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Aus: Ausgabe vom 29.10.2024, Seite 10 / Feuilleton
Nachruf

Der Stachel in der Seite

Zum Tod des Befreiungstheologen Gustavo Gutiérrez OP
Von Christian Stappenbeck und Peter Merg
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»Wie soll ich dem Armen (…) sagen, dass Gott ihn liebt?« – Gustavo Gutiérrez

Arzt wollte der junge Gustavo Gutiérrez werden, doch er musste lernen, dass es noch größere Geißeln der Menschen zu heilen gilt als Krankheiten. Der katholische Geistliche aus Peru, der als Professor für Theologie und Sozialwissenschaften in Lima lehrte und dabei die Elendsviertel seiner Heimatstadt im Blick hatte (Bibelauslegung aus der Sicht der Armen), gehört zusammen mit seinen lateinamerikanischen Amtsbrüdern Leonardo Boff, Frei Betto und Ernesto Cardenal zu den prägenden Vätern der Theologie der Befreiung. »Teología de la liberación« hieß auch ein Buch von Gutiérrez, das 1971 erschien, weltweit in allerlei Sprachen gelesen wurde und dessen Wirkung den beiden reaktionären Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI., die 35 lange Jahre regierten, »ein Dorn in ihren Augen und ein Stachel in ihrer Seite« (4. Mose 33,55) war.

Kein Wunder, betonte Gutiérrez doch, dass ernsthafte Theologie mit solchen Fragen zu beginnen habe, die die Armen der Welt stellten, also diejenigen, die »ohne eine Geschichte« sind. Die Erlösung von der Ausbeutung sei eine diesseitige Aufgabe der Kirche. Es gelte nicht, die Armut zu idealisieren, sondern sie als reales »Böses« zu bekämpfen und zu beseitigen, da sie nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine spirituelle Dimension habe. Dabei scheute er marxistische Begriffe nicht, sprach von »Revolution« und »Sozialismus«. Die Nächstenliebe, um die seine Überlegungen kreisten, verstand er radikal. Noch als er später in den USA lehrte, kehrte er jährlich für sechs Monate nach Lima zurück, um unter den Armen der Stadt zu wirken.

Gutiérrez verstand sich nicht als Begründer, eher als Sprachrohr einer neuen Bewegung. Diese war in den 1960er Jahren etwa gleichzeitig mit der Kubanischen Revolution aufgetreten, in Form von selbstorganisierten Basisgemeinden zuerst in Brasilien. Die landlosen Bauern (campesinos) und Slumbewohner bezogen viele biblische Texte direkt auf ihre Situation. »Er stürzt die Mächtigen vom Thron / und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben / und lässt die Reichen leer ausgehen.« (Lukas 1,52–53) Das wurde als »Frohe Botschaft« (evangelion) verstanden. Die »Option für die Armen« fand vor allem in Lateinamerika viele Anhänger und prägte die zweite Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats 1968 im kolumbianischen Medellín. Die katholische Hierarchie stand aber großenteils an der Seite der Mächtigen und bekämpfte die Bewegung theologisch und disziplinarisch.

Frei Betto, Dominikaner wie Gutiérrez und ein Gesprächspartner Fidel Castros, sagte über die Maßregelungen durch Papst und Glaubenskongregation, die damals von Joseph Ratzinger geleitet wurde: Das sei doch normal, auch Jesus und die Propheten hätten Verfolgung erfahren. Von den Kirchenoberen mussten sich die Theologen der Befreiung vorwerfen lassen, sie verträten marxistische Theorien »in christlicher Verhüllung«, riefen zum Umsturz auf und verführten die Gläubigen. Ein Dorn im Auge war westlichen Politikern auch, dass sich Gutiérrez mit der Prager Christlichen Friedenskonferenz (CFK) einließ, die Aufrüstung und Weltarmut im Zusammenhang sah.

Sein Vorbild war Bartolomé de Las Casas (1484–1566), der Dominikanerpater, der vor 500 Jahren für die Würde der indigenen Völker Mittelamerikas eintrat. Als spanischer Feldkaplan und Kolonist war Bartolomé in die »Neue Welt« gekommen. In seiner Bibel stieß der Prediger auf folgenden Satz: »Der Arme hat nichts zum Leben als ein wenig Brot; wer ihn darum bringt, ist ein Mörder. Wer seinem Nächsten die Nahrung nimmt, der tötet ihn. Wer dem Arbeiter seinen Lohn nicht gibt, der ist ein Bluthund« (Jesus Sirach 34, 21–22) – und er änderte als Ordensbruder sein Leben. Dem selben Orden der Dominikaner (Ordo Praedicatorum, OP) trat auch Gustavo Gutiérrez in seinem 70. Lebensjahr bei. Vorher schon leitete er das Las-Casas-Institut in Lima.

Der in Berlin wirkende evangelische Theologe Hanfried Müller, mit Gutiérrez fast gleichaltrig und im Politischen weitgehend einig und solidarisch, warnte jedoch seit dem Erscheinen der »Theologie der Befreiung« vor einer unguten Vermischung der Ebenen durch bestimmte »Theologien des Genitivs«, durch politische Theologien. Die Reformation der mittels Privilegien korrumpierten Kirche sei gewiss notwendig, aber etwas anderes als das Eintreten von Christen für humanere politische Strukturen. Die Herstellung gerechter gesellschaftlicher Ordnung, zu der alle Menschen berufen sind, »bedarf keiner besonderen theologischen Reflexion oder Weihe«, schrieb er 1978.

Heute ist die revolutionäre Spitze der Befreiungstheologie abgestumpft, zu hart wurde die Bewegung bekämpft, aus Rom wie aus Washington. Heute inszeniert sich selbst ein irrlichternder Reaktionär wie der Deutsche Gerhard Ludwig Kardinal Müller, 2012 bis 2017 Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre und erbitterter Gegner des vergleichsweise freundlichen Papstes Franziskus, als Gutiérrez’ fleißiger Schüler. Doch noch immer vermag dessen Befreiungstheologie anzustacheln, Dorn zu sein. So berichtete der kamerunische Historiker und Philosoph Achille Mbembe 2018 im Gespräch mit jW, wie er als Student in der Bibliothek der dominikanischen Ordenspriester in Yaoundé arbeitete: »Ich fand ein Buch von Gustavo Gutiérrez mit dem Titel ›Theologie der Befreiung‹. Es war sehr erhellend für mich, und ich kam zu dem Schluss, dass das Christentum unter bestimmten Bedingungen nicht notwendigerweise Opium für die Massen sein muss, sondern eine sehr mächtige Ressource des Widerstandes sein kann, besonders für die Armen.«

»Ein großer Mann, ein Mann der Kirche«, würdigte der argentinische Papst Franziskus den Verstorbenen. Gustavo Gutiérrez-Merino Díaz OP, gestorben am 22. Oktober 2024 im Alter von 96 Jahren, war noch mehr: ein Anwalt der unterdrückten Klassen seines Kontinents, ein Ankläger ihrer ­Ausbeuter.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Carsten H. aus Rostock (28. Oktober 2024 um 21:59 Uhr)
    Ich möchte am Beispiel von der ökumenischen Organisation Fundalatin in Venezuela den Beweis erbringen, dass nunmehr seit über 46 Jahren die Befreiungstheologie in Venezuela lebt. Es ist die erste Menschenrechtsorganisation in Venezuela, die 1968 mit dem Ziel gegründet wurde, politische Flüchtlinge zu unterstützen, die von den Diktaturen des Südkegels, Chile, Argentinien und Uruguay vertrieben wurden und in Venezuela Zuflucht suchten. Fundalatin wurde von dem spanischen Priester Pater Juan Vives Suria gegründet, der sein Amt als Präsident der Caritas aufgrund eines Konflikts mit der Kirchenhierarchie Conferencia Episcopa niederlegte, zusammen mit meist weltlichen chilenischen Exilanten, die vor der Pinochet-Diktatur flohen. Ziel war es erstens, einen Raum für die Flüchtlinge zu schaffen, in dem ihre Würde respektiert wird, und zweitens die Menschen aus der Perspektive der Befreiungstheologie zu Menschenrechten zu erziehen. Fundalatin wurde wirklich als ökumenische Organisation mit verschiedenen christlich-religiösen Tendenzen gegründet, darunter lutherische, evangelische, presbyterianische und katholische. Fundalatin hat sich seit jeher von der Befreiungstheologie leiten lassen und ist als solche immer offen für alles, was Leben schafft und eine Kultur der Gerechtigkeit und des Friedens fördert. Die vermittelten Werte »Wenn du Frieden willst, arbeite für Gerechtigkeit« werden täglich gelebt. Es war nur eine Frage der Zeit, dass Fundalatin und der GeFiS sich gefunden haben. Das war auch Dank der venezolanischen Persönlichkeit Carmen Navas im Juni 2021 möglich. Mit unserem gemeinsamen Anliegen Frieden durch Gerechtigkeit aufzubauen ist die kontinuierliche Arbeit, die wir als GeFiS mit Fundalatin und hier mit ihrer Präsidentin Eugenia Russian, dem Institut Simon Bolivar (ISB) und dem Komitee für internationale Solidarität und Frieden (COSI) mit dem Präsidenten Dr. Carolus Wimmer ein leistungsstarkes Bündnis entstanden, deren Zusammenarbeit sich täglich bewährt hat.

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