der führenden Bauunternehmen in Griechenland«.
Bei diesem »führenden Bauunternehmen« handelt es sich um das 1997 entstandene GEK-Terna-Konglomerat, in dem die zwei 1969 und 1972 gegründeten – also seit Juntazeiten agierenden – Großunternehmen GEK und Terna aufgingen. Die Gruppe trägt mittlerweile den aufschlussreichen Namen »GEK Terna Holding Real Estate Construction«. GEK Terna, die auch in Italien aktiv ist, baut seither nicht mehr nur Straßen und verlegt Abwasserrohre – sie macht jetzt einfach alles: Konstruktion, Konzession, Energie, Müllmanagement, Minenerschließung und Real Estate – Immobilien. Ihr CEO und mit 29,75 Prozent Anteilen Hauptaktionär der Holding ist der öffentlichkeitsscheue Georgios Peristeris, anscheinend einer der griechischen Wirtschaftsbosse, die dem Regierungschef jene Ideen vermitteln, die sein neoliberales politisches Programm tragen. Die Sache mit der »Batterie« beispielsweise.
Einen Monat vor der richtungsweisenden Parlamentswahl im Juli 2019 zitierte das Wirtschaftsportal Insider den GEK-Terna-Boss mit den folgenden Worten: »Griechenland braucht Investitionen, die das Land zur ›Batterie Europas‹ machen (werden). Als wir vor 25 Jahren anfingen, über das Projekt nachzudenken, haben sie uns Spinner genannt. Heute spricht die ganze Welt über die ›Revolution der sauberen Energie‹ – wir haben es geschafft, innerhalb und außerhalb Griechenlands Protagonisten der Wende auf dem risikoreichen internationalen Energiemarkt zu sein.« Kreta sei einst vor allem als weltweiter Lieferant für den besten Honig bekannt gewesen, entgegnet Ravani, einer der Gründe, warum die Venezianer vor 800 Jahren die Insel erobert hätten, zu einer Zeit, als es noch keinen Rüben- oder Rohrzucker gab.
Greenwashing
Als Griechenland vor 15 Jahren von Politikern und Banken in die Finanzkrise getrieben wurde, versank das Land unter den Hammerschlägen der von Brüssel verordneten Austeritätspolitik in Beschäftigungslosigkeit und Armut. Bis zu 60 Prozent der Menschen zwischen 18 und 30 Jahren fanden keinen Job, im Zeitraum von zehn Jahren verließen rund 600.000 junge Frauen und Männer ihre Heimat. Viele, die zu Hause in ihren Dörfern blieben, fanden gezwungenermaßen zurück zur Arbeit ihrer Väter und Großväter in den Olivenhainen. Andere wurden Imker. Ein Beruf, der allein in der Gemeinde Apokoronas inzwischen rund 50 meist junge Kreter und ihre Familien ernähren hilft. Eine Beschäftigung, die sie durch das Strommasten- und Windenergieprojekt aufs schwerste gefährdet sehen. »In den von Windrädern erzeugten Luftwirbeln verlieren die Bienen ihre Orientierung, und wir verlieren sie«, klagt der Bienenzüchter Ioannis Nikoloudis, der sich bei seinen Kollegen im Osten der Insel erkundigte, wo sich auf den Bergkämmen bereits einige hundert gigantische Propeller drehen.
Die GEK Terna wisse das auch, sagt Nikoloudis, und es sei deshalb für ihn und seine Freunde im Widerstand klar, dass es sich beim Interkonnektor vorrangig um ein kapitalistisches Projekt handele und der Bau der Masten und Windräder eben nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein gesellschaftliches Problem sei. Was aus Athen an Nachrichten und Versprechen die Bergdörfer des Apokoronas und der Nachbargemeinde Sfakiá erreiche, sei wohl das, was internationale Nichtregierungsorganisationen, die sich um den Umweltschutz kümmern, seit geraumer Zeit als »Greenwashing« bezeichneten. Falschinformationen also, deren ganzer Sinn darin liegt, den eigentlichen Charakter gewisser Projekte »naturgrün« zu bemänteln oder ganz zu verbergen. Wer sich frage, wer bei der GEK Terna außer dem Chef Peristeris sonst noch die Fäden ziehe, werde schnell auf die zu erwartende Antwort stoßen. Mit Latsco ist bei dem »führenden Bauunternehmen« in der Tat auch ein enger Spezi des Ministerpräsidenten im Geschäft: Spiros Latsis, Erdöl- und Immobilienmogul, über den erzählt wird, er sei der erste Gast in der Villa Maximos gewesen, dem traditionellen Sitz des griechischen Premiers, als Mitsotakis die Wahl gewonnen hatte.
Der Milliardär mit Zweitwohnsitz in der Schweiz gilt als reichster Mann Griechenlands und hatte in der Vergangenheit, wenn es um die Privatisierung von Volksbesitz ging, fast immer seine Hände im Spiel. Nach Latsis’ Inbesitznahme des alten Athener Flughafens Elliniko zum Schnäppchenpreis fürchten die Aktivisten des Widerstands im Apokoronas, es könnte sich nun auch zu Hause auf Kreta wiederholen, was Costis Hadjimichalis, emeritierter Professor für Ökonomische Geographie, seit einem knappen Jahrzehnt als »Landraub« bezeichnet: die von Regierungsseite erzwungene Veräußerung staatlichen oder bäuerlichen Grundbesitzes zugunsten rein profitorientierter, kapitalistischer Investitionsprojekte. Durchgesetzt, falls erforderlich, mit dem Knüppel uniformierter Ordnungskräfte. So wie schon vor drei Jahren in der zentralgriechischen Gemeinde Agrafa, wo schwerbewaffnete Polizei den Widerstand gegen den Bau riesiger Windräder auseinandertrieb. Auch dort sollten 530 bis zu 150 Meter hohe Masten aufgerichtet werden, auch dort mitten in einer »Natura 2000«-Schutzzone. Begonnen wurde damit schon.
16.000 Eingaben
In Agrafa baut ein heimischer Konkurrent der GEK Terna, die Konstruktionsfirma Ellaktor. Zu deren Aktionären gehört die holländische Milliardärsfamilie Wessels, die mit ihrer Investmentgruppe Reggeborgh 46,16 Prozent der Anteile hält, aber auch die milliardenschwere griechische Familie Vardinogiannis mit ihrem Unternehmen Motor Oil Hellas. Patriarch Vardis Vardinogiannis hatte in den Jahren 1966 und 1967, bevor er als honoriger ND-Abgeordneter das griechische Parlament bereicherte, sein finanzielles Heil als Blockadebrecher während des von den Briten gegen ihre alte Kolonie Rhodesien verhängten Erdölembargos gesucht. Und gefunden. Der Armut des kretischen Bergdorfes Agios Ioannis in der Region Sfakiá entronnen, zählen die Vardinogiannis, neben den Latsis und Mitsotakis, heute zu den reichsten und einflussreichsten Familien des Landes. Und ebenso zu den entschiedensten Gegnern der politischen Linken. Vardis, dem »Piraten« der 1960er Jahre, der 1966 mit seinem Öltanker »Ioanna V« nach Afrika aufbrach, um das Apartheidregime des Ian Smith mit dem wichtigsten Schmierstoff der industriellen Welt zu versorgen, hafte bis heute ein Duft von »Mafia« an, hatten 2015 verschiedene, nicht öffentlich beim Namen genannte Minister der von Vardis scharf bekämpften Regierung Tsipras sinniert.
Was ihren Landsleuten in Agrafa angetan wurde, könnte – mit Blick auf die dortigen Ellaktor-Bauherren – in naher Zukunft auch ihnen im Apokoronas passieren, vermuten Ravani und Eleftheraki. Obwohl der Regierung 16.000 Eingaben gegen das Projekt in Agrafa vorlagen, habe Athen den Grund und Boden für die gewaltigen Betonfundamente, für die riesigen Zufahrtsstraßen und Deponien den beauftragten Firmen praktisch geschenkt. »Das ist Teil des Systems, in dem wir hier leben«, sagte Ravani im Sommer einer Handvoll Schäfer in dem Dorf Karés – einem Nest, umgeben von den steilen Felstürmen des Vorgebirges der Lefka Ori, das die Kreter »Riza« nennen – die »Wurzeln«. Das Wort, das auch auf den Flaschenetiketten des dort oben erzeugten schweren Rotweins prangt, oder die Lieder der heimischen Sänger und Lyraspieler beschreibt, die »Rizitika«, bezeichnet nicht nur die Landschaft selbst, sondern vielmehr seine gesamte Kultur.
Geflüchtet habe sich diese Kultur vor Massentourismus, Facebook und der Landnahme der Immobilienhaie in eben solche Dörfer wie Karés, erklären Ravani und ihre Mitstreiterinnen. Die Bauern, die ihr im Sommer in ihrem Kafenion zuhören, das ungefähr so groß ist wie das Wohnzimmer eines Reihenhauses, nicken. Sie sitzen auf Stühlen, die sie selbst aus Holzresten zusammengezimmert haben, auf der schrägen Tischplatte steht eine Flasche Raki nebst ein paar Gläsern, und der schwarzbärtige Hirte Georgios Politsakis verspricht sich selbst und seinen wortkargen Nachbarn, dass er zum Gewehr greifen werde, wenn das Dorf und die stillen Wälder gegen das aus der Ebene heraufziehende, lärmende Kapital nicht anders zu verteidigen seien.
Alles für den Markt
Was die Regierung nicht erwähne, sei zum Beispiel die enorm erhöhte Waldbrandgefahr – nicht nur während der Bauarbeiten, sondern vor allem durch die Risikotechnik selbst: die mitten durch eine über Monate hinweg knochentrockene Naturlandschaft geführten Hochspannungskabel. Eine Wahrheit, die seit Jahrzehnten jeder Grieche kenne. Und noch »etwas anderes, weniger Offensichtliches, aber weitaus Gefährlicheres« breiten die Frauen in Karés aus: »Wir haben es jetzt schon mit Betrügern und Lügnern zu tun«, sagt Penelope Ginis, »wir verlieren die Kontrolle über unsere einfachsten, wichtigsten Lebensgrundlagen – über Wasser, Energie, Luft, Transport. Alles wird an private Eigner abgegeben, Strom, Wasser, alles wird teurer werden, denn nicht mehr wir oder die von uns gewählten Abgeordneten werden den Preis bestimmen, sondern der Markt! Schon jetzt fahren die Busse nicht länger durch die Dörfer, gibt es keine Schulen, Kindergärten und Postämter mehr. Und die Elektrokabel verlegen sie nicht für uns, sondern für den Markt.«
Keiner der gewaltigen Strommasten soll in Kreta an Land gehen, haben die Frauen und ihre männlichen Zuhörer in Karés beschlossen. Man werde das Löschen des Materials verhindern, sollte irgendein geheimer Schiffstransport eines Nachts von Athen aus Kurs auf Chaniá und den Hafen Souda nehmen. »Wir alle, mit unserem Protest und unserer physischen Anwesenheit«, sagt Ginis, »wir dürfen nicht warten, bis die Pläne genehmigt sind, weil sie schon vorher anfangen werden, Trassen in die Berge zu schlagen und Fundamente auszuheben.«
Ginis ist, wie Ravani, nicht nur studierte Philosophin, sie hat ihren Lebensunterhalt jahrelang als Führerin im Berg- und Wandertourismus bestritten. Im Gegensatz zum Massentourismus an den Stränden hat diese umweltschonende Variante des Fremdenverkehrs wertvolle Beschäftigungsangebote bis hinauf in die Bergdörfer der Sfakiá und des Apokoronas getragen. Die in den bescheidenen kleinen Hotels, Zimmervermietungen und Tavernen oder Kaffeehäusern erzielten Gewinne bleiben im Dorf. Sie fließen nicht ab zu den deutschen, französischen oder britischen Organisatoren des Massenspektakels am Meer, sondern helfen den jungen Einheimischen, sich zu Hause eine kleine Existenz aufzubauen. Ungeheure Mengen Energie, elektrischen Strom, verbrauchen vor allem die gewaltigen Hotelanlagen, die in den vergangenen 20 Jahren auch im Apokoronas gebaut wurden. Ohne Rücksicht auf den zu erwartenden hohen Wasser- und Stromverbrauch, ohne Infrastruktur, die den wachsenden Müllberg beiseite schaffen könnte, ohne Kanalisation und Kläranlagen tobt am Strand inzwischen ein Tourismus, dem auch die engen Freunde der Familie des Regierungschefs, die berüchtigten »Koumbari« (Vettern), auf die tönernen Beine geholfen haben.
»Die sind es«, sagt Ravani, »die jeden Tag mehr und noch mehr Energie brauchen. Vor allem aber unsere nördlichen und westlichen Nachbarn in Europa, für die Siemens zwei Konverterstationen im Süden von Athen bauen wird und für die 350 Kilometer lange Unterwasserkabel verlegt werden müssen, damit der voraussichtlich in unseren Bergregionen erzeugte Strom über eine Nebenleitung des Interkonnektors zunächst nach Damasta und von dort aufs Festland transportiert werden kann.« Zu beantworten wäre freilich die Frage, warum Griechenland bis heute auf völlig veraltete, mit fossilen Brennstoffen betriebene Heizkraftwerke baue. »Weil das auch die sogenannten Industrieländer gemacht und uns diese Technik verkauft haben, so wie sie es jetzt mit dem 1.250 Kilometer langen Interkonnektor tun, der mindestens zwei Milliarden Euro kosten wird und für den wir einen Teil unserer wertvollsten Natur opfern sollen. Was wir nicht freiwillig tun werden.«
Der Widerstand, den die Frauen des Apokoronas organisieren und anführen, sei sich sicher, dass neuere, umweltfreundlichere Techniken die Windräder in einer nicht allzu fernen Zukunft ohnehin hinfällig machen werden. Man setzte daher einstweilen auf »kleine, lokale Einheiten, mit der unsere eigene, die Energieversorgung Kretas also, sichergestellt werden könnte und die wir selbst kontrollieren können. Sie müssten unserer Natur und Kultur schonend angepasst werden«, fordert Eleni Ravani – und hält abschließend fest: »Das ist es, was das Kapital, die sogenannten Investoren, was Mitsotakis, Latsis und Siemens nicht wollen. Wir selbst, die Bauern und Schäfer, die Menschen des Apokoronas, werden versuchen, es durchzusetzen.«
Hansgeorg Hermann schrieb an dieser Stelle zuletzt am 9. April 2024 über das elitäre Bildungssystem Frankreichs.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Olaf M. aus München (30. Oktober 2024 um 09:36 Uhr)Der Protestbewegung gegen die Zerstörung ihrer schönen Landschaft ist viel Glück und Erfolg zu wünschen! Sicherlich würde die Schärfe ihres Protests noch wachsen, wenn die Problematik der Stromerzeugung mittels Windkraft grundsätzlicher angesprochen würde, statt eines »im Prinzip schon OK, aber nicht gerade in unserer Region«. Dass es da genug zu sagen gäbe, liegt auf der Hand. Neben der grundsätzlichen Fragwürdigkeit der Umstellung der Stromerzeugung auf sogenannte »erneuerbare« Energieformen, ist es bei der Windenergie vor allem auch die Gefährdung der Gesundheit von Mensch und Tier. Es kann als erwiesen gelten, dass der durch die Windkraftanlagen hervorgerufene Infraschall bis ins weitere Umland erhebliche gesundheitliche Störungen wie Stresssymptome, Kreislauferkrankungen und Schlafstörungen hervorruft. Wer weiß, ob die erwähnte Beeinträchtigung des Bienenflugs im Ostteil von Kreta nicht auch damit zu tun hat? Zudem stoßen diese monströsen Anlagen bereits im Normalbetrieb fortwährend asbestartige Mikrofasern ab, die die Atemwege bedrohen. Die Faserbelastung ist natürlich bei Havarien, die regelmäßig auftreten, noch deutlich verstärkt. Neben Gesundheitsgefahren bedrohen die Windkraftanlagen auch das lokale Klima, schließlich führt die Entnahme von kinetischer Energie aus der Luft zu einem trockeneren und wärmeren Mikroklima. Das kann für Kreta kaum wünschenswert sein. Es führt eben nichts an der fortgesetzten Nutzung fossiler Energieträger und dem Ausbau der Kernenergie vorbei, was beides entgegen dem Geplärre fehlgeleiteter Aktivisten nicht zum Weltuntergang führen würde.
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