Politisches Erdbeben in Tokio
Von Igor Kusar, TokioBei den Wahlen vom Sonntag zum japanischen Unterhaus ist das politische Erdbeben, das sich in den vergangenen Tagen abgezeichnet hatte, eingetreten: Die konservative Dauerregierungspartei, die Liberaldemokratische Partei (LDP), hat die Mehrheit nicht nur verloren, sondern sie auch zusammen mit Juniorpartner Komeito nicht erreicht. Die Regierungskoalition gewinnt von 465 Sitzen bloß 215, ein Minus von 64 Mandaten. Damit verliert die LDP ihre Mehrheit zum ersten Mal, seit der ehemalige Premierminister Abe Shinzō die Partei 2012 zum Sieg geführt hatte. Die klaren Wahlsiege Abes in den zehner Jahren haben die Partei zu unvorsichtig werden lassen. Korruption begann zu grassieren, die zu unzähligen Skandalen führte. Die Quittung bekam die Partei bei diesen Wahlen. Noch ist unklar, inwieweit das Ergebnis eine Zeitenwende bedeutet. Auf jeden Fall ist es mit der Stabilität in der japanischen Politik erstmals vorbei.
Gewinnerinnen der Wahlen sind die beiden Mitteparteien, die Konstitutionell-Demokratische Partei (KDP) und die Demokratische Volkspartei (DVP). Großes Wahlkampfthema war der Spendenskandal um schwarze Kassen, den die LDP immer noch nicht gründlich aufgearbeitet hat. Um ihren guten Willen kundzutun, schlug die Partei nach einigem Zögern eine härtere Gangart ein. Zwölf der fast 50 involvierten Unterhausabgeordneten wurde der offizielle Wahlvorschlag entzogen, sie mussten als Unabhängige kandidieren. Einige von ihnen nahmen ihre Kandidatur schließlich ganz zurück. Die Rechnung der LDP schien in den ersten Tagen des Wahlkampfs aufzugehen, Prognosen bescheinigten ihr einen knappen Sieg. Doch vor rund einer Woche kippte die Stimmung, die LDP erschien zu unglaubwürdig. Den Todesstoß versetzte ihr die Nachricht, die Unabhängigen hätten – entgegen der Ankündigung der Partei – genau so viele Wahlkampfgelder erhalten wie offizielle Kandidaten. Dies brachte das Fass zum Überlaufen.
Mitverantwortlich für das Debakel ist aber auch der neue Premierminister Ishiba Shigeru. Er wurde vor einem Monat als Hoffnungsträger an die Spitze der LDP gewählt. Damals zeigten Umfragen stets, dass er in der Bevölkerung wegen seiner Außenseiterrolle in der Partei beliebt sei. Obwohl er in Sachen Aufrüstung eher ein Hardliner ist, erschien vieles, was er bei seiner Bewerbung für den Parteivorsitz sagte, sinnvoll, vor allem seine Vision von einem gerechteren Japan. Doch nach seinem innerparteilichen Wahlsieg schienen seine Versprechungen plötzlich wie weggewischt. Exemplarisch dafür steht der Wahltermin, den Ishiba ursprünglich auf die Zeit nach einer gründlichen Parlamentsdebatte mit der Opposition legen wollte. Doch seine Parteikollegen überredeten ihn, den Termin vorzuziehen. Andere Ungereimtheiten folgten. Dadurch verlor er in der Bevölkerung viel Glaubwürdigkeit, seine Popularitätswerte sanken. Die Japaner hatten den Eindruck, dass auch Ishiba die LDP nicht ändern könne.
Dabei bleiben die Liberaldemokraten tief gespalten. Ishiba kämpft intern gegen den rechtskonservativen Flügel, dem einst Abe vorstand. Er hat bei den Wahlen viel von seiner Macht verloren. Dies hat Ishibas Position etwas gestärkt. Trotzdem steht er in der Partei jetzt wegen der Wahlniederlage in der Kritik. Kommenden Sommer sind Oberhauswahlen, die LDP könnte versuchen, ihn zuvor loszuwerden, um einem neuen Gesicht eine Chance zu geben. Falls Ishiba die nächsten Tage übersteht, wird er wohl Koalitionsverhandlungen mit einer der jetzigen Oppositionsparteien führen. Allerdings haben diese einen Koalitionsbeitritt bisher abgelehnt. In diesem Fall könnte Ishiba versuchen, eine Minderheitsregierung zu bilden und bei Gesetzesabstimmungen jeweils mit einer Oppositionspartei zu paktieren. Theoretisch wäre auch ein Machtwechsel möglich unter Führung des neuen KDP-Chefs Noda Yoshihiko. Dieser bräuchte dafür aber die Unterstützung fast aller Oppositionsparteien. Viele Beobachter halten dieses Szenario für unwahrscheinlich. Jedenfalls wird Ishiba – falls er an der Macht bleibt – in naher Zukunft viel Mühe haben, sein politisches Programm umzusetzen.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Ähnliche:
- 09.07.2024
Amtsinhaberin setzt sich durch
- 09.03.2024
13 Jahre danach
- 05.03.2024
Kandidat des Kapitals
Regio:
Mehr aus: Ausland
-
Verbot von UNRWA steht bevor
vom 29.10.2024 -
»Ortega ist in Nicaragua hoch angesehen«
vom 29.10.2024 -
Regime-Change kommt in Gang
vom 29.10.2024 -
Stichwahl in Uruguay
vom 29.10.2024 -
Kampf um Souveränität
vom 29.10.2024 -
Petro hatte recht
vom 29.10.2024