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Aus: Ausgabe vom 29.10.2024, Seite 11 / Feuilleton
Theater

Willkommen im Fegefeuer

»Toto oder Vielen Dank für das Leben«: Regisseur Ersan Mondtag gibt sein Debüt am Wiener Burgtheater mit Sibylle Berg
Von Eileen Heerdegen
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Der Ort, an dem die Hoffnung geht: Toto im Tränenpalast

»Man kann alle Möglichkeiten betrauern, die man nie gehabt hat, oder sich daran freuen, dass man kurz aufgetaucht ist aus der großen Dunkelheit der Unendlichkeit, die sonst immer herrscht, vor der Geburt und nach dem Tod, ein kurzer Moment Licht, das ist doch viel, und Milliarden, Trilliarden Eizellen war nicht einmal das vergönnt.«

Ein schüchternes Leben traut sich vorsichtig vor den Bühnenvorhang. Dünne Beinchen in roten Kleinmädchenschuhen unter einem rosa Neopren-Brummkreiselkörper, oben ein kahler, kleiner Kopf. Wie ein laufendes Ei von Hieronymus Bosch. Das Ei beginnt zu singen, ein zartes Lied. Das Ei wird verspottet, ausgelacht, laut ausgelacht. Immer lauter. Dröhnend. Das ist traurig, verstörend, beklemmend, doch die junge Frau neben mir lacht begeistert mit, auch einige andere fallen durch die Empathiekontrolle.

Nicht jeder zerbricht leise

Das Ei ist Toto, berührend gespielt von Maria Happel, und wird gleich auf die Welt kommen, im nebligen Dunkel, einem Gebäude wie ein transsilvanischer Disney-Alptraum, die Leuchtschrift weist es als Klinik aus, hinein in ein kaltes, graues DDR-1966. Ein Kind mit unbekanntem Vater und unbekanntem Geschlecht, ein »Ding«, Toto weiß, »verloren bin ich sowieso« und wird in ein Heim abgeschoben. »Willkommen hier im Fegefeuer / Dem Ort, an dem die Hoffnung geht / Willkommen im Palast der Tränen: Hier leben die, die keiner will.«

Die in Weimar geborene, in der Schweiz lebende Schriftstellerin Sibylle Berg, seit der letzten Wahl auch für »Die Partei« Abgeordnete im Europäischen Parlament, ist nicht gerade für »Feel good«-Literatur bekannt. Oder vielleicht doch – ein gutes Gefühl für jene, die nach Gerechtigkeit suchen, eine kluge, witzige, ausdrucksstarke Verbündete für alle, die den kurzen Moment Licht nutzen wollen.

Aber auch eine, die Mut hat, den Schmerz, den die kurze Lebensreise mit sich bringt, zuzulassen. Mit Toto hat sie einen »reinen Tor« erschaffen, einen dostojewskischen Idioten, einen non-binären Parsifal. Denn nur die Empathie kann uns retten, behauptet die Sage, nur ist die grad überhaupt nicht en vogue. Anders sein wird ausgelacht, und nicht jeder zerbricht so leise wie Toto. Gerade wurde in Graz ein 14jähriges Mädchen zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt. Muslima, mit sechs aus Montenegro gekommen, ausgegrenzt, ausgelacht und beleidigt, schließlich spielte sie mit zwölf zwei Jahre lang in einer virtuellen Parallelwelt IS-Anhängerin. Die überwiegende Zeit als strafunmündiges Kind, trotzdem bekommt so eine bei uns natürlich keine (zweite?) ­Chance.

Eine Chance gibt es auch für Toto nicht, nach Kinderheim und einem klitzekleinen Moment unbekannter Nähe zum Mitinsassen Kasimir, mit dem er später noch einmal unglücklich sein wird, geht’s zu debilen Alkoholikern aufs Land. Als die Lieblingskuh getötet wird, entdeckt er die Kraft des Gesangs, und ich frage mich, was die beliebten »Hausschlachtungen« in Kinderseelen anrichten – der Musiker Franz Wenzl sagte in einem Interview, »Sauabstechen, das ist FSK 25«.

Sibylle Berg hat die Bühnenfassung ihres Romans »Vielen Dank für das Leben« für die Uraufführung am 24. Oktober am Wiener Burgtheater selbst geschrieben, dazu Liedtexte, Beni Brachtel ist für Komposition und musikalische Leitung verantwortlich. Regisseur und Bühnenbildner Ersan Mondtag bringt mit seinen zwei Hauptdarstellern, Maria Happel und Bruno Cathomas (Kasimir und Erzähler), weiteren acht Schauspielern, Komparsen und einem zehnköpfigen Live­orchester (allesamt hervorragend) eine tragische Revue auf die Bühne. Irgendwo zwischen Brecht/Weill und Gruselmusical.

Da war es leer

Weniger Brecht und mehr Musical gibt es nach der Pause, die Handlung hat uns nach Hamburg geführt, in der nur äußerlich bunten »Welt der Leistung«: »Da gab es keine verschworene Gemeinschaft der Gedemütigten, nichts vom Zusammenhalt der Arbeiterklasse. Der Höhepunkt der Solidarität war: das jährliche Firmenfest.« Das neonweiße KLINIK ist jetzt neonrotes KINK, Toto singt, eine Witzfigur. »Du lachst dich tot. Da, siehst du, was ist das denn, ein Transvestit? Pass auf, bis er anfängt zu quäken, das hast du noch nicht gehört, so was. Und dann kriegten sie sich nicht mehr ein vor Lachen. Keiner der Idioten im Raum wusste zu schätzen, was da passierte. Sie spielten mit ihren Blackberrys. Sie starrten in sich. Da war es leer.«

Autorin und Regisseur gelingt es dank Bergs zynischer Sprache, den vordergründig lustigen Einlagen, den schrägen Kostümen (Teresa Vergho) den Kitsch aus der todtraurigen ­Story, der Angst, wieder ins Dunkel zu müssen, zu verbannen. Es gibt einige Längen, aber auch viel Aufregendes. »Es war der letzte Augenblick einer Kunst, die mit Leidenschaft, Wahnsinn und der Suche nach Erhabenheit zu tun hatte. Es war der letzte Augenblick, in dem Kunst noch etwas Subversives war, das wenigstens scheinbar den Kampf gegen den Kapitalismus aufnahm.«

»Doch eine gute Zeit brach an. Das Gerücht, dass nur Kakerlaken atomare Katastrophen überleben können, galt es zu revidieren. Degeneriert mögen sie sein, von Tumoren zersetzt, doch die sterben nicht aus, die gewöhnen sich an alles. Die Menschen.«

Nächste Vorstellungen: 30. Oktober, 1. und 6. November

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