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Aus: Ausgabe vom 29.11.2024, Seite 12 / Thema
Oper

Skandalös wirkungsvoll

Der vor hundert Jahren gestorbene Komponist Giacomo Puccini war ein Meister der Form. Mühelos gelang ihm, fremde Stile aufzunehmen. Für Gesellschaftskritik eignen sich seine Werke aber nicht
Von Kai Köhler
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Die Sängerin Floria Tosca tötet den Polizeichef Scarpia. »Tosca«-Aufführung in Beijing (11.5.2011)

Giacomo Puccinis Tod markiert einen Einschnitt in der Geschichte der Oper. Gewiss entstanden auch in den hundert Jahren seither bedeutende Werke, die eine intensive Beschäftigung lohnen. Das Opernpublikum heute weltweit ist vermutlich zahlreicher denn je zuvor, rechnet man alle Medien ein, über die sich die Werke und Inszenierungen verbreiten. Aber die Gattung steht nicht mehr im Brennpunkt des öffentlichen Interesses. Die Premiere des neuen Werks auch eines wichtigen Komponisten wird nicht schon Wochen zuvor mit großer Spannung erwartet. Im Parkett und auf den Rängen versammeln sich nicht mehr Gegner und Anhänger, um lautstark gegeneinander zu kämpfen, und zwar durchaus schon vor dem Ende der Aufführung. Der Bericht, wie es denn war, schafft es nicht mehr auf die Titelseite der Zeitungen. Kurz: Die Gattung Oper wird gepflegt, aber nur als eine unter vielen im Kulturbetrieb, und keinesfalls als die wichtigste. Und die Zeiten leidenschaftlichen ästhetischen Streits sind lange vorüber.

Als die Musik komplexer wurde, haben sich Untergattungen abgespalten. Zuerst war es die Operette, die heute aber nur noch ein Schattendasein fristet und kaum mehr Neues hervorbringt. Es folgte das Musical; die meisten der vielen Spielstätten, die vor etwa dreißig Jahren in der Hoffnung auf Kulturtourismus hochgezogen wurden, erwiesen sich als nicht profitabel und sind nun verwaist.

Dagegen sind von Puccinis zwölf Opern fünf oder sechs fest im Repertoire verankert. Das weckte zumal im deutschsprachigen Raum, wo Musik aus anderen Ländern lange unter dem Verdacht der Oberflächlichkeit stand, zunächst Misstrauen. Für die vielen Abwertungen kann Adornos Bosheit stehen, bei »Turandot« handele es sich – im Gegensatz zu Richard Wagners »Bühnenweihfestspiel« »Parsifal« – um eine »Bühnenweihfestoperette«. Und Gustav Mahler bezeichnete Puccinis »Tosca« als »Meistermachwerk«.

Dies freilich ist schon so widersprüchlich zu verstehen, wie Mahler es kombiniert hat. Unübersehbar klingt da ein Abscheu an davor, dass Lüge, Verrat, Folter und Mord ohne jede Milderung auf die Bühne kommen und dass aus all dem ein Maximum an Effekt gewonnen wird. Aber das Wie ist, wie der erfahrene Operndirigent Mahler zugestehen musste, eben doch meisterlich. Puccini weiß, wie er emotionale Wirkung erzielt. Der Streit kann nur sein, ob dem Wie ein Was, dem Gefühl ein Inhalt entspricht.

Vom Text zur Oper

Puccini war fast ausschließlich Opernkomponist. Neben dem zum Studienabschluss entstandenen »Capriccio sinfonico« gibt es ein paar geistliche Werke, wenig Kammermusik, wenige Lieder – dies alles fast ausnahmslos sehr frühe Werke. Puccini komponierte beinahe immer für Gesang und meist für die Bühne. Die Qualität seiner Musik besteht nicht darin, autonome Formen und komplexe Abläufe auszubilden. Es geht vielmehr um das Seelische der Figuren und um szenische Abläufe.

Spätestens seit dem Misserfolg seiner zweiten Oper »Edgar« 1889 war Puccini klar, dass ein gutes Libretto Voraussetzung für seine musikalische Dramaturgie war. Er gehörte nicht zu jenen Musiker-Dichtern, die wie Richard Wagner oder Franz Schreker ihre Texte selbst schrieben. Oft wusste er weniger, was genau er wollte, als was er nicht wollte – nämlich das, was seine Librettisten ihm gerade geschickt hatten.

Dabei ging es nicht um literarische Qualität; mehrere Anläufe einer Zusammenarbeit mit dem berühmten Dichter Gabriele D’Annunzio scheiterten. Ziel war ein Libretto, das eine punktgenaue musikalisch-emotionale Wirkung ermöglichte. Dabei ergab sich ein gewisser Verbrauch an Librettisten, die nach kurzer oder etwas längerer Zeit aus Projekten ausschieden. Aber sogar mit dem Gespann Giuseppe Giacosa und Luigi Illica, das mit Texten für »La bohème«, »Tosca« und »Madama Butterfly« die Vorlagen zu Puccinis erfolgreichsten Opern erarbeitete, gab es immer wieder Reibereien. Bis ein Akt stand, wanderten etliche Entwürfe in den Papierkorb. Sogar ein Ergebnis, das Puccini endlich akzeptiert hatte, stand nicht fest, wenn er plötzlich fand, dass die ganze Oper ohne diesen Akt besser sei. Und dann begannen erst die einzelnen Korrekturen. Puccini zögerte nicht, Ergebnisse zu verwerfen oder ein paar zusätzliche Zeilen einzufordern, wenn er an einer bestimmten Stelle einen Ruhepunkt benötigte.

Dass der Verleger Giulio Riccordi, der ein Jahrzehnt lang Vorschüsse in den stets langsam komponierenden Puccini investiert hatte und nun Erfolge sehen wollte, sich einmischte, machte die Sache nicht einfacher. Meist aber musste Riccordi die Librettisten besänftigen, die als Profis auf ihrem Gebiet anerkannt waren und einen derart aufs Detail versessenen Komponisten nicht gewohnt waren. »Ich gestehe Ihnen, dass ich dieses unaufhörliche Ändern, Hinzufügen, Wiederaufnehmen, Korrigieren, Schneiden, Zusammenstückeln, Rechts-Aufblasen, Links-Wegnehmen satt habe,« schrieb Giacosa an Riccordi 1895 während der Arbeit an »La bohème«, nachdem er schon zwei Mal die Arbeit hatte hinwerfen wollen. Bereits im Vorjahr hatte Riccordi Puccini gewarnt: Illica »ist beinahe entschlossen, nichts mehr mit La bohème zu tun haben zu wollen. Er beschwert sich, dass er viel Arbeit und Zeit fruchtlos vertan habe, fühlt sich ausgenutzt, abgeschoben, wieder angenommen und wieder fortgejagt wie ein Hund«.

Puccinis Ziel war ein operntauglicher Text. Das erforderte Änderungen auch dann, wenn ein im Theater erfolgreiches Stück wie Victorien Sardous »La Tosca« zur Oper werden sollte. Dabei ging es nicht nur um Kürzungen (zu singen dauert länger als zu sprechen) und nicht nur darum, Personen und Nebenhandlungen wegzulassen. Auch Vorgeschichten fallen weg: Im Sprechtheater kann berichtet werden, fürs Musiktheater ist Motivation durch emotionale Gegenwärtigkeit wirkungsvoller. Was dann noch bleibt, wird als sprachliche Vorlage für den musikalischen Gestus eingerichtet. Während es sich in Deutschland seit Richard Strauss’ »Salome« nach Oscar Wilde (1905) durchsetzte, Dramentexte zu vertonen, beharrte Puccini bis zuletzt auf einer Umwandlung zum Libretto.

»Tosca«

Also das »Meistermachwerk«, die »Folterkammermusik«, wie sich der einflussreiche Wiener Kritiker Julius Korngold entsetzte. Nun gab es auch in dem Jahrhundert, an dessen Beginn »Tosca« stand, Folterkammern übergenug. Es könnte also eine Qualität der Oper sein, dies vorweggenommen zu haben. Es lohnt ein genauerer Blick.

Rom, im Jahr 1800. Cesare Angelotti, Gegner der klerikalen Regierung, ist geflohen. Am Ende des ersten Akts weiß der Polizeichef Scarpia immerhin, dass der Maler Mario Cavaradossi etwas über seinen Freund Angelotti weiß und dass Cavaradossis Geliebte, die Sängerin Floria Tosca, damit zusammenhängt. Das Ende dieses Akts ist eines der effektvollsten der ganzen Operngeschichte: Chor und Orchester führen ein Te Deum auf; das Gotteslob gilt der Falschnachricht von einem Sieg über den Befreier Napoleon. Zugleich freut sich Scarpia auf »doppelte Beute«: nämlich will er nicht nur Angelotti ins Gefängnis, sondern auch Tosca ins Bett bekommen.

Seine Versuche, diese beiden Ziele zu erreichen, stehen im Zentrum des zweiten Akts. In einem Nebenzimmer lässt er Cavaradossi foltern, damit dieser Angelottis Aufenthalt verrät. In seinem Büro erpresst er Tosca: Sie muss reden, wenn die Qualen ihres Geliebten enden sollen. Er hält sein Wort: Nachdem Tosca das Versteck Angelottis genannt hat, hört die Folter auf. Sogleich aber sieht sich Tosca einer noch größeren Schwierigkeit gegenüber: Cavaradossi soll als Staatsfeind exekutiert werden. Wenn aber – so verspricht Scarpia – Tosca mit ihm schläft, so stellt er Passierscheine aus, und Cavaradossi kann nach einer Scheinhinrichtung mit ihr ins Ausland fliehen.

Gemessen an den Gattungsregeln der Oper um 1900 ist all dies skandalös. Cavaradossi als die einzige Figur in diesem Akt, die Ideale vertritt, ist zum Opferdasein reduziert. Einen kurzen Moment des Triumphs hat er zwar, als die Nachricht eintrifft, dass Napoleon die Schlacht doch gewonnen hat. Danach aber wird wieder über sein Schicksal verhandelt. Scarpia ist der Schurke schlechthin, der voller Genuss Tosca ausmalt, wie gerade ihr Widerwille seine Lust steigern wird. Alles zielt darauf, sich mit der Hilflosen zu identifizieren, und das heißt auch: mit ihrer Wendung zum Mord. Als Scarpia die Passierscheine unterzeichnet hat, fällt Toscas Blick auf ein Messer. In dem Moment, in dem Scarpia glaubt, seine Beute erlangt zu haben, stößt sie das Messer in seine Brust. Langsam verröchelt er. Und als wäre dies noch nicht genug an Effekt, wird Tosca fromm. »Erstickst du im Blute?« hat sie eben noch gerufen. Nun aber ordnet sie in einer längeren Pantomime ihr Haar, stellt dann Kerzen rechts und links des Toten auf und legt ein Kruzifix auf seine Brust – eine Szene zwischen Pietät und Blasphemie.

Wie ist das komponiert? In einer dichten Folge von Steigerungen, wobei trotz massivem Orchestereinsatz stets der Vorrang der Singstimme gewahrt ist; und mit einem unfehlbaren Gefühl fürs Timing. Inmitten der Konflikte gibt es als Ruhepunkt eine Arie Toscas, in der die künftige Mörderin von Schönheit, Kunst und Liebe singt, die ihr Leben bislang bestimmt haben. Dies einem Scarpia zu erklären, ist offenkundig sinnlos. Als notwendiger Ruhepunkt, bevor einem großen Clash ein größerer folgt, steht die Arie genau an der richtigen Stelle.

Übrigens nützt alles Hoffen nichts. Scarpia hat seinem Untergebenen signalisiert, dass der Befehl zu einer Scheinhinrichtung nur Schein ist. Im Schlussakt beruhigt Tosca den Freund, dass nichts ihm passieren werde, und mahnt ihn, sich überzeugend fallen zu lassen. Sie freut sich, wie gut dies ihm – der doch nie auf einer Bühne stand – gelingt, und stellt entsetzt fest, dass Cavaradossi wirklich tot ist. Scarpias Leiche wird entdeckt, und ohne Ausweg stürzt sie sich selbst in den Tod.

Hier wie sonst hat das Sterben bei Puccini nichts mit Verklärung oder auch nur mit irgend etwas wie Sinngebung zu tun. Mit der weitgehend durchkomponierten Form und zuweilen in der Instrumentierung hat Puccini vieles von Wagner übernommen. Was den Inhalt angeht, sind seine Opern von den deutschen Musikdramen völlig unabhängig.

»Madama Butterfly«

Puccini wiederholte niemals ein bewährtes Rezept. Vor »Tosca« hatte er mit »La bohème« Erfolg gehabt: ein episodischer Roman von Henri Murger, verdichtet zu einer ebenfalls episodischen vieraktigen Oper, mit wirksamen Kontrasten zwischen Heiterem und Ernstem. »Tosca« war dramaturgisch äußerst konzentriert, mit einer Handlungszeit von weniger als 24 Stunden, kaum Ruhepunkten und mit Figuren, die stets agieren müssen und deren Charakter sich in der Aktion erweist.

»Madama Butterfly«, die folgende Oper, ist wiederum ganz anders. Auch hier ist ein erfolgreiches Theaterstück der Ausgangspunkt, David Belascos gleichnamiges Werk. Und auch hier steht eine Frau im Mittelpunkt. Anders aber als die selbstbewusste Sängerin Tosca, die im ersten Akt ihren Cavaradossi mit Eifersuchtsattacken plagt, wirkt die Japanerin Cio-Cio-San ganz dem Mann hingegeben. Das erscheint wie ein exotistisches Klischee. In ihrer Fixierung auf den US-amerikanischen Marineleutnant Pinkerton entwickelt sie jedoch eine Kraft, die das gesellschaftlich Normale erschüttert.

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Giacomo Puccini (1858–1924)

Quelle dieser Kraft ist eine Lageverkennung. Der erste Akt bringt die Heirat Pinkertons mit Cio-Cio-San, wobei allen Beteiligten außer der Braut klar ist, dass es sich um nichts anderes als um notdürftig bemäntelte Prostitution handelt. Pinkerton freut sich über das unterlegene Land, in dem Verträge so flexibel sind, wie es ihm nützt. Er freut sich auf die 15jährige, die er bald in seinem Bett haben wird, und auf den ferneren Tag, an dem er eine »echte amerikanische Braut« heiraten wird. Der US-Konsul Sharpless, dessen Name Programm ist, weist ihn auf die Gefahren solcher Leichtfertigkeit hin, ohne jedoch seine Erkenntnis durchzusetzen.

Die Befürchtungen des Konsuls werden Wirklichkeit. Pinkerton verlässt Japan. Drei Jahre lang wartet Cio-Cio-San unbeirrbar auf ihn, weist einen reichen Heiratskandidaten ab, will von Sharpless die Wahrheit nicht hören. Sie ist überzeugt, dass das Kind, das sie unterdessen zur Welt gebracht hat, Pinkterton an sie binden wird, wenn er nur erst zurückkehrt. Kurz vor ihrem wirtschaftlichen Ruin trifft endlich sein Schiff ein. Cio-Cio-San jubelt, aber muss nicht nur erkennen, dass der Geliebte die echte amerikanische Braut gefunden und geheiratet hat. Schlimmer noch: Diese Kate ist bereit, Cio-Cio-Sans Kind zu sich zu nehmen und ihm eine sichere amerikanische Zukunft zu geben. Von ihrem Mann verlassen und ihres Sohns beraubt, begeht Cio-Cio-San Suizid.

Anders als in »Tosca« lässt sich Puccini hier Zeit. Um die Intensität des Gefühls zu steigern, malt er Szenen breit aus, und die Charaktere können sich entfalten – wenn auch kaum entwickeln. Die Gefühlsregie funktioniert nun auf andere Weise. Sieht man »Tosca« zum ersten Mal, hat man zwar einen Verdacht, dass Scarpia betrügt, und die beklemmende Musik vor Cavaradossis Erschießung bereitet darauf vor, dass etwas Schlimmes geschehen wird. Gewissheit hat man aber erst wenige Takte vor Werkschluss. In »Madama Butterfly« hingegen besteht niemals ein Zweifel, dass Cio-Cio-San in ihr Verderben geht.

Und doch hat Puccini ihr und Pinkerton ein ausführliches Liebesduett zugebilligt. Mag sein, dass sie für diesen Moment, wie Pinkerton einmal singt, eine exotische Blume ist, deren Duft ihm den Kopf verdreht. Doch weiß man, dass Leidenschaft und Liebesversicherungen von seiner Seite täuschen. Ergebnis beim idealen Hörer ist eine Doppelung des Gefühls: Er genießt die Schönheit der Melodien und die durchaus erotische Emphase, und zugleich weiß er, dass all dies nicht stimmt. Sein Standpunkt ist gleichzeitig ein Drinnen und Draußen, Identifikation und Überlegenheit.

Dabei hat Puccini Irritationen eingefügt. Wenn Cio-Cio-San plötzlich einhält und Pinkerton fragt, ob man in Amerika wirklich tote Schmetterlinge mit einer Nadel aufspieße, und der Leutnant seiner Butterfly entgegnet, schließlich solle sie ihm nicht entfliehen, lenkt er den Blick auf das Gewaltsame der Beziehung. Überhaupt arbeitet Puccini als Meister der musikalischen Illusionsbildung auch mit Brüchen. Arien in der durchkomponierten Handlung werden mehrfach durch Dazwischensingen unterbrochen oder durch Ernüchterung ausgebremst. »America forever« verkündet etwa Pinkerton, und Sharpless will, im Konversationston, nachschenken: »Whiskey?« Noch die berühmteste der Puccini-Arien, das »Nessun dorma« in »Turandot«, wird auf solche Weise kontrapunktiert. Während Calaf seine Siegesgewissheit heraussingt, unterbricht der Chor: Solange Turandot Calafs Namen nicht herausfindet, bedroht Folter die Stadt. Und die Leidenschaft Calafs geht unmittelbar über in die auch musikalisch skizzierte Geschäftigkeit der drei Staatsbediensteten Ping, Pang und Pong, die Calaf zum Verlassen der Stadt überreden wollen.

Für »Madama Butterfly« hat Puccini japanische Melodien gesammelt und in der Oper verwendet. Pinkerton und Sharpless sind mit »The Star-Spangled Banner« verknüpft, was heute als US-Nationalhymne gehört wird, zur Entstehungszeit der Oper allerdings das Lied der US-Flotte war. Cio-Cio-San wechselt, zumal im Liebesduett, zur europäischen Melodik. Als sie erkennt, dass sie betrogen wurde, wird auch ihre Musik japanisch. Eingangs wurde berichtet, wie ihr Vater sich auf höheren Befehl umbrachte, was erst zur Armut der Familie und zur Ehe mit Pinkerton führte. Das musikalische Motiv dieser Stelle kehrt bei ihrem Suizid wieder.

Auch klanglich hat sie so die Trennung von Pinkerton vollzogen. Von Antikolonialismus kann trotzdem keine Rede sein, und dies nicht nur, weil alle US-Vertreter betroffen vor den Folgen ihres Tuns stehen. Und auch nicht, weil japanische Profiteure wie der Heiratsvermittler Goro auftreten und sowieso alle außer Cio-Cio-San von Anfang an wissen, was gespielt wird. Puccini hat das Japanische derart geschickt in seine Musik eingeschmolzen, dass es als Reiz funktioniert, nicht aber als Widerständiges. Er hatte seinen Stil und konnte den bruchlos durch Neues fortentwickeln. Auch darin besteht sein Genie; doch bedeutet die Bruchlosigkeit zugleich Entschärfung.

Erneuerungen

Puccini hat sich die Entscheidung für einen Opernstoff nie leicht gemacht. Nachdem er »Madama Butterfly« beendet hatte, dauerte es fast drei Jahre, bis der neue Plan feststand. Bis dahin waren zahlreiche Ideen erwogen und wieder verworfen worden; für manche war schon ein Teil des Librettos fertig. Nun ist es reizvoll, sich eine historische Puccini-Oper über die Hinrichtung Marie Antoinettes in der Französischen Revolution vorzustellen. »La fanciulla del West«, wiederum nach einem Stück von Belasco, führt in ein kalifornisches Goldgräberlager. Wenn manche Orchesterpassagen an Westernmusik erinnern, liegt das zum einen daran, dass Puccini wiederum Volksmusik in sein Werk einbezogen hat. Zum anderen deutet es auf die Prägekraft der »Fanciulla« hin: Die Filmkomponisten dürften von ihm beeinflusst worden sein. Die rhythmischen Akzente sind in der Oper schärfer gesetzt als zuvor. Dabei zeigt sich erneut Puccinis Fähigkeit, fremde Stile aufzunehmen und in den seinen einzuschmelzen.

Danach entstand das »Trittico«. Die Idee, drei in Handlungszeit, Stimmung und Dramaturgie völlig unterschiedliche Dreiakter zu einer Art Welttheater zu verbinden, war kühn und ist der Alptraum jedes Intendanten. Schließlich braucht man drei Besetzungen und drei Regiekonzepte. Tatsächlich erlebt man die drei Stücke selten zusammen. Zuerst traf es »Suor Angelica« – nicht nur wegen der zahlreichen Frauenrollen, sondern weil die anfangs berührende Geschichte einer im 17. Jahrhundert wegen Unmoral ins Nonnenkloster verbannten unverheirateten Mutter in Erlösungskitsch endet. Vielleicht zu Unrecht vernachlässigt ist »Il tabarro«, eine Ehebruchsgeschichte im Elend französischer Flussschiffer mit Mord und krassem Schlusseffekt.

Überlebt hat die abschließende Komödie. Ihr Titelheld, Gianni Schicchi, ist im Florenz des Jahres 1299 der verachtete Verwandte, der scheinbar die Familie rettet. Deren Problem: Der reiche Buoso Donati ist gestorben und hat sein Vermögen den Mönchen vererbt. Noch aber weiß niemand von Tod und Erbverfügung. Gianni Schicchi weiß Rat: Er schlüpft ins Bett, ahmt die Stimme Buosos nach und diktiert dem Notar ein neues Testament. Alle Mitwisser bedenkt er soweit, dass sie ein Interesse daran haben zu schweigen. Das Beste aber vererbt er sich selbst.

Puccini ist hier thematisch ganz bei sich selbst: Der Tod ist eine Tatsache, und nichts Erhabenes. Das Satirische, das in der Hochzeitsepisode der »Madama Butterfly« nur anklang, rückt hier ins Zentrum. Die Orchestrierung ist geschärft, die Bläser rücken in den Vordergrund; eine Liebeshandlung mit ausgreifenden Melodien bleibt Episode. Die Methode, Bewegung mittels einer Montage kurzer rhythmisch geprägter Motive zu vermitteln, ist bei Puccini nicht neu. Neu aber ist, dass sie in greller Zuspitzung vorherrscht.

Dem einzigen Auftragswerk, der Operette »La rondine«, folgte noch »Turandot«. Die Geschichte von der chinesischen Prinzessin, die kaum zählbare Bewerber anlockt und diese mit schwierigen Rätseln in den Tod schickt, und dem Prinzen Calaf, der sie schließlich überwindet, verdiente eine eigene Darlegung. Hier muss eine kurze Skizze genügen. Ihr Widerspiel von Hass und Attraktion, seine unbedingte Liebe sind ein komplizierterer Gegensatz als alle, die Puccini zuvor gestaltet hatte. Das musikalische Dekor ist nun fast durchgängig exotisch, die Harmonik, besonders in den ausgedehnten Chorpartien, kühner denn je. Die Bosheit Scarpias wirkt privat und läppisch verglichen mit dem Terrorsystem, über das Turandot gebietet. In jeder Hinsicht ist der Boden für eine Tragödie bereitet.

Und doch soll sich ausgerechnet diese Frau der stürmischen Liebe Calafs geschlagen geben. Puccini ist über dem Problem gestorben, diesen Wandel musikalisch überzeugend zu gestalten. Nach seinem Tod hat Franco Alfano den Schluss auf Grundlage von Skizzen Puccinis ausgeführt, und zumindest diese Version wirkt dem Geschehen äußerlich angeklatscht. Das überzeugendere Ende findet sich da, wo Puccini unfreiwillig aufhören musste: Liù, die Calaf ohne Hoffnung liebte, hat sich getötet, um den Mann nicht unter der Folter Turandots Häschern auszuliefern. Ihrem Tod folgt ein Trauermarsch von abgründiger Traurigkeit, der keinerlei Sinn stiftet.

Inhalte und Qualitäten

Als Kind erlebte der 1854 geborene Komponist, wie die Einigung Italiens zum Abschluss kam. Die folgenden Jahrzehnte brachten eine zögerliche Industrialisierung, heftige soziale Kämpfe, den Ersten Weltkrieg, Ansätze einer Revolution und schließlich den Aufstieg des Faschismus. Mit all dem hat sich Puccini nur am Rande befasst. Im Mittelpunkt seines Lebens stand das Werk. Daneben blieb Raum für Liebschaften, Gänsejagd und Automobile. Seine Lektüre war darauf gerichtet, geeignete Opernstoffe zu finden. Das Interesse für Politik war gering. Zugespitzt kann man von der Gnade eines frühen Tods sprechen. Nichts deutet darauf hin, dass Puccini Faschist geworden wäre. Doch hätte er sich als weltbekannter, unpolitischer Künstler wahrscheinlich nicht dagegen gewehrt, dem Regime als Aushängeschild zu dienen.

Versuche, die Opern gesellschaftskritisch umzudeuten, dürften fehlgehen. In seiner Studienzeit und während seiner Anfänge als Komponist hat Puccini selbst Armut erlebt. Die Künstler in »La bohème« nehmen allerdings ihre Armut nicht allzu schwer und verfeuern, wenn es an Heizmaterial fehlt, leichten Herzens ihre Werke. All dies dient nur dem emotionalen Kontrast zur ernsten Liebesgeschichte. Dass »Madama Butterfly« zur Kolonialismuskritik nicht taugt, wurde schon gezeigt. Und »Turandot« ist sicher nicht als Anklage einer Diktatur aufzufassen. Als Reaktion auf das Zeitgeschehen mag allenfalls die Gestaltung der Volksmenge durchgehen. Mal giert die Masse nach neuen Hinrichtungen, mal zerfließt sie sentimental in Mitleid. Zumindest dieses Volk ist dumm und zudem kein Akteur aus eigenem Recht.

Dass der Chor so prominent auftritt, ist bei Puccini ein Sonderfall. Nicht nur vordergründig sind seine Opern von Politik weit entfernt. Um ihre Qualität zu würdigen, muss man schauen, was ihr Besonderes ausmacht. Neben unzähligen einzelnen Schönheiten ist dies zum einen, wie gut fast alle konstruiert sind. Drei oder vier sind beinahe perfekt, und das auf je neue Art: Dies ist in der Kunst sehr selten.

Zum anderen ist der Standpunkt des Drinnen-Draußen zu nennen, der oben dem idealen Hörer zugeschrieben wurde; im Wissen, dass dieser dem realen Publikum nicht entspricht. Man empfindet mit und durchschaut zugleich die Täuschung. Dies ist etwas anderes als Brechts ideologiekritischer V-Effekt, als Verfremdung, die Ideologien zwecks ihrer Überwindung enttarnt. Vielmehr leisten Puccinis Opern eine Reflexion des Fühlens. Es ist sehr zu zweifeln, ob daraus bessere Menschen hervorgehen (der mitleidige Chor in »Turandot« geifert ein paar Szenen später doch wieder). Aber vielleicht sind das Ergebnis ein paar Leute, die sich und die Welt ein wenig besser kennen.

Kai Köhler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 13. September 2024 über Arnold Schönberg.

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  • Leserbrief von Jürgen Wächter aus Bremen (2. Dezember 2024 um 15:21 Uhr)
    Schweine werden auch zu Gelatine zermalmt. Kinder und Erwachsene dürfen Schweine essen in Gummi-»Bärchen«, Weingummi, Lakritz, Marshmellows, »Schokoküssen« etc.; Kinder und Erwachsene dürfen Schweine trinken, z. B. in Apfelsaft (Gelatine zur Fällung von Trübstoffen) etc.

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