Verfassungsschutz verzockt sich
Von Dieter Reinisch, WienVor dem Stephansdom in Wien wollten am 11. Oktober 2023 propalästinensische Aktivisten ihre Solidarität mit den Menschen in Gaza zum Ausdruck bringen. Es hätte die erste Großkundgebung seit dem Angriff vom 7. Oktober werden sollen. Doch sie wurde kurzfristig untersagt. Für viele war die Absage zwei Stunden vor Versammlungsbeginn zu kurzfristig: Etwa eintausend Personen waren gekommen.
Die Organisatoren sahen das Verbot als rechtswidrig an. Sie legten Berufung ein, und am Montag wurde über ein Jahr später die Beschwerde endlich vor Gericht verhandelt. Über den Sommer hatten Gerichte bereits mehrere andere Demonstrationsverbote als nicht rechtens erklärt. Doch der 11. Oktober 2023 hat eine größere Bedeutung. Auf das Verbot der ersten größeren Versammlung nach dem Angriff vom 7. Oktober folgten in den darauffolgenden Wochen mehrere weitere, und die Repression gegen propalästinensische Aktivisten setzte mit voller Härte ein.
Begründung für das Kundgebungsverbot war für die Behörden und die Polizei der Ausspruch »From the river to the sea, Palestine will be free«, der sich im Aufruf zu der Kundgebung am 11. Oktober fand. Darum ging es auch am Montag, am letzten Tag der Beweisaufnahme vor dem Verwaltungsgericht im 19. Wiener Gemeindebezirk.
Zur Überraschung des Richters tauchten auch zwei Behördenvertreter auf. Einer der beiden war der zuständige Beamte, der die Untersagung veranlasst hatte: »Das kommt nicht oft vor, dass die Behörde zu so etwas erscheint«, war der Richter sichtlich verwundert. Aber der Behörde geht es hier um viel – nämlich um viel Geld.
Fast 400 Personen wurden an jenem Abend kurzfristig festgenommen und erhielten eine Geldstrafe über mehrere hundert Euro auf Grund der Teilnahme an einer verbotenen Kundgebung aufgebrummt. Entscheidet der Richter, dass die Untersagung rechtswidrig war, müssen die bereits gezahlten Geldstrafen zurückerstattet werden.
Damit dieser Fall nicht eintritt, wartete die Behörde mit schweren Geschützen auf. Nach über einem Jahr legte sie eine Stellungnahme vor, die vom 16. Oktober 2023 stammen soll. Auf diese wird in den Bescheiden der Behörde zwar Bezug genommen, bis Montag hatte diese Stellungnahme aber noch nie jemand gesehen.
Und beim Durchlesen des Schriftstücks war die Verwunderung beim Anwalt der Palästina-Solidaritätsgruppe, Farah Abu-Jurji, groß: Denn hier argumentiert der österreichische Verfassungsschutz, der Slogan »From the river« sei der Hamas zuzurechnen, da ja auch die frühere britische Innenministerin Suella Braverman dies behauptet habe. »Wieso gerade sie herangezogen wird, verstehe ich nicht«, war Abu-Jurji überrascht.
Ähnlich der Richter: »Als Richter der Republik Österreich ist das für mich gar kein Thema, was die britische Innenministerin denkt.« Nach der Aussage der Protestanmelderin Daniela Vill war die Beweisaufnahme am Montag beendet. Beide Seiten verzichteten auf mündliche Schlussausführungen und werden diese binnen sieben Tagen schriftlich dem Gericht zukommen lassen.
Für den Juristen Marko Bilakovic, der dem Prozess beiwohnte, ist der Ausgang vorhersehbar: »Die rechtliche Lage ist klar. Mehrere Gerichte haben bereits geurteilt, dass ›From the river to the sea‹ kein rechtswidriger Spruch ist.« Die Polizei würde aber nicht im rechtlichen Rahmen agieren, sondern sei politisch motiviert durch Vorgaben aus dem Innenministerium, betonte er im jW-Gespräch.
Im November werden die Urteile in diesem Fall und zu zwei weiteren Demonstrationsverboten vom Richter den betroffenen Parteien zugestellt.
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